Full text: (1994)

Auftritts der Gruppe 47 vor genau 30 ren in Sigtuna . Ob es ebenfalls wirkungen haben wird , ist noch zu früh zu sagen . 
Nichts Böllsches in Sicht ? 
Schriftsteller wie Kästner , Boll und Wallraff haben ihr treues Publikum in Schweden . Kästner wird geliebt und ist ein Klassiker . Wie sehr man einen rich Boll im neuen Deutschland vermißt , seine Güte , seinen Humor , seinen spruch , seine so undeutsch wirkende beholfenheit , höre ich in Schweden immer wieder . Den frühen Boll , den Satiriker , hat man ins Herz geschlossen , der Boll der Katharina Blum formte ein landbild , das noch heute nachwirkt . Nach Wallraff wird manchmal gefragt : Wann endlich kommt wieder etwas von ihm , der in den siebziger Jahren den größten saal der Stockholmer Universität „ weit über das hinaus füllte , was die lichen Sicherheitsvorschriften zulassen " ( Helmut Müssener ) . Doch , so etwas wie Neugier auch auf deutsche Texte ist schon zuweilen zu spüren , allerdings ist es eine Neugier , in der fast wie ein stummer wurf die Frage mitschwingt : So was Käst - nersches , so was Böllsches ist wohl nicht in Sicht ? Und „ gewallrafft " wird in Deutschland wohl auch nicht mehr ? sen deutsche Schriftsteller heute nach Schweden und sprechen vor digem Publikum , sind auch heute kleine bis mittelgroße Hörsäle voll , gefragt aber ist der Autoren Meinung zu Deutschland und weniger Literarisches . So erlebt mit Peter Schneider , Herta Müller und Jurek Becker . Gerade ersterer ist in Schweden ein geachteter Kommentator deutscher Zustände , wie auch Enzensberger wird ihm in der Presse gern das Wort erteilt . 
Von Hoffnungen war die Rede . Es macht Mut , und es überrascht , welche sonanz Per Landins neuestes Buch Münchhausens äventyrligheter och drà otidsenliga utflykter i det nyligen för - flutna ( Münchhausens ten und andere unzeitgemäße Ausflüge in das gerade Vergangene ) in Schweden zielt . Denn wer weiß hier schon mit ren wie Börries von Münchhausen , nes R . Becher , Arnoldt Bronnen und Werner Bräunig etwas anzufangen , die auch manch einem Leser in Deutschland nur ein Schulterzucken entlocken . 
dins Essays über diese und andere sche Autoren aber trafen einen Nerv : preisende Rezensenten , mehrmals obere Plätze in der Kritiker - Bestenliste , und , vor allem : Das Buch verkauft sich gut ! 
Man mag über Gründe für den Erfolg ge grübeln . Liegt es daran , daß hier „ der Meister der literarischen Reportage " , wie er in Schweden inzwischen genannt wird , am Werk ist ? Oder liegt es an Landins wöhnlichem Maß an Einfühlung in schenschicksale , besonders dann , wenn es sich um Außenseiter handelt , um , wie es Tomas Tranströmers Worte eingangs des Buches suggerieren , „ Menschen der ten , die Ungespielten , die Halbvergessenen , die unsterblich Unbekannten " ? Hier men sie zu Wort : Münchhausen , der von den Nazis hofierte Balladendichter , der schließlich nur noch vor einem Dutzend Parteigenossen , die ihn nicht kennen , aus seinen Werken liest ; Becher , der sche Kulturminister und Dichter der nalhymne , dem sein Sohn sagen muß , daß man ihn als Werkzeug benutzt ; Bronnen , der Romancier und Rundfunkmann , der sammen mit seinem Freund Goebbels mas Mann zum Schweigen bringt und den besagter Goebbels mit Schreibverbot belegt ; Bräunig , Arbeitersohn aus Chemnitz , sen Roman „ Rummelplatz " Ulbricht auf dem 11 . SED - Plenum 1965 als spiel für die „ schädlichen Tendenzen in der Literatur " brandmarkt und der sich , von milienmitgliedern und Freunden verlassen , zu Tode säuft . Und am Ende die de Schilderung der letzten Lebensjahre von Uwe Johnson in Sheerness - On - Sea auf der Insel Scheppey , nun selbst eine der tengleichen Figuren , die sein Epos kern . 
