Full text: Andersens Märchen

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ein junger, rüstiger Mann; es geschah, als er eben zu derselben Stunde 
sein Amt antrat. Ja, das war freilich lange her, daß sie Laterne 
und er Nachtwächter wurdel Die Frau war damals ein wenig stolz. 
Nur wenn sie abends vorbeiging, würdigte sie die Caterne eines Blickes, 
am Tage nie. Jetzt aber, in den letzten Jahren, wo sie alle drei, 
der Wächter, die Frau und die Laterne, alt geworden, hatte die Frau 
auch sie gepflegt, geputzt und mit Gl versehen. Grundehrlich waren 
die beiden Eheleute; nie hatten sie die Lampe nur um einen Tropfen 
des ihr bestimmten Els betrogen. 
Es war ihr letzter Abend auf der Straße, und morgen sollte sie 
aufs Rathaus: das waren zwei finstere Gedanken! Kein Wunder, daß 
sie nicht schön brannte. Aber auch viele andere Gedanken durchkreuzten 
siel Zu wie vielem hatte sie ihr Licht geliehen, wie vieles hatte sie 
gesehen, vielleicht eben so viel, wie Bürgermeister und Rat. Allein 
diese Gedanken ließ sie nicht laut werden, denn sie war eine gute, 
ehrliche, alte Laterne, die niemandem etwas zu Leide thun mochte, 
am allerwenigsten der Obrigkeit. Gar vieles fiel ihr ein und mit— 
unter flackerte ihre Flamme auf. Sie hatte in solchen Augenblicken 
ein Gefühl, daß man sich auch ihrer erinnern würde. „Da war da— 
mals der junge, hübsche Mann — es ist freilich lange her — der 
hatte ein Briefchen auf rosarotem Papier mit Goldrand. Es war 
so zierlich geschrieben, wie von einer Damenhand. Zweimal las er 
es und küßte es und blickte empor zu mir mit Augen, die deutlich 
aussprachen: Ich bin der glücklichste der Menschen!“ Nur er und ich 
wußten, was in diesem ersten Briefe seiner Geliebten geschrieben stand. 
Ja, auch noch eines Augenpaars erinnere ich mich — es ist doch 
etwas Wunderbares um die Gedankensprünge! In der Straße war 
ein Leichenbegängnis; die junge, schöne Frau ruhte auf dem vor— 
nehmsten Leichenwagen in dem mit Blumen und Kränzen bedeckten 
Sarge; die vielen Fackeln verdunkelten mein Licht. Längs der Häuser 
standen die Menschen gedrängt; sie zogen alle dem Leichenzuge nach. 
Als aber die Fackeln mir aus dem Gesicht waren und ich umherblickte, 
stand eine einzige Person noch an meinen Pfahl gelehnt und weinte. 
Nie vergesse ich das trauernde Augenpaar, das zu mir aufblicktel!“ 
Diese und ähnliche Gedanken beschäftigten die alte Straßenlaterne, die 
heute zum letztenmale leuchtete.
	        
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