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Mannes und besonders von der Hetze bei
seinem Hinscheiden. AIs das Testament
gemacht werden sollte — natürlich erst als
Großvater schon halb hinüber war; ein
törichter Aberglaube hatte ihn solange zö
gern lassen, denn er wollte noch nicht ster-
ven — da hatte der Amtsrichter gefragt,
ob sie nicht ein Stammbuch hätten, damit
er die Namen und Daten richtig angeben
könne. Es war kein Buch dagewesen. Nun
hatte Großmütterchen die Daten aus dein
Kopf hergesagt und natürlich einige in der
Aufregung und Not verwechselt^hanptsäch-
lich aber — Wohl aus falscher Scham auch
— die voreheliche Geburt der ältesten Toch
ter verschwiegen und so ihr treuestes und
bestes Kind, samt den Lieblingsenkeln um
ihr kleines Erbteil gebracht. AIs Groß
väter eingeschlafen war, ging sein ältester
Sohn Johannes den stundenweiten Weg
zum Standesamt, den Todesfall anzuzei
gen. Aber er mußte unverrichteter Sache
wieder abziehen. Seine Angaben waren so
unbestimmt, daß der Beamte Urkunden als
Unterlagen fordern mußte. „Haben Sie
denn kein Stammbuch, wo die Elternna-
inen und sonstige Daten für den Gestorbe
nen drinstehen"? Nun war, guter Rat
teuer. Bis zum Abend des zweiten Tages
mußte, wenn Strafe vermieden werden
sollte, der Todesfall angezeigt sein. Johan
nes mußte, übermüdet wie er war, in das
Schleswigsche fahren, um aus der Heimat
des Vaters die Daten zu holen. Tort er
fuhr er vom Pastor, daß man vor einigen
Jahren einer Erbschaft halber nach Glie
dern der Familie gesucht habe. Ein bei Jd-
stedt vermißter Bruder Großvaters sei für
verschollen erklärt und die etwa 6000 Jt
betragende Erbschaft vor einigen Jahren
ausgeboten, nun aber längst verfallen und
vom Staat eingezogen. Es war zu ärger
lich, daß man sich nie um die Familienbe
ziehung gekümmert hatte; wie wäre das
Geld Großvater beini Umbau des Hauses
zu Paß gekommen. „Ja, batten Sie denn
kein Stammbuch? Ich will Ihnen eines
ansstellen. Dieses hier kostet 36 F, die
Eintragungen sind kostenfrei, Sie müssen
cs nachher in Ihrer Heimat vervollstän
digen lassen." Als Johann nachher im Zug
saß und im Stammbuch blätterte, da sah
er mit Erstaunen, daß da vorne im Buch
alle Bestimmungen angegeben waren, die
für die Anmeldung von Geburten, Ehe
schließungen, Todesfällen nötig sind. Ties
Buch konnte er, wenn die Geburt eines
Kindes eingetragen war, ja nur bei der
Taufe vorlegen, so wußte der Pastor gleich,
um wen es sich handelte. War das Tauf-
datum eingetragen und durch beigedrückten
Stempel beglaubigt, so entnahm man dem
Buch wieder die genauen Daten beim
Impfen des Kindes, beim Eintritt in die
Schule, beim Wiederimpfen, vielleicht gar
bei der Konfirmation. Wenn er nun auch
Mutters Voreltern und Lebensdaten ein
tragen lassen wollte, schickte er das Buch
nur in die alte Heimat unter Anlegung
von Rückporto. Dann hatte er bei Groß-
mutters Tod alles in Ordnung. Welche
Freude wohl Großvater gehabt hätte zu
wissen, daß sein Vater zwar Arbeiter, aber
sein Großvater Hufner und Bauervogt
gewesen sei. Wodurch der wohl so arm
geworden sei. Ob der gespielt, getrunken,
gefaulenzt hatte. Und Johann laß und
sann über den Zusammenhang der Ge
schlechter nach und dachte, daß so auch ein
mal ein Urenkel nach seinem Tun und Las
sen fragen werde und plötzlich kam ihm
die Schwere der Verantwortlichkeit zum
Bewußtsein, die jeder zu tragen hat, der in
die Kette der Generationen eintritt. Er
begriff plötzlich wie wahr das Wort sei:
Wohl dem der seiner Väter gern gedenkt
und beschloß, in der ihm möglichen schlich
ten Weise aufzuschreiben, was er von Va
ter und Mutter und den Vorfahren wußte,
auch nachzuforschen, ob er nicht noch mehr
finden könne. Das Bild vom alten Haus
wollte er auch aufbewahren, das der Lehrer
ihm mit Farben gemalt hatte. So ist Jo
hannes dazu gekommen, sich nicht nur ein
Stammbuch anzulegen, sondern auch einen
Stammbaum, und eine Familienchronik
und er ist erstaunt, mit wie vielen Leuten
er verwandt ist, bald nach unten, bald nach
oben. Er hat einsehen gelernt, daß die
Stände längst nickt so streng geschieden
sind, wie man meint und daß das alte
Lied recht hat: „Die Welt ist rund und
muß sich drebn: was unten ist muß oben
stehn". Er hat fick auch nach den Vor-
wesern auf seiner kleinen Stelle gefragt
und geforscht, hat manches gefunden und
anfaescküeben. Woher wohl die Namen
seiner Felder kommen? Einige sind merk
würdig, garnicht wie deutsch. So hat Jo
hann denken gelernt, sich umschauen und