Es mag viele Gründe geben für die kung dieses Buches . Einer jedoch scheint mir stärker als alle anderen zu wiegen : Hier nähert sich jemand Menschen , ohne sichten , Standpunkte , Etiketten ten . Er kommt , läßt sie und ihre Bücher den , hört zu und versucht zu verstehen . Landins Bemühen um die deutsche tur hat etwas sehr Schwedisches . 
Schließlich und endlich : Martin Luther . 
Zum Manuskript eines in den 90er Jahren ( dieses Jahrhunderts ! ) entstandenen dischen Deutschlehrbuches befand ein achter allen Ernstes , es entbehre scher Moral . Im Verlag war man bestürzt : Was nun ? Der Vorschlag der Verfasser , den gutachterlichen Satz „ Dieses Buch entbehrt 
Lutherscher Moral " für Schüler und lehrer werbewirksam ins Vorwort men , wird höflich aber bestimmt abgelehnt . Denn wie würde wohl Fröken Andersson , die seit mehr als 30 Jahren Deutsch richtet , auf solche Boshaftigkeit reagieren ? 
Dabei wäre es höchste Zeit , das schräge schwedische Lutherbild , das sich laut der Sprachwissenschaftlerin und zialistin Birgit Stolt besonders während der letzten 60 Jahre verfestigt hat , einer gründlichen Revision zu unterziehen . ther gilt in Schweden als der „ Freudentö - ter " , der immer dann zur Stelle ist und warnend seinen Zeigefinger hebt , wenn man mal alle fünfe gerade sein lassen will . Selbst für den Alkohol , den manch einer braucht , um die allzu hohe le zum Vergnügen zu überwinden , muß Luther noch herhalten . Seine gestrenge Moral soll schuld sein am sen , weil hemmungslösenden Schnaps - und Bierkonsum ? ! Den Teufel auch ! War es nicht Luther , der da einst fragte , warum der erste Schluck aus der Kanne immer am besten schmeckt ? Fragen darf man doch mal , denn er ist gar zu arm dran in Schweden , der gute Martin . Anno Domini 1993 berichtet eine Frau in Dagens Nyhe - ter , wie sie sich nach der Nachtschicht um 7 Uhr morgens zur Ruhe betten will , an sie ohrenbetäubender Lärm des barn hindert , dem Handwerker die nung renovieren . Bevor sie noch ihrem Zorn freien Lauf lassen könne , sitze schon das schlechte Gewissen in Gestalt des „ kleinen Luther " auf ihrer Schulter und flüstere ihr zu , was die Leute wohl von ihr denken sollen . Zudem kenne sie den nen Luther - schon wenn sie nur mal ge frühstücke , erscheine er ihr . 
Verdüstert Luther also ein ohnehin nicht sehr farbenfrohes Deutschlandbild ? Ja und nein . Es gibt da Hoffnung ganz anderer Art . Bei einem Test der fast 300 zukünftigen Deutschstudierenden am Germanistischen Institut der Universität Stockholm wußten 57 Prozent mit dem Namen Luther nichts oder nur sehr Merkwürdiges anzufangen . „ Südafrikanischer Bischof " und „ sche Negerlieder " ( eine Schreibweise , die Hoffnung auf baldige Studienerfolge macht ) lauteten zwei der geradezu kabarettistisch anmutenden Antworten , im Feuilleton von Dagens Nyheter gewürdigt unter der schrift „ Luther als Ami " . 
Sage noch einer , mit deutschen tern und Denkern sei nicht zu spaßen . ■ 
Nr . 4 , 1994 
45
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.