Full text: Germanische Mythologie

Theorie des Opfers Das Opferwesen. 103 
duum. Es handelt sich bei ihnen eben ursprünglich um einen 
mimischen Akt der Verdammung. 
In schneidendem Gegensatze zu dieser Gruppe sakraler Hand— 
lungen stehen Opferveranstaltungen der früher erwähnten Art. 
Sie setzen einen Staatsverband und vom Staate verehrte Gott— 
heiten voraus. Sie schaffen die Grundlagen eines Rechts an dem 
bis dahin herrenlosen Boden; sie werden, weil sie Staatsinter— 
essen dienen, von der Gemeinschaft der Stammesgenossen voll— 
zogen. Das bei ihnen geschlachtete Opfertier muß einen sozialen 
Wert haben und zu den Stammesgottheiten in bestimmten Be— 
ziehungen stehen, so daß sich ein weitgehender Parallelismus 
zwischen dem Opfertiere und dem Opferveranstalter einerseits, 
und zwischen der Opfergottheit und dem Opfertiere andererseits 
ergibt. Die umwälzende Idee von der Beteiligung der staat— 
lichen Gemeinschaft an dem Opfer, die sich in der Vollziehung 
des gesamten Ritus durch diese Gemeinschaft kundgibt, verleiht 
der Veranstaltung allmählich eine staunenswerte Größe und Kom— 
pliziertheit Dietmar von Merseburg berichtet uns von 
einem großen Opfer auf Seeland, das alle neun Jahre im Ja—⸗ 
nuar nach der Zeit der Zwölften dargebracht wurde, und bei dem 
99 Menschen und ebensoviel Pferde samt Hunden und Hühnern 
fielen. Eine andere Veranstaltung fand in Upsala alle neun 
Jahre statt. Bei ihr wurden neun Häupter von jeder Tiergattung 
dargebracht. — Natürlich werden auch die Opferzeremonien im— 
mer unständlicher, wobei sich das deutliche Bestreben zeigt, einem 
jeden der Stammesmitglieder Teilnehmerschaft an der heiligen 
Handlung, sei es in aktivem oder passivem Sinne, zu gewähren. 
Deshalb ist es kein Zufall, daß die nordgermanische Opferge— 
meinschaft, nicht anders als die semitische, mit dem Blute des ge— 
töteten Tieres besprengt wurde. War doch ursprünglich ein sol— 
ches Opfer nichts anderes als das gemeinschaftliche Mahl eines 
ganzen Stammes, wobei sich durch den Genuß des frischen Flei— 
sches die Verbrüderung der Menschen untereinander und mit der 
Gottheit vollzog. Ein Nachklang davon ist die rituelle Forderung 
des alten Griechenlands, daß alle, die an dem Opfer teilhaben 
wollten, das Opfertier und die Opferschüssel berühren mußten. 
Die Prägung des Opfers zu einer Staatsaktion mußte eine 
höhere Wertung und strengere Auswahl des todgeweihten Wesens 
zur Folge haben. Der Mensch, den man für ausreichend hielt, 
das Leben eines einzelnen zu retten, konnte nicht ohne wei—
	        
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