Full text: Sämmtliche Märchen

den Sack!“ und ehe er es sich versah, hatte sie den Südwind um den 
Leib gefaßt und in den Sack gesteckt. Er wälzte sich umher auf dem Fuß⸗ 
boden, aber sie setzte sich darauf und da mußte er ruhig liegen. 
„Das sind muntere Knaben, die Du hast!“ sagte der Prinz. 
„Ja wohl,“ antwortete sie, „und ich weiß sie zu züchtigen! Da 
haben wir den vierten!“ 
Das war der Ostwind, der war wie ein Chinese gekleidet. 
„Ach! kommst Du von jener Gegend?“ sagte die Mutter. „Ich 
glaubte, Du wärest im Garten des Paradieses gewesen.“ 
„Dahin fliege ich erst morgen!“ sagte der Ostwind. „Morgen sind 
es hundert Jahre, seitdem ich dort war! Ich komme jetzt aus China, wo 
ich um den Porzellanthurm tanzte, daß alle Glocken klingelten. Auf der 
Straße bekamen die Beamten Prügel; das Bambusrohr wurde auf ihren 
Schultern zerschlagen, und das waren Leute vom ersten bis zum neunten 
Grade. Sie schrieen: „„Vielen Dank, mein väterlicher Wohlthäter!““ 
Aber es kam ihnen nicht vom Herzen, und ich klingelte mit den Glocken 
und sang: Tsing, tsang, tsu!“ 
„Du bist muthwillig!“ sagte die Alte. „Es ist gut, daß Du mor— 
gen in den Garten des Paradieses kommst; das trägt immer zu Deiner 
Bildung bei. Trinke dann tüchtig aus der Weisheitsauelle und bringe 
eine Flasche voll für mich mit nach Hause!“ 
„Das werde ich thun!“ sagte der Ostwind. „Aber weshalb hast 
Du meinen Bruder vom Süden in den Sack gesteckt? Heraus mit ihm! 
Er soll mir vom Vogel Phönix erzählen; von ihm will die Prinzessin im 
Garten des Paradieses stets hören, wenn ich jedes hundertste Jahr 
meinen Besuch abstatte. Mache den Sack auf, dann bist Du meine süßeste 
Mutter, und ich schenke Dir zwei Taschen voll Thee, so grün und frisch, 
wie ich ihn an Ort und Stelle gepflückt habe!“ 
„Nun, des Thee's wegen und weil Du mein Herzensjunge bist, will 
ich den Sack öffnen!“ Das that sie, und der Südwind kroch heraus; aber 
er sah ganz niedergeschlagen aus, weil der fremde Prinz es gesehen hatte. 
„Da hast Du ein Palmblatt für die Prinzessin!“ sagte der Süd⸗ 
wind. „Dieses Blatt hat der Vogel Phönir, der einzige, der in der 
Welt war, mir gegeben! Er hat mit seinem Schnabel seine ganze Lebens- 
beschreibung, die hundert Jahre, die er lebte, hineingeritzt. Nun kann sie 
es selbst lesen, wie der Vogel Phönir sein Nest in Brand steckte und darin 
saß und verbrannte, gleich der Frau eines Hindu. Wie knisterten die
	        
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