Nr. $8
Sonnabend, den 13. April.
1935
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128- Jahrgang.
Schleswig-BoLsiernLsiHL
128. Jahrgang.
Lairdeszeitun
Renösburger Tageblatt
Gedanken zur Zeitgeschichte.
Europäsche Geschichte und europäisches Zeitgeschehen
Wenn man die gegenwärtigen politischen
Vorgänge, die von Konferenz zu Konferenz
führen, außer Sicht tagespolitischer
Ereignisse betrachten will, muß man
immer wieder versuchen, die geschichtlichen
Vorgänge in der größeren Perspektive ge
samteuropäischer Jahrhunderte - Entwick
lung zu sehen. Sie hat zwangsläufig
zu dem Umbruch geführt, der durch den
Weltkrieg eingeleitet wurde und Europa
zu einer Ordnung zwingt, die auf neuen
Wegen neuen Zielen zustrebt. Die folgen
den Betrachtungen sollen unseren Lesern
abseits der großen Tagespolitik etwas von
diesen größeren Zusammenhängen in einem
Augenblick vermitteln, wo alter und
neuer europäischer Gei st sich
über Stresa und Genf auseinandersetzen.
Im gewöhnlichen Leben ist der dem Werktag
hingegebene Mensch sich wohl selten dessen
^ bewußt, daß das politische und soziale Leben
im letzten Grunde doch weltanschaulich be
stimmt ist. Die Wertungen des bürgerlichen
Moralkodex', die Rechtsauffassungen und alles
das, was im täglichen Leben damit zusammen
hängt, werden immer irgendwie durch eine
innere Haltung bestimmt,' aber erst im Zeichen
großer, das Gesamtleben einer Nation berüh
render Umwälzungen kommt diese Tatsache zu
klarem Bewußtsein. Und dies ist heute wohl
auf dem ganzen Erdball der Fall. Ganz gleich,
wie das große Ringen von 1914 bis 1918 sich
zunächst auf das politische Geschehen der ver
schiedenen Völker und Staaten auswirkte, eine
Erscheinung beherrscht jedenfalls in zuneh
mendem Maße alle etwas tiefer blickenden
Geister: die Erkenntnis nämlich, daß nach ei
nem solchen welterschütternden Ringen die
Menschen nicht mehr einfach in ihr gewöhnli
ches Dasein zurückkehren könnten, als sei nichts
geschehen. Fast jede Nation des Erdballes ist
durch die großen Kämpfe des Weltkrieges un
mittelbar beteiligt gewesen, oder wurde doch
mit allen ihren Interessen in Mitleidenschaft
gezogen. Millionen und Abermillionen Men
schen sehen sich einem gewaltigen Schicksal
gegenüber, das scheinbar plötzlich über sie alle
hereingebrochen war und so ganz andere Fra
gen stellte, als man es jahrzehntelang gewohnt
war.
Die Welt lebte vor 1914 in einer optimisti
schen Stimmung dahin. Zwar sahen die Ver
antwortlichen in allen Staaten, daß immer
neue Gewitter sich am politischen Horizonte
sammelten, aber auch unter den Staatsmän
nern glaubten viele — da sich diese Wolken
mehrfach zerstreuen ließen —, daß auch in Zu
kunft das politische System eines Ausgleichs
von Tag zu Tag siegen werde.
Aber wie die gesamte Natur, so hat sich auch
das Leben der Völker und Rassen nicht auf
den geraden Bahnen einer Logik bewegt, son
dern hat die viclverschlungenen Wege der
Willensregung und der L e i d e n s ch a f-
ten eingeschlagen. Diese unberechenbaren
Elemente sind es gewesen, die schließlich die
Weltkatastrophe auslösten. Was heute, wie
mir scheint, jedoch zu erkennen notwendig ist,
I ist die Tatsache, daß mit dem Jahre 1914 nicht
ein großer militärischer Zusammenstoß allein
' seinen Anfang nahm. sondern daß in diesen
August-Tagen eine ganze alte Welt zusammen
zustürzen begann. Denn wenn Völker und
ihre Lenker nicht imstande waren, einen Zu
sammenstoß derartigen Umfanges zu verhin
dern, dann erscheint uns das als ein schlüssi
ger Beweis dafür, daß die sozialen Kämpfe,
daß die Tendenz der internationalen Welt
wirtschaft, daß das gesellschaftliche Gefüge der
Nationen nicht mehr kräftig genug waren, um
eine zielsichere Friedenspolitik zu gewährlei
sten, sondern daß durch Rücksicht auf chaotische
Massenstauungen von unten, ans politische
Leidenschaften und Wirtschaftskreise soviel
Rücksicht genommen werden mußte, daß das
Regierungssteuer vielfach der Hand der
Staatsmänner entglitt und die Welt einem
Zusammenprall entgegentaumelte, ans dem sie
dann erst viel später, nach Verbrauch heroi
scher Kräfte und ungeheurer Opfer,. wieder zu
sich selbst zu kommen begann.
