Full text: Andersens Märchen

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„Und heute Morgen bekam sie ebensoviel,“ fuhr der Mann fort. 
„Nein, es war gestern!“ sagte der Knabe. 
„Swei halbe machen ein ganzes! — Sie taugt nichts! Es ist 
traurig mit der Art Leutel — Sage deiner Mutter, sie solle sich 
schämen! und werde du nur kein Trunkenbold; aber das wirst du 
schon werden! Armes Kind! Geh nur!“ 
Und der Knabe ging weiter; die Mütze behielt er in der Hand 
und der Wind spielte in seinen gelben Haaren, daß lange Büschel in 
die Höhe standen. Er lenkte um die Straßenecke, in die kleine Gasse 
ein, die nach dem Flusse führte, wo die Mutter im Wasser stand an 
der Waschbank und mit dem Schlägel die schwere Wäsche schlug. 
Das Wasser strömte stark, denn die Schleusen der Mühle waren auf— 
gezogen, das Bettlaken trieb mit dem Strome und war im Begriff, 
die Bank umzureißen. Die Waschfrau mußte sich dagegen stemmen. 
„Bald wäre ich davon gesegelt!“ sagte sie. „Es ist gut, daß du 
kommst, denn ich habe es nötig, den Kräften ein wenig zu Hilfe zu 
kommen! ESs ist kalt hier im Wasser; sechs Stunden stehe ich schon 
hier. Hast du etwas für mich?“ 
Der Rnabe zog die Flasche hervor und die Mutter setzte sie an 
den Mund und trank einen Schluck. 
„Ach, wie das wohlthut! Wie das wärmt! Das ist ebenso gut 
wie warmes Essen, und nicht so teuer! Trinke, mein Jungel Du siehst 
ganz blaß aus, es friert dich in den dünnen Kleidern! Es ist ja auch 
Herbst. Hu! wie ist das Wasser kalt! Wenn ich nur nicht krank 
werde! Doch das werde ich nicht! Gieb mir noch einen Schluck und 
trinke auch du, aber nur ein Tröpfchen, du darfst dich nicht daran 
gewöhnen, mein armes, gutes Kind!“ 
Und sie ging um die Brücke herum, auf welcher der Knabe stand, 
und trat ans CLand; das Wasser troff von der Strohmatte, die sie um 
den Leib gebunden hatte, und von ihrem Rocke. 
„Ich arbeite und quäle mich, daß das Blut mir fast unter den 
Nägeln hervorquillt! aber ich thu' es gern, wenn ich dich nur ehr⸗ 
lich und rechtschaffen durchbringe, mein lieber Junge!“ 
In diesem Augenblicke trat eine etbas ältere Frau heran, eine 
ärmliche Erscheinung, lahm an dem einen Beine und mit einer gar 
großen, falschen CLocke über dem einen blinden Auge: das Auge sollte
	        
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