EUROPA :
Die inszenierte Identität
Entwickelt sich in Europa ein neues „ Wir " - Gefühl ? Gibt es tatsächlich ein gemeinsames , identitätsstiften - des Gemeinschaftsempfinden in dem Europa der Nationen ? Zerfällt pa nicht zur Zeit ganz im Gegenteil in seine verschiedenen Regionen ?
Ulf Hedetoft
Die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa stellen die Mentalität der ropäer vor entscheidende gen .
Einerseits wirken die Integrations - und Unionsbestrebungen der EG auf die wurzelten Denkmuster , Gefühlsarten und kulturellen Beziehungen ein . Sie problema - tisieren den Nationalstaat als che Basis sozialen und kulturellen Lebens und schaffen neue Verknüpfungen schen Politik , Kultur , Rechtsverhältnissen und Wirtschaft .
Andererseits sind in Europa alte nien in Auflösung begriffen , wobei in Ost - und Mitteleuropa neue Konflikte chen und ausgefochten werden . Aber auch innerhalb der EG begleiten den politischen und wirtschaftlichen Integrationsprozeß seit längerer Zeit Anzeichen für kulturelle Desintegration , u . a . in bezug auf alte und neue Regionen in Europa .
Manche sind zu dem Schluß gekommen , daß der europäische Nationalstaat in eine Klemme zwischen übernationalen und nationalen Interessen gerate und keine gemäße Organisationsform für Wirtschaft und Kultur auf der Schwelle zur Nachkriegszeit1 - dem 21 . Jahrhundert - mehr sei . Die föderative Union auf der nen Seite und das „ Europa der Regionen " auf der anderen kündigten den Tod des Nationalstaats an und setzten damit den Grabstein für das „ Europa der Vaterländer " , das de Gaulle seinerzeit proklamierte und zu dem sich auch unter anderen Margaret Thatcher bekannte .
Es gibt jedoch allen Grund , sich vor schnellen Schlüssen zu hüten . Für unsere Zeit ist charakteristisch , daß Erwartungen
an die nächste Zukunft in regelmäßiger Gleichförmigkeit von den tatsächlichen Entwicklungen demontiert werden . Im nen Moment glaubt man , daß die Ost - West - Trennung dauerhaft sei , im nächsten Moment ist es , als habe sie nie existiert . Dann wird das Ende des Nationalismus prognostiziert , worauf dieser im Osten und Westen in allerlei mehr oder minder schrecklichen Formen auftaucht . Um so mehr bedarf es der Aufklärung darüber , was tatsächlich geschieht , welche sen auf dem Spiel stehen und in unserem Zusammenhang besonders darüber , wie das europäische mentalgeographische versum aussieht . Wie sind Identitäten und Weltbilder an verschiedenen Orten Europas ineinander gefügt ? Sind Nation und nalismus nicht länger gefragt ? Ist eine ropäische Identität im Wandel begriffen ? Werfen wir einen Blick auf die Mentalitäten Europas .
Das nationale „ Wir " : Die Mentalität , die nicht verschwinden will
In Dänemark ist es Tradition , daß der Staatsminister am ersten Tag des Jahres eine vom Fernsehen übertragene ansprache an das dänische Volk hält . So auch 1992 . Der Hauptinhalt betraf das neue Europa , ein Europa , das „ aus sehr denen Nationen und Vaterländern besteht . " Die Ansprache ging in zwei Richtungen : nerseits rief Poul Schlüter nachdrücklich zu einer verstärkten europäischen Integration auf . Andererseits hob er recht stark hervor , daß „ alle - auch wir Dänen - ein natürliches und echtes Bedürfnis danach haben , ein Volk zu sein und zu einer Nation zu gehören " und daß „ der Zweck der Union es nicht ist , die einzelnen Länder und ihre genheiten wegzuwischen . ( . . . ) Unsere sche Kultur und unsere Eigenheit wird oder kann niemand beiseite schieben " .
Aussprüche dieser Art sind interessante Anzeichen für den Zustand der nationalen Mentalität , natürlich vor allem in Dänemark , aber auf ihre Weise auch in anderen EG - dern . Es wird bekannt sein , daß Dänemark eine Geschichte der Zweifel , des Zögerns und Widerstands gegen die EG - arbeit hat , u . a . weil viele befürchtet haben , daß das , was man als dänische Kultur , talität und Unabhängigkeit gesehen hat , von der EG untergraben würde . Poul ters Rede hatte die Absicht , einer solchen
Furcht entgegenzuwirken - einer Furcht , die im Sommer 1991 die Wochenzeitung THE EUROPEAN dazu veranlaßte , das Resultat ner in sechs EG - Ländern vorgenommenen Untersuchung über die Einstellung zu on und Europa mit folgender Überschrift zu bezeichnen : „ French enthusiasm puts Danes to shame " .
Soll man jedoch dem vorliegenden wurf zum Text des Abkommens über die Wirtschaftliche und Politische Union en , der aus dem Treffen von Maastricht im Dezember 1991 hervorging , wird dort eine allgemeine und nicht nur eine dänische blemstellung deutlich . In einem Abschnitt mit der Überschrift „ Common Provisions " steht nämlich : „ The Union shall have due gard to the national identity of its Member States . " In der Einleitung zum selben schnitt wird zwar unterstrichen , daß die träge einen neuen Schritt hin zur Bildung ner immer engeren Union zwischen den Völkern Europas kennzeichnen - einer Union jedoch , „ where decisions are taken as ly as possible to the citizens " . Dieser letzte Passus ist eine Übersetzung des licheren „ Subsidiaritätsprinzips " , das den Willen der EG bekräftigen sollte , auf der Grundlage von Nationalstaat und identität zu bauen .
Es fällt auf , daß sowohl der dänische Staatsminister als auch der Unionstext es für nötig halten , die nationale Frage zu matisieren . Dies zeigt wohl , daß die nale Mentalität bei den Bevölkerungen nicht richtig verschwinden will , obwohl sie sehr unterschiedlich aussieht und z . B . in Dänemark , Frankreich , Großbritannien und Deutschland unterschiedlich stark ist . Aber es zeigt auch , daß das „ natürliche und te Bedürfnis danach , ein Volk zu sein " , über das Schlüter sprach , nicht so natürlich und echt ist , als daß es nicht die ganze Zeit auch von der EG artikuliert und bestätigt zu werden bräuchte .
Nichtsdestoweniger oder vielleicht nau deshalb deutet vieles darauf hin , daß die Furcht des gewöhnlichen Dänen vor Europas negativem Einfluß auf die dänische Eigenheit abnimmt . Meinungsumfragen und Untersuchungen , die ich selbst im ment vornehme , weisen in diese Richtung . Wie so oft zuvor sind die Entwicklungen in Deutschland der Auslöser für eine litätshistorische Veränderung in Dänemark . Wo bisher in hohem Maß die von den nen ausgehende Identifizierung der EG mit 'neuer deutscher Dominanz' - vor dem
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