Es versteht sich von selbst, daß diese Selbst
besinnung und Kritik an Gegenwart und Ver
gangenheit zuerst dort lebendig werden mußte,
wo durch das militärische und politische Un
terliegen in dem Ringen die Probleme viel
krasser ins Auge traten, als in jenen Staaten,
die zunächst von den materiellen Früchten des
Kriegserfolges weiterleben konnten. Alle die
Gärungen, wenn auch mit sehr verschiedenen
Vorzeichen, in Rußland, Ungarn, Deutschland,
der Türkei, sie sind für jeden aufmerksamen
Beobachter der Weltpolitik nur zu deutliche
deutliche Anzeichen für den anfangs ge
nannten Zerfall ei ne r alten Welt
und für ein Bemühen, so oder so, sich eine
andere Welt zu schassen. Der Grund für diese
Tatsache liegt dabei nicht so sehr in der logi
schen Erkenntnis des Zweckmäßigen oder Un
zweckmäßigen, als in der einen inneren Cha
rakterwendung, die zu der Gegenwart wie zu
der Vergangenheit gerichtet erklärte: „Wir
w o l le n nicht mehr!"
Diese Abkehr des Inneren ist schwerwiegen
der als alles andere und kann durch keinerlei
Verstandesgründe ans der Welt geschafft wer
den. Die Willensabkehr oder die neue Wil-
lenszukeyr einer Nation ist der entscheidende
Grund für den gesamten Aufbau oder für die
Zerstörung und in der Tatsache der Zusam I
menfassung der verschiedensten Willenskräfte
Die europäische Außenpolitik wurde in die
ser Woche beherrscht von den Gesprächen in
Stresa. Mag man die Bedeutung dieser Ge
spräche hoch oder niedrig einschätzen, so wird
man doch auf keinen Fall leugnen können, daß
die Stresakonferenz ein Glied in einer Ent
wicklung ist, die von außerordentlicher Wich
tigkeit für die Zukunft Europas sein wird.
Schon wird von einem regelrechten Bündnis
zwischen Frankreich und Rußland gesprochen,
es ist also nicht ausgeschlossen, daß Europa
tatsächlich eines Tages vor der Bildung von
Blocken steht, wie sie von der englischen Oef-
fentlichkeit als überaus unerwünscht und ge
fährlich bezeichnet worden sind. Daß eine Block
bildung in der Form, wie sie allem Anschein
nach von Frankreich angestrebt wird, nichts,
aber auch garnichts mit den zweiseitigen Nicht
angriffspakten, die von Deutschland an Stelle
eines Kollektivpaktsystems vorgeschlagen wor
den sind, zu tun hat, braucht kaum besonders
betont zu werden. Man kann also in der Tat
nur hoffen, daß das, was auf Stresa folgt, in
eine andere Richtung weist und eine Ordnung
der europäischen Dinge ermöglicht, die unter
dem Grundsatz der Freiheit und Gerechtigkeit
allen europäischen Nationen das Leben so leicht
wie möglich macht.
*
Leider fallen auch Ereignisse, die den Frei
staat Danzig angehen, formell unter die Ru
brik „Außenpolitik". Aber eben nur formell,
denn die Danziger Wahlen haben bewiesen,
daß Danzig nicht nur deutsch ist, woran noch
niemand außer den „großen Vier" der Ver
sailler Konferenz gezweifelt hat, sondern sich
auch in seiner Mehrheit zu dem nationalsozia
listischen Deutschland bekennt. Tie ausländi
schen Zeitungen, die die Wahlen im Freistaat
in Parallele zu der Saarabstimmung stellten
und daher zu völlig falschen Schlüssen kamen,
„vergessen" leider die Tatsache, daß nach
Deutschland zum erstenmal in einem „anderen
Staat" eine Partei unter den schwierigsten
Umständen eine kompakte Mehrheit von bb
dürfen wir wohl heute den Schwerpunkt des
weltpolitischen Geschehens erblicken.
