Full text: Sämmtliche Märchen

—560 
wo sie auf den Meereswellen schaukelte, ein Geheimniß, einen Brief, einen 
Abschiedsseufzer in sich getragen hatte. 
Volle zwanzig Jahre stand sie auf dem Boden; sie hätte noch länger 
dort stehen können, hätte das Haus nicht umgebaut werden sollen. Das 
Dach wurde aber abgetragen, man bemerkte die Flasche und sprach von 
ihr, allein sie verstand die Sprache nicht; die lernt man nicht dadurch 
daß man auf dem Boden steht, selbst in zwanzig Jahren nicht. „Wäre 
ich unten in der Stube geblieben,“ meinte sie zwar, „hätte ich sie doch 
wohl gelernt!“ 
Sie wurde nun gewaschen und ausgespült, es that ihr Noth; sie 
fühlte sich klar und durchsichtig, sie war wieder verjüngt auf ihre alten 
Tage, aber der Zettel den sie treu getragen, — der war in der Wäsche 
daraufgegangen. 
Man füllte die Flasche mit Sämereien, sie wußte viel, was das eigentlich 
war; man pfropfte sie zu und wickelte sie gut ein; sie bekam weder Licht 
noch Laterne, geschweige denn Sonne und Mond zu sehen, und Etwas muß 
man doch sehen, wenn man auf Reisen geht, meinte sie; aber sie sah Nichts, 
doch das Wichtigste that sie, — sie reiste und gelangte an den Ort ihrer 
Bestimmung und wurde dort ausgepackt. 
„Was sie sich dort im Auslande mit der Flasche für Mühe gegeben 
haben!“ — hörte sie sagen — „und sie wird doch wohl zerbrochen sein!“ — 
aber sie war nicht zerbrochen. Die Flasche verstand jedes Wort, welches 
gesprochen wurde, es war die Sprache, die sie am Schmelzofen und beim 
Weinhändler und im Walde und anuf dem Schiffe vernommen, die einzige 
gute, alte Sprache, die man verstehen könne; sie war zurückgekommen in ihre 
Heimath, und die Sprache war ihr ein Gruß des Willkommens. Vor Freude 
wäre sie beinahe den Leuten aus den Händen gesprungen; sie bemerkte es 
kaum, daß ihr der Pfropfen ausgezogen, daß sie selbst ausgeschüttet und in 
den Keller getragen wurde, um dort aufgehoben und vergessen zu werden. 
Die Heimath ist doch der beste Ort, selbst im Keller! Es fiel ihr nie ein, 
darüber nachzudenken, wie lange sie wohl dort liege; sie lag gut und lag 
Jahre lang; endlich kamen Leute herab, die alle Flaschen aus dem Keller 
und auch die unsere holten. 
Draußen im Garten war ein großes Fest; flammende Lampen hingen 
dort als Guirlanden, papierne Laternen strahlten wie große Tulipanen in 
Transparenten. Es war ein herrlicher Abend, das Wetter still und klar; 
die Sterne flimmerten, und es war Neumond, eigentlich erblickte man den
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.