Full text: (1913)

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Mannes und besonders von der Hetze bei 
seinem Hinscheiden. AIs das Testament 
gemacht werden sollte — natürlich erst als 
Großvater schon halb hinüber war; ein 
törichter Aberglaube hatte ihn solange zö 
gern lassen, denn er wollte noch nicht ster- 
ven — da hatte der Amtsrichter gefragt, 
ob sie nicht ein Stammbuch hätten, damit 
er die Namen und Daten richtig angeben 
könne. Es war kein Buch dagewesen. Nun 
hatte Großmütterchen die Daten aus dein 
Kopf hergesagt und natürlich einige in der 
Aufregung und Not verwechselt^hanptsäch- 
lich aber — Wohl aus falscher Scham auch 
— die voreheliche Geburt der ältesten Toch 
ter verschwiegen und so ihr treuestes und 
bestes Kind, samt den Lieblingsenkeln um 
ihr kleines Erbteil gebracht. AIs Groß 
väter eingeschlafen war, ging sein ältester 
Sohn Johannes den stundenweiten Weg 
zum Standesamt, den Todesfall anzuzei 
gen. Aber er mußte unverrichteter Sache 
wieder abziehen. Seine Angaben waren so 
unbestimmt, daß der Beamte Urkunden als 
Unterlagen fordern mußte. „Haben Sie 
denn kein Stammbuch, wo die Elternna- 
inen und sonstige Daten für den Gestorbe 
nen drinstehen"? Nun war, guter Rat 
teuer. Bis zum Abend des zweiten Tages 
mußte, wenn Strafe vermieden werden 
sollte, der Todesfall angezeigt sein. Johan 
nes mußte, übermüdet wie er war, in das 
Schleswigsche fahren, um aus der Heimat 
des Vaters die Daten zu holen. Tort er 
fuhr er vom Pastor, daß man vor einigen 
Jahren einer Erbschaft halber nach Glie 
dern der Familie gesucht habe. Ein bei Jd- 
stedt vermißter Bruder Großvaters sei für 
verschollen erklärt und die etwa 6000 Jt 
betragende Erbschaft vor einigen Jahren 
ausgeboten, nun aber längst verfallen und 
vom Staat eingezogen. Es war zu ärger 
lich, daß man sich nie um die Familienbe 
ziehung gekümmert hatte; wie wäre das 
Geld Großvater beini Umbau des Hauses 
zu Paß gekommen. „Ja, batten Sie denn 
kein Stammbuch? Ich will Ihnen eines 
ansstellen. Dieses hier kostet 36 F, die 
Eintragungen sind kostenfrei, Sie müssen 
cs nachher in Ihrer Heimat vervollstän 
digen lassen." Als Johann nachher im Zug 
saß und im Stammbuch blätterte, da sah 
er mit Erstaunen, daß da vorne im Buch 
alle Bestimmungen angegeben waren, die 
für die Anmeldung von Geburten, Ehe 
schließungen, Todesfällen nötig sind. Ties 
Buch konnte er, wenn die Geburt eines 
Kindes eingetragen war, ja nur bei der 
Taufe vorlegen, so wußte der Pastor gleich, 
um wen es sich handelte. War das Tauf- 
datum eingetragen und durch beigedrückten 
Stempel beglaubigt, so entnahm man dem 
Buch wieder die genauen Daten beim 
Impfen des Kindes, beim Eintritt in die 
Schule, beim Wiederimpfen, vielleicht gar 
bei der Konfirmation. Wenn er nun auch 
Mutters Voreltern und Lebensdaten ein 
tragen lassen wollte, schickte er das Buch 
nur in die alte Heimat unter Anlegung 
von Rückporto. Dann hatte er bei Groß- 
mutters Tod alles in Ordnung. Welche 
Freude wohl Großvater gehabt hätte zu 
wissen, daß sein Vater zwar Arbeiter, aber 
sein Großvater Hufner und Bauervogt 
gewesen sei. Wodurch der wohl so arm 
geworden sei. Ob der gespielt, getrunken, 
gefaulenzt hatte. Und Johann laß und 
sann über den Zusammenhang der Ge 
schlechter nach und dachte, daß so auch ein 
mal ein Urenkel nach seinem Tun und Las 
sen fragen werde und plötzlich kam ihm 
die Schwere der Verantwortlichkeit zum 
Bewußtsein, die jeder zu tragen hat, der in 
die Kette der Generationen eintritt. Er 
begriff plötzlich wie wahr das Wort sei: 
Wohl dem der seiner Väter gern gedenkt 
und beschloß, in der ihm möglichen schlich 
ten Weise aufzuschreiben, was er von Va 
ter und Mutter und den Vorfahren wußte, 
auch nachzuforschen, ob er nicht noch mehr 
finden könne. Das Bild vom alten Haus 
wollte er auch aufbewahren, das der Lehrer 
ihm mit Farben gemalt hatte. So ist Jo 
hannes dazu gekommen, sich nicht nur ein 
Stammbuch anzulegen, sondern auch einen 
Stammbaum, und eine Familienchronik 
und er ist erstaunt, mit wie vielen Leuten 
er verwandt ist, bald nach unten, bald nach 
oben. Er hat einsehen gelernt, daß die 
Stände längst nickt so streng geschieden 
sind, wie man meint und daß das alte 
Lied recht hat: „Die Welt ist rund und 
muß sich drebn: was unten ist muß oben 
stehn". Er hat fick auch nach den Vor- 
wesern auf seiner kleinen Stelle gefragt 
und geforscht, hat manches gefunden und 
anfaescküeben. Woher wohl die Namen 
seiner Felder kommen? Einige sind merk 
würdig, garnicht wie deutsch. So hat Jo 
hann denken gelernt, sich umschauen und
	        
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