In einer bestimmten Willenshaltung er
blicken wir auch das, was wir mit dem Worte
„Weltanschauung" bezeichnen. Dieses Wort,
das in manche Sprachen schwer sinngemäß zu
übertragen ist, bedeutet zunächst nichts weiter,
als was es aussagt: eine bestimmte Art, die
Welt anzuscheien, d. h. eine klar erfaßbare, nach
außen tretende innere Haltung der Seele, des
Geistes und des Charakters. Die eine innere
Wendung, eine Bejahung oder Verneinung
entscheidet, millionenfach ausgesprochen, den
Lebensstil, das Staatsgefüge, die Rechtsnor
men einer Rasse oder eines Volkes. Diese
Haltung ist somit das Elementare und Ent
scheidende. Setzt sie sich auf allen Gebieten des
Lebens durch, dann wird man von einer in
sich geschlossen, einheitlichen Nation, von einer
Einheit von Staat, Volk und Weltanschauung
sprechen können.
Weltanschauung ist also nicht ohne
weiteres gleichzusetzen mit Religion, sie
kann diese aber umfassen. Eine Weltanschau
ung kann von der Religion her maßgebend be
stimmt werden vom Kunst-, vom Kulturwil
len einer Nation. Die Weltanschauung eines
Volkes ist also das Umfassende, das alles Cha
rakterisierende, wenn sie wirklich tief und echt
ist. Sic ist damit aber in ihrem Gehalte weit
räumig genug, verschiedenste geistige und see
lische Temperamente zu beherbergen.
Die Haltung verschiedener Völker und gro
ßer Einzelpersönlichkeiten weltanschaulichen
Prozent erzielen konnte. Wenn man überhaupt
Parallelen ziehen will, wäre es angebracht,
vielleicht an Oesterreich zu denken, dessen jetzige
Lenker allerdings mit gutem Grund einer
Volksbefragung aus dem Wege gehen.
*
Unter dem Eindruck der europäischen Ereig
nisse standen in dieser Woche auch die außer
europäischen Länder, zu denen man auch Ruß
land zu rechnen hat. Die Sowjets haben mit
Deutschland einen Wirtschaftsvertrag abge
schlossen, demzufolge sie aus Deutschland über
den durchschnittlichen Warenaustausch hinaus
für 200 Millionen Fertigwaren beziehen wer
den. Trotz der weit fortgeschrittenen Indu
strialisierung kommt Rußland immer noch nicht
ohne ausländische Jndustrieerzeugnisse aus,
und wenn es vor einigen Monaten eine Reihe
mechanischer Webstühle an die Türkei geliefert
hat, so war das nicht viel mehr als eine De
monstration, mit der die Sowjets der Welt
zeigen wollten, daß ihre Maschinenfabriken
nicht ausschließlich Potemkinsche Trugbilder
sind. Vorläufig können die Sowjets noch nicht
annähernd daran denken, als ernstzunehmeu-
der Konkurrent der alten Industrieländer auf
dem Weltmarkt aufzutreten. Noch reicht ihre
Eigenproduktion nicht einmal aus, ihre Eisen
bahnen instand zu halten. Die Zahlen, die
kürzlich über den Zustand der russischen Bah
nen von der Sowjetpresse selbst bekanntgegeben
wurden, sind geradezu erschütternd. Und dabei
ist ein geordneter Bahnbetrieb für ein Riesen
reich wie Rußland aus wirtschaftlichen und
politischen Gründen überhaupt die Voraus
setzung für den industriellen Aufbau des
Landes.
*
In den Vereinigten Staaten wurde in die
ser Woche das große Notstandsgesetz unter
zeichnet, durch das 4,8 Milliarden Dollar zur
Behebung der Arbeitslosigkeit zur Verfügung
gestellt werden. Die Summe scheint gewaltig.
Sie verliert aber viel von ihrem imponieren
den Eindruck, wenn man daran denkt, daß in
schaftlicher, kultureller Art, hat nicht nur das
gedankliche, sondern auch das politische Leben
durch alle die vielen Jahrhunderte entscheidend
mitbestimmt.
