Full text: (1995)

Schicksal Leifur Müller gaben diese eignisse möglicherweise den Ausschlag . 
In der zweiten Jahreshälfte 1942 hatte bei Leifur Müller das Heimweh Oberhand gewonnen , aber von Norwegen aus nach Island zu kommen war leichter gesagt als getan . Auf Anraten eines isländischen plomaten in Stockholm beschloß er , sein Leben nicht durch eine illegale Flucht aufs Spiel zu setzen , sondern zu chen , mit offizieller Erlaubnis der schen Besatzungsmacht nach Schweden zu gelangen und von dort aus über land nach Hause . Anfangs verlief alles nach Plan . Die erforderliche nehmigung wurde ihm ausgehändigt , und bis wenige Stunden vor der Abfahrt seines Zuges nach Stockholm warf ihm niemand einen Knüppel zwischen die Beine . Nur wenige wußten von seinem Vorhaben , aber offensichtlich immer noch zu viele . Einer von ihnen war ein norwegischer Freund seiner Eltern , mittlerweile ein her Beamter im Dienste der Nazis , ein derer ein alter isländischer Schulkamerad . Letzterer hatte ihn zusammen mit einer isländischen Freundin , die den gleichen Plan hatte , in ein vornehmes Hotel in Oslo zum Kaffee eingeladen , wo sie ihn in voller Naivität in ihre Pläne einweihten . Keiner von beiden wußte damals , daß eben dieser Mann von der Gestapo für seine Dienste beim Aufspüren potentieller Gegner des Dritten Reiches bestens lohnt wurde . 
Als zwei Gestapo - Männer die Freundin abholen wollten , griffen sie ins Leere - sie war schon abgereist und kam heil in Island an . Leifur Müller holten sie in seiner nung ab und inhaftierten ihn . Acht Monate hielt die Gestapo ihn im Gefängnis und Gefangenenlager in Norwegen , bevor er Ende Juni 1943 zusammen mit vielen ren Häftlingen nach Deutschland tiert wurde . Eine von vielen Fragen , deren Beantwortung Leifur Müller vergeblich wartete , lautete : „ Was habe ich chen ? “ Statt einer Antwort nur Schweigen , weder damals noch später wurde eine klage erhoben . Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde ihm seine geplante Reiseroute zur Last gelegt : sie verlief durch land . Außerdem vertrat die deutsche rung die Ansicht , Island habe sich durch sein offizielles Ersuchen bei den nern um militärische Unterstützung für die Verteidigung des Landes von seinem tralitätskurs losgesagt . 
„ Raus mit euch , ihr Faulpelze ! “ - das waren die ersten Worte , die Leifur ler zu hören bekam , als die Zugtüren am Bahnhof in Oranienburg geöffnet den . Gemessen an dem , was ihm in Sachsenhausen noch bevorstand , war dieser Befehl ein Wiegenlied . Wie te ein zweiundzwanzig - jähriger junger Mann ahnen , was ihn hinter dem Tor , gekrönt mit den Worten „ ARBEIT MACHT FREI“ , erwartet ? Die arbeit sollte er noch kennenlernen , die Tausende und Abertausende seiner meraden für deutsche Firmen zu ten hatten , welche der SS für die kräfte Entgelt zahlten , nach einer rechnungsformel , die sie im jargon „ Durchschnittliche Lebensdauer 9 Monate“ nannten . Die „ strecke“ mußte er noch kennenlernen , auf der die Abnutzung von Schuhen testet wurde , die Arbeit in den Gräben und der Ziegelei , und die des Kalfaktors in den Krankenbaracken . Krankheiten mußte er durchmachen : Ruhr , ne , Hautausschläge und Ekzeme . Wie war es auch anders zu erwarten an nem Ort , an dem die Gefangenen in realten Ausscheidungen liegen mußten , eigenen und fremden ; an dem sich die Leichen türmten , wenn die Kapazitäten der Verbrennungsöfen nicht ausreichten . An einem Ort , der durch nichts erhellt wurde außer durch die funkelnde samkeit in den Augen der Nazis und durch ihre blankpolierten Stiefel . Leifur Müller mußte Leichen in den Keller transportieren , wo ihnen goldene füllungen gezogen wurden , ehe sie in die Öfen kamen und dann nur noch grauer Rauch und süßlich riechender Qualm den Überlebenden die letzten Grüße überbrachten . Er mußte erfahren , daß die Arbeiten , durch die er überleben konnte , gleichzeitig die grauenhaftesten waren . Er mußte am eigenen Leib spüren , wie die Sehnsucht nach LEBEN alle anderen normalen Empfindungen zurückdrängte . Es boten sich ihm nur zwei Alternativen : entweder mußte er fast alle menschlichen Gefühle in sich austrocknen lassen , sich in Demut den Stärkeren unterwerfen oder aber sterben . Leifur Müller überlebte zweieinhalb re . 
Leifur Müller überlebte . Außer ihm wußte kein einziger Isländer von der fangenschaft im Konzentrationslager zu 
berichten , so daß ihm nicht nur die enhaften Erinnerungen aufgebürdet ren , sondern ihn noch dazu seine leute mit völliger Verständnislosigkeit konfrontierten . Wie hätten die Isländer sein Martyrium auch verstehen sollen , hatten sie doch aus dem Krieg einen sehnlichen Profit gezogen . Die Isländer fühlten sich in Aufbaustimmung , lebten im Überfluß und redeten vom „ gesegneten Krieg“ , denn er hatte sie mit Reichtum überhäuft . Als Leifur Müller versuchte , ihnen seine Erfahrungen vom Inferno zu schildern , stieß er auf die Erwartung der Isländer , ein schwarz - weißes Bild von Helden und Verbrechern präsentiert zu bekommen , von Solidarität unter den densgenossen , eventuell gewürzt mit führungen über die Kraft des christlichen Glaubens . Was er zu sagen hatte , war : - „ Wir waren wie Vieh , lebten wie Vieh und wir gehorchten wie Vieh . Sonst könnten wir jetzt nichts mehr berichten . Leider . “ 
Obwohl Leifur Müller nach seiner Rückkehr nach Island sein Leben in terieller und sozialer Hinsicht gut in den Griff bekam , litt er zeitlebens unter dem Konzentrationslager - Syndrom : 
schwäche , Gereiztheit , Unruhe , tes Gedächtnis , rigkeiten , Unausgeglichenheit , sionen , Schlafstörungen , Müdigkeit , mangelndes Selbstwertgefühl und heit . Leifur Müller schaffte es nie , sich abzugewöhnen , seine Kleider nachts über das Fußende des Bettes zu hängen . Im Konzentrationslager mußte die dung immer in Reichweite sein - sollte etwas passieren , konnte die digkeit beim Anziehen entscheidend sein . 
Die deutsche Sprache zu hören , ertrug er nicht mehr . Selbst bei den schönsten Gedichten sträubten sich ihm die Haare , wenn sie auf deutsch vorgetragen wurden , der Sprache Goethes und Schillers . Alles , was an Deutschland erinnerte , te ihm Unbehagen ; sogar die beiden Pünktchen über dem u in seinem ennamen , die auf die deutsche mung der Familie seines Vaters führen waren . Kurz nachdem er aus der Sklaverei entlassen worden war , gab ser ruhige , beherrschte und gewissenhafte Mann eine himmelschreiende rung ab : er entfernte die beiden chen und nannte sich Müller . ■ 
Nr . 3 , 1995 
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