Full text: Andersens Märchen

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fast erdrückt wurde. Er konnte durch das Blatt fühlen, wie die Lippen 
des Mannes brannten, und die Rose selbst hatte sich wie bei der 
stärksten Mittagssonne geöffnet. 
Da kam ein anderer Mann, finster und böse; es war des hübschen 
Mädchens schlechter Bruder. Der zog ein scharfes Messer hervor, und 
während jener die Rose küßte, stach der schlechte Mann ihn tot, schnitt 
ihm den Kopf ab und begrub Kopf und Körper in der weichen Erde 
unter dem Lindenbaume. 
Nun ist er vergessen und fort!“ dachte der schlechte Bruder; „er 
kommt nie mehr zurück. Eine lange Reise sollte er machen, über 
Berge und Seen: da kann man leicht das Ceben verlieren, und das 
hat er verloren. Er kommt nicht mehr zurück, und mich darf meine 
Schwester nicht nach ihm fragen.“ 
Dann scharrte er mit dem Fuße dürres Caub über die lockere 
Erde und ging wieder in der dunklen Nacht nach Hause. Aber er 
ging nicht allein, wie er dachte: der kleine Elf begleitete ihn. Der 
saß in einem vertrockneten, zusammengerollten Lindenblatte, welches 
dem bösen Manne, als er grub, in die Haare gefallen war. Der 
Hut war nun darüber gesetzt, es war sehr finster im Hute, und der 
Elf zitterte vor Schreck und Sorn über die schlechte That. 
In der Morgenstunde kam der böse Mann nach Hause; er nahm 
seinen Hut ab und ging in der Schwester Schlafkammer hinein. Da 
lag das schöne, blühende Mädchen und träumte von ihm, dem sie von 
Herzen gut war und von dem sie nun glaubte, daß er über Berge 
und durch Wälder ginge. Und der böse Bruder neigte sich über sie 
und lachte häßlich, wie nur ein Teufel lachen kann. Da fiel das 
trockene Blatt aus seinem Haar auf die Bettdecke nieder; aber er 
hemerkte es nicht und ging hinaus, um in der Morgenstunde selbst 
ein wenig zu schlafen. Aber der Elf schlüpfte aus dem verwelkten 
Blatte, setzte sich in das Ohr des schlafenden Mädchens und erzählte 
ihr wie in einem Traume den schrecklichen Mord; beschrieb ihr den 
Ort, wo der Bruder den Geliebten ermordet und seine Leiche ver— 
scharrt habe; erzählte von dem blühenden Lindenbaume dicht daneben 
und sagte: „Damit du nicht glaubst, daß es nur ein Traum sei, was 
ich dir erzählt habe, so wirst du auf deinem Bette ein dürres Blatt 
finden!“ Und das fand sie, als sie erwachte.
	        
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