Alle Strömungen und Tendenzen der abend
ländischen europäischen Geschichte, fast in jedem
Jahrhundert durch Neuverwicklungen ver
mehrt, stauten sich am Ende des 19. Jahrhun
derts zusammen. Ein Paul de Lagarde, ein
Richard Wagner fühlten eine Welt vergehen
und hofften auf die Geburt einer neuen. In
Rußland zeichnet Dostojewski in großen
Schattenrissen den Untergang Rußlands. Und
weil das Gefühl der größten Unsicherheit über
all lebendig war, fanden gerade diese Stellen
der gezeichneten Gestaltlosigkeit Widerhall in
den Metropolen der Weltstaaten. Und Ruß
land zerfiel, um jenen Bestrebungen zu einem
Siege zu verhelfen, die Dostojewski in den
„Brüdern Karamasoff" und in den „Dämo
nen" prophetisch vorhergesagt hatte. Der Kom
munismus siegte in Rußland entgegen aller
sozialen Theorie, nicht durch eine proletarische
Massenorganisation der Städte, sondern durch
den Umbruch eines niederwürfe-
nen Willens unter dem Hauche eines
wilenskräftigeren, nicht europä
ischen Charakters.
Beim Ueberblicken dieser verschiedensten, sich
oft gegenseitig scheinbar todfeindlich gegen
überstehenden Weltanschauungen haben sie alle
doch eine gemeinsame Gebärde. Die gehen alle
aus von einer bestimmten Doktrin, sei diese
nun religiöser oder wissenschaftlicher oder so
zial-ethischer Natur. Sie stellen auf Grund die
se entscheidenden Glaubensbekenntnisses ein
Programm ans, sammeln die Gläubigen dieses
Programms und bemühen sich, nunmehr mit
allen zur Verfügung stehenden politischen und
militärischen Kräften, dieses doktrinäre Pro
gramm zu verwirklichen. (Schluß folgt.)
den USA. nicht weniger als 22 Millionen
Menschen ausschließlich von Unterstützungen
leben. Auf jeden Unterstützten entfallen also
nicht viel mehr als 200 Dollar. Damit läßt sich
die Arbeitslosigkeit voraussichtlich nicht „be
heben", zumal alle bisherigen Versuche der
Wirtschaftsankurbclung mehr oder weniger
fehlgeschlagen sind.
Allerdings ist der Vorschlag, den kürzlich der
frühere Präsident Hoover machte, auch wohl
kaum diskutabel, wenigstens nach deutschen
Begriffen. Hoover wollte oder will wahrschein
lich auch heute noch durch eine Massenaktion
das Elend der Arbeitslosigkeit bekämpfen. Nach
dem Muster der Hilfsaktionen für Belgien und
Rußland während des Weltkrieges soll das
gesamte amerikanische Volk den Arbeitslosen
helfen.
Etwas anderes war an der Rede, in der
Hoover mit seinem Plan herauskam, interes
sant. Der frühere Präsident übte, wenn auch
vorsichtig und höflich, eine deutliche Kritik an
der N.R.A.-Politik Roosevelts und wurde da
für von seinem Auditorium mit starkem Bei
fall belohnt. Hat Roosevelt in der Tat schon
viel von der Popularität verloren, die er zwei
fellos im Anfang seiner Präsidentschaft be
sessen hat? Eindeutig wird diese Frage erst
durch die Präsidentenwahlen im nächsten Jahr
beantwortet werden, für die Roosevelt wieder
kandidieren wird.
* ♦ *
Eine europäische Konferenz in London?
DNB. Paris, 13. April. (Eig. Funkm.) Der
außenpolitische Berichterstatter des „Petit
Journal" in Stresa glaubt zu wissen, daß dem
nächst eine allgemeine europäische Sicherheits
konferenz nach London einberufe» werden
würde. An ihr würden Deutschland, Frank
reich, England, Italien, Sowjet-Rußland,
Polen und die Kleine Entente teilnehme«.
Fragen gegenüber, gleich ob religiöser, wissen-
3m Schatten von Stresa.
Parallelen zu Danzig. — Rußland kauft ein. — Ueberlebte N.R.A.-Politik.