Full text: Germanische Mythologie

III. Die Hauptgottheiten als Gesamterscheinung. 
den zu selbständigen Göttern, die in das Gefolge ihres geistigen 
Vaters traten. Ich kann diesen Vervielfältigungsprozeß immer 
nur als ein priesterliches Machwerk ansehen; dem Volke als 
solchem kommt er nicht zu. Als Beispiel für das altnordische 
Gebiet gebe ich die Namen der Dienerinnen der Frigg: Hlin, 
Sjöfn, Lofna, vara, Vör, d. h.: Schützerin, Zunei— 
guüng, Erlaubnis, Bündnis, Vorsicht. Die Götterfür— 
ftin ist also mit einem ihrer würdigen Hofstaat in der beschriebe— 
nen Weise umgeben worden. Bisweilen wird ein einzelner Gott 
in derselben Weise verdreifacht. Wodan bekommt zwei Brüder: 
Vili und Ve, „Wunsch“ und „Wille“; ferner zwei Raben: 
Hugi und Muni, „Gedanken“ und „Erinnerung'“, die 
ihm alle Geschehnisse der Welt zuflüstern. Diese Figuren sind skal— 
dische Erdichtungen nach volkstümlicher Vorlage. Der Glaube, 
daß „Wunsch und Wille“ oder „Gedanken und Erinnerung“ des 
Menschen, d. h. sein inneres geistiges Leben, mit einem beflügelten 
Körper versehen, in die Ferne schweifen und so dem Intellekt die 
Geschehnisse der Außenwelt übermitteln, steht keineswegs verein⸗ 
zelt da. Häufig hat man vielmehr die menschlichen Gedanken, die 
menschliche Seele, als Vogel gedacht, weil man sich unter dieser 
Voraussetzung am besten die Fähigkeit, Abwesendes und räumlich 
Entlegenes vorzustellen, erklären konnte. Doch erregt in dem 
oben gegebenen Falle schon die Zweizahl der Vögel Hugi und 
Muni Bedenken und noch sonderbarer ist die Namengebung beider, 
die das begriffliche Element klar hervortreten läßt. Danach könnte 
man geneigt sein, die ganze Vorstellung für jung und bloß er⸗ 
funden zu halten. Dem widerspricht aber die häufig hervortre⸗ 
tende Auschauung von Wodan als Totengott und seinen Raben 
als Geleittieren, welche letztere also auch hier, wenngleich nicht in 
der Zweizahl, hervortreten, weil sie, die zu den Leichen in so 
nahen Beziehungen stehen, dem greisen Götterkönig als dem 
Herrscher uͤber Tod und Leben, als dem Gotte des Todes und der 
Seelen überhaupt, zukommen. Ihr unheimliches Schreien deutet 
auf ihren unersättlichen Hunger; ihre schwarze Farbe bringt sie 
zum Reich der Nacht in enge Beziehung; die bekannte Vor liebe 
für verendete Körper, ihr Aufenthalt an den Stätten der Verwe⸗ 
fung macht sie besonders grauenerregend. Dazu kommt, daß Wo— 
dan in nahem Zusammenhange mit seinem eigentlichsten Wesen 
auch spezieller Gott der Erhängten war und ferner als Walvater 
nuf dem Schlachtfelde waltete. Die am Galgen Hängenden und
	        
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