Full text: Andersens Märchen

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bevor ich ihn dir sage, mußt du mir erst alle die Lieder vorsingen, 
die du deinem Kinde vorgesungen hast. Ich liebe diese Lieder; ich 
habe sie früher gehört; ich bin die Nacht und sah deine Thränen, 
als du sie sangst.“ 
„Ich will sie alle, alle singen!“ sagte die Mutter. „Aber halte 
mich nicht auf, damit ich ihn einholen, damit ich mein Rind wieder— 
finden kann!“ 
Aber die Nacht saß stumm und still. Da rang die Mutter die 
Hände, sang und weinte. Und es gab viele Lieder, aber noch mehr 
Thränen! Dann sagte die Nacht: „Geh' rechts in den düstern Fichten⸗ 
wald hinein; dahin sah ich den Tod mit dem kleinen Kinde den Weg 
nehmen.“ 
Tief drinnen im Walde kreuzte sich der Weg, und sie wußte nicht 
mehr, welche Richtung sie einschlagen sollte. Da stand ein Schwarz⸗ 
dornbusch, er hatte weder Blätter noch Blumen; aber es war ja auch 
um die kalte Winterzeit, und Eiszapfen hingen an den Zweigen. 
„Hast du den Tod mit meinem kleinen Kinde vorbeigehen sehen?“ 
„Ja,“ sagte der Schwarzdornbusch; „aber ich sage dir nicht, 
welchen Weg er genommen hat, wenn du mich nicht zuvor an deinem 
Busen erwärmen willst! Ich friere hier tot, ich werde zu lauter Eis!“ 
Und sie drückte den Schwarzdornbusch fest an ihre Brust, damit 
er recht auftauen könne. Die Dornen drangen in ihr Fleisch ein und 
ihr Blut floß in großen Tropfen. Aber der Schwarzdornbusch schoß 
frische grüne Blätter und bekam Blüten in der kalten Winternacht: 
so warm ist es an dem Herzen einer betrübten Mutter! Der Schwarz- 
dornbusch sagte ihr darauf den Weg, den sie gehen sollte. 
Da kam sie an einen großen See, auf dem sich weder Schiff noch 
Kahn befand. Der See war nicht genug gefroren, um sie zu tragen, 
und auch nicht offen und flach genug, um durchwatet werden zu 
können — und doch mußte sie darüber, wollte sie ihr Kind finden. 
Da legte sie sich nieder, um den See auszutrinken; das war ja un⸗ 
möglich für einen Menschen. Aber die betrübte Mutter dachte, daß 
vielleicht ein Wunder geschehen könnte. 
„Nein, das wird niemals gehenl“ sagte der See. „Caß uns beide 
lieber sehen, daß wir einig werden! Ich liebe es, Perlen zu sammeln, 
und deine Augen sind zwei der klarsten, die ich je gesehen: willst du 
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