Naturbeseeltheit. Gottheiten. Ihr Machtbereich. 29
des Aberglaubens ist sicherlich besonders alt, denn selbst die nied—
rigstehenden Stämme Amerikas und Afrikas vergöttlichen den
als inspiriert Geltenden, wozu sie auch den durch Alkohol, Tabak
der andere Narkotika Berauschten rechnen, weil sich der primi—
tive Mensch die Rauschwirkung als solche nicht anders als durch
göttliche Einwirkung zu erklären vermag. Auch unser Volk spricht
noch mit Scheu von demjenigen, der „sehen“, d. h. hellsehen
kann, fürchtet alte Frauen mit „bösem Blick“ und hat seine eige⸗
nen, von instinktiver Angst zeugenden Erklärungen für alle For⸗
men der Hysterie, des Wahn- und Blödsinns.
Natürlich können wir die erwähnten Anschauungen nur teil⸗
weise aus alten Texten belegen, doch macht die Vergleichung mit
den Glaubensmeinungen anderer Völker sie auch für das alte
Germanentum selbst da, wo sie uns erst in moderner Zeit bezeugt
sind, wahrscheinlich. Wir sehen — darin besteht der Gewinn
dieser Beirachtungen — augenscheinlich, daß die ganze Natur mit
allem, was in ihr lebt und webt, was sie uns täglich zeigt oder
nur hier und da einmal als Wunder offenbart, in den Bannkreis
der Religion geschlagen war. Nur diese Tatsache macht eine ver⸗
ständige Würdigung des altgermanischen Glaubens, seine reli—
gionsgeschichtlich richtige Wertung und seine ethische Einschätzung
möglich; die Periode der eigentlichen Vielgötterei, der gedanken⸗
losen Verehrung zahlloser Zustände und Objekte, war von ihm
längst überwunden. In der Gruppierung der gesamten Erschei—
nungswelt unter die Herrschaftsbereiche weniger, lebendiger Götter
sehe ich eine von selbst auf die Phase des Monotheismus zudrän—
gende Form der Religionsentwicklung, die in ihrer tiefen Inner⸗
lichkeit auch uns bewundernde Anerkennung abnötigt. Hier
konnte das Christentum getrost einsetzen, hier war es nicht in
Gefahr, zum Ritualismus zu verflachen. Wo jede Pflanze, jedes
Tier, jedes Stück Erde und jeder Mensch, der auf ihr lebt, einer
lebendigen Gottheit untertan war, konnte die semitische Vorstel⸗
lung von dem monarchisch regierenden Gotte, der über der Erde
thront, eine Vertiefung erhalten, die den aufgepflanzten Glau—
ben die festeste Wurzel schlagen ließ. Der christlich-⸗semitische Gott
steht als Machthaber über den Menschen, der christlichgermani⸗
sche Gott des Märchens kehrt hingegen bei den Sterblichen ein
und ißt mit den Armen deren Brot, wie auch die Legende das
gleiche von Christus berichtet. Hier können wir die Eigenart des
germanischen Geistes mit besonderer Bestimmtheit walten sehen