Full text: Sämmtliche Märchen

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ein Thautropfen lag, wie eine Thräne des Mitleids, auf ihren Blättern, 
sie beugte sich mit dem Zweige hinab über einige große Steine. 
„Hier ruht der Erde größter Sänger!“ sagte die Rose, „aber seinem 
Grabe will ich duften, auf dieses meine Blätter streuen, wenn der Sturm 
mich entblättert! Jsiums Sänger wurde Erde, der ich entsprieße! — 
Ich, eine Rose vom Grabe Homer's, bin zu heilig, um für eine arme 
Nachtigall zu blühen! 
Und die Nachtigall sang sich zu Tode! 
Der Kameeltreiber kam mit seinen beladenen Kameelen und schwarzen 
Sclaven; sein Söhnchen fand den todten Vogel und beerdigte den kleinen 
Sänger in dem Grabe des großen Homer; die Rose bebte im Winde. 
Der Abend kam, die Rose faltete ihre Blätter dichter zusammen und 
cräumte! — „es war ein schöner, sonnenheller Tag; eine Schaar fremder 
Männer nahte, sie hatten eine Pilgerreise nach Homer's Grabe unter— 
nommen. Unter den Fremden war ein Sänger aus dem Norden, aus 
der Heimath der Nebel und des Nordlichts; er brach die Rose ab, preßte 
sie fest in ein Buch und führte sie so mit sich in einen andern Welt— 
cheil, in sein fernes Vaterland. Die, Rose welkte aus Kummer und lag 
in dem engen Buche, das er in seiner Heimath öffnete und sagte: „„pier 
ist eine Rose vom Grabe Homer's!““ 
Das träumte die Blume, und sie erwachte und zitterte im Winde: 
ein Thautropfen fiel von ihren Blättern auf das Grab des Sängers. 
Die Sonne ging auf, und schöner als zuvor glühte die Rose; es wurde 
ein heißer Tag, sie war in ihrem warmen Asien. Da wurden Fußtritte 
hörbar, fremde Franken kamen, wie die Rose sie im Traume gesehen, 
und unter den Fremden war ein Dichter aus dem Norden, er brach 
die Rose ab, drückte einen Kuß auf ihren schönen Mund und führte sie 
mit sich zur Heimath der Nebel und des Nordlichts. 
Als eine Mumie ruht nun die Blumenleiche in seiner Iliade, 
und wie im Traum hört sie ihn das Buch öffnen und sprechen: „Hier 
ist eine Rose vom Grabe Homer's!“
	        
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