ANHENRIETTE WULFF
Kassel, den 6. September 1857
Meine liebe, schwesterliche Freundin!
Heute vor achtunddreißig Jahren kam ich als ein
armes Kind nach Kopenhagen, heute komme ich aus Weimar
in der Stadt Kassel an, gerade in der Stadt, von der meine
alte Großmutter sprach und sagte, dort sei ihre Großmutter
einmal eine vornehme Dame gewesen, sei aber mit einem
Komödianten aus dem Lande gelaufen, und seit der Zeit
habe ihre Familie nichts mehr von ihr wissen wollen. Viel-
leicht würden sie jetzt von einem ihrer Nachkommen doch
etwas wissen wollen; der Gedanke erfüllt mich, während ich
hier in dieser langweiligen Stadt sitze.
Ihren Brief — den zweiten nach Weimar gerichteten —
habe ich gestern abend bekommen, als ich mich zu dem letzten
Festabend im Theater begab, zu einem Konzert von Liszt;
Dank, herzlichen Dank für den seelenvollen, reichen Brief; ich
habe ihn im Theater noch einmal gelesen, da ich sonst bei der
Musik, die ich mitanhören mußte, ganz verkommen wäre,
Es war alles von Liszt; ich konnte all dieser Wildheit gar
nicht folgen, dieser, wie mir scheint, gedankenlosen Ton-
dichtung; einmal schlug man mit Becken; ich dachte, ein
Teller sei hinuntergefallen, aber das Publikum war begeistert,
und es regne*; "Zränze! Es ist eine lächerliche Welt!
Seit ich Maxen verlassen habe, bin ich nicht ganz
wohl gewesen, und augenblicklich bin ich so erkältet, daß ich
kaum sprechen kann; das habe ich dies Jahr wieder von den
Festlichkeiten in Weimar; die Hitze und die Zugluft, ja, die
beiden können mich umbringen. Und doch bin ich froh
über den Besuch in Weimar; es waren festliche Tage. Ich
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