Full text: Germanische Mythologie

02 VIII. Das Opfer. 
der man das Kind von der Mutter, den Mann von der Frau 
losriß, um durch ihren Tod das Ganze des Stammes zu erhalten. 
Wie der gesamte heidnische Gottesdienst im Opfer nicht nur seine 
Krone fand, sondern geradezu aus ihm bestand, so daß das Ge— 
bet eine bloße Begleiterscheinung desselben war, so schätzte man 
das Menschenopfer als die höchste kultische Handlung, den magi⸗ 
schen Ausdruck der Gemeinschaft des Menschen mit der Gottheit. 
— Den viehzuchttreibenden Völkern war das Rind, bisweilen das 
Pferd, Münzeinheit. Mit diesen Tieren kaufte man sich von der 
Gottheit los, wie man mit ihnen selbst die schwere Schuld des 
Mordes sühnen konnte. Eine solche Grundidee des ganzen Ri— 
tus macht allein die überaus wichtige Tatsache verständlich, daß 
man bei allen antiken Völkern nur diejenigen Tiere opferte, die 
einen Tauschwert hatten; ferner, daß das Opfer als um so größer 
und kostbarer galt, je wertvoller das dabei hingeschlachtete Tier 
war, und daß die Tötung von verkrüppelten oder jungen, auch 
weiblichen Wesen nicht als vollwertig angesehen wurde — Wir 
sehen, daß es der früheren Zeit mit ihrem Streben, sich mit der 
Gottheit oder richtiger mit dem Schicksal — denn die bloße blinde 
Furcht vor irgendeinem Unheil konnte ja genügen, ein Opfer zu 
erheischen — ins Einvernehmen zu setzen, heiliger Ernst war. 
Der Modus der Vollziehung des Ritus war aber je nach dem 
Zwecke, den das Opfet verfolgte, natürlich ein verschiedener. 
Unsere Betrachtung lehrte, daß die bloße Furcht vor einer 
Gefahr den einzelnen dazu treiben konnte, ein anderes Wesen zum 
Zwecke der eigenen Rettung in sakraler Form zu töten. Dem 
Jäger „Tod“ sollte seine Beute im voraus in das Netz getrieben 
werden, um künftigem Unheil zu wehren. Deshalb wurde in Ost— 
preußen einem Verstorbenen, der als Nachzehrer die Pest verur⸗ 
sacht zu haben beschuldigt wurde, ein lebendiger Hund ins Grab 
mitgegeben. Das Tier sollte die Seuche in die Vernichtung ent— 
führen. In vielen Fällen werden noch heute zu dem gleichen 
Zwecke kleine, lebende Tiere in die Hand genommen und lang⸗ 
sam totgedrückt. Namentlich ist dies z. B. bei dem Maulwurf und 
der Fledermaus der Fall. Bei diesem ganzen Komplex von sa— 
kralen Handlungen gelten als allgemeinste Kennzeichen: neben 
der freien Auswahl der Opferwesen (sogar Wolf und Hund sind 
als Leichenräuber gestattet) die Vorliebe für Tiere mit schwarzem 
Fell (Rappe, schwarzer Widder), die nächtliche Zeit ihrer Voll— 
ziehung und ihre Darbringung durch ein einzelnes Indivi—
	        
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