125. Jahrgang / Nr. 177
Beilage der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (Rendsburger Tageblatt)
Sonnabend, den 30. Juli 1932
Sonrrlagsgeöanken.
Wenn doch auch du erkenntest zu dieser
deiner Zeit, was zu deinem Frieden
dienet.' (Luk. 19 V. 42.)
Wer nicht in blindem Parteieifer, sondern mit
einigem Nachdenken und mit ernstem Verantwor
tungsbewußtsein zur Reichstagswahl schreitet, den
wird die Frage tief bewegen: Was dient zu unsers
Volkes Heil und Bestem? Man hört die verschie
densten Antworten. Jede Partei preist ja ihr Pro
gramm als das wahre Heilmittel für alle Schaden
an. Wer ^hat recht? Man wird über wirtschaftliche,
soziale und politische Fragen verschieden urteilen
können. Deshalb wäre es verkehrt, wollte man
namens der Kirche oder des Christentums eine be
stimmte Parole ausgeben. Aber eins brennt uns
doch auf der Seele, daß nämlich zur tiefsten Be
friedung kein rein irdisches Programm hinreicht,
daß für die Schäden unsers Volkes kein Mittel
ausreicht, das nicht auch die Seele berührt und
bewegt.
Ob ein Mensch an sich und für die Gesamtheit
etwas wert ist, hängt doch letztlich immer von sei
nem Charakter ab. Diesen aber zu prägen, einen
Menschen gut, gütig, wahrhaftig, ehrlich, fest, treu,
züchtig, selbstbeherrscht zu machen, vermag weder
Reichtum noch Wissen, weder Macht noch das, was
man gemeinhin Bildung nennt. Dazu bedarf es
tieferer Quellen. Man braucht innere Kräfte, um
Kinder richtig zu erziehen, innere Kraft, um sich
rls junger Mensch durch die Versuchungen des Le
bens hindurchzufinden, innere Stärke, um mit den
Mühsalen und Sorgen, den Widrigkeiten und Lei
den des Lebens fertig zu werden. Dasselbe gilt für
alle Gebiete, wo Menschen zusammenleben, ein
ander dienen, mit einander auskommen sollen.
Wollte man z. B. eine Ehe nur auf das sinnliche
Wohlgefallen oder auf Reichtum und Stellung
gründen, wie bald ginge das Eheglück in Scherben.
— Kein Arbeitsverhältnis kann der sittlichen Bin
dungen, Treue, Zuverlässigkeit, Vertrauen usw.
entbehren, oder es gibt fortwährend Reibungen.
•— Die sozialen Ausgleiche wird kein Gesetzgeber
schaffen, wenn nicht wirklich sozialer Geist, eine
Gesinnung wahrer Achtung und Nächstenliebe vor
handen ist u. s. f. Daher so viel Versagen, so bit
tere Enttäuschungen, weil man diese inneren Sei
ten immer übersieht. Wollen wir darum unserm
Volke aufhelfen, brauchen wir innere Kraft. Die
beste Quelle für diese ist aber echte Frömmigkeit.
Daher: Hin zu Gott! Wer das nicht klar auf seine
Fahne schreibt, wer dem gar widerspricht, weiß
nicht, „was zum Frieden dient". Das wäre also
mahl ein Maßstab, den ein Christ auch zum Wahl
tisch mitnehmen könnte. Wir müssen aber noch
tiefer graben.
Nicht Wahlentscheidungen, nicht Programme
schaffen christliches Leben. Geist Christi kommt nur
aus Gottes Wort. Das fordert nun von uns
zweierlei: Kirche und Frömmigkeit.
Wohl deckt sich das, was wir gemeinhin unter
„Kirche" verstehen, nicht ohne weiteres mit dem,
was innerstes frommes Christentum ist. Aber die
Kirche ist doch die normale Vertreterin des Wortes
Gottes, und trotz aller Menschlichkeiten bleibt sie
doch der größte und allgemeinste Kanal, durch den
christlicher Geist in unser Volk hineingeleitet wird.
Könnte der einzelne zur Not fromm sein ohne
Kirche, ein Volk kann es nicht. Um unsers Volkes
willen müssen wir die Kirche wollen. Dazu gehört
aber dann auch, daß wir nicht nur die Kirche im
Programm unserer Forderungen führen, sondern
daß wir durch unsere Teilnahme z. V. am sonntäg
lichen Gottesdienst und sonstigen kirchlichen Leben
beweisen, daß es uns um unsere Kirche ernstlich zu
tun ist. Man darf nicht nur an die Kirche Forde
rungen stellen, sondern hat ihr gegenüber auch
Pflichten.
Allein nicht bloße Kirchlichkeit ist das Letzte und
Wesentliche, sondern innerliche wahre Frömmig
keit. Weil diese oft genug bei Leuten fehlt, die den
Christennamen tragen, hält und erklärt mancher
alles, was sich christlich nennt, für Heuchelei. Das
„Halb und Halb", das in unsern Privatverhält-
nissen, in unserm Geschäfts- und Eesellschaftsleben
leider so gewöhnlich, ist vor Gott und Menschen
unerträglich. Dringen wir durch zu heiliger Ent
schiedenheit! So dienen wir uns und unserm Volk
„zum Frieden".
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Gerade jetzt, während ich in die Arbeit ver
lieft dasitze, flammt im Nordwesten ein feuer
roter Sonnenuntergang. Der Tag war regne
risch und grau gewesen, aber eben erst zeigte
sich ein schmaler Streif klaren Himmels unten
am Horizont. Er kam gerade noch zur rechten
Zeit, damit ich einen Schimmer des Sonncn-
balls erhaschen konnte, bevor er hinter den
blauen Höhen versank. Jetzt benützen ihn die
Sonnenstrahlen, um zu den Wolkenrücken
emporzugleiten und sie mit Blut und Purpur
zu umrahmen. Das ganze Firmament nimmt
sich wie eine ungeheure graue Seidcnbahn aus,
mit Rot gerändert. Zu unterst, vor allem in
der Nähe der Stelle, wo die Sonne eben ver
sank, ist das Rot vorherrschend, da laufen die
roten Streifen so dicht zusammen, daß der
graue Grundton verschwindet. Höher oben
wird die Moirierung spärlicher, und im Zenit
sieht man nur ein paar rote Spritzerchen. Der
große Pinsel, der die ganze Himmelswölbung
malen zu wollen schien, ist zu verschwenderisch
gewesen. Die Farbenschale ist schon geleert.
Für die östliche Himmelswölbung bleibt nichts
übrig.
Die Glut uud der Strahlenglanz haben
mich verlockt, die Feder hinzulegen und an das
Fenster zu treten. Aber mit einem kleinen
Seufzer kehre ich bald zum Schreibtisch zu
rück. Ich mußte daran denken, daß es denen,
die mit Feder und Tinte arbeiten, fast nie ge
lingt, eine solche Herrlichkeit zu beschreiben.
Man mag sein Allerbestes tun, es kommt doch
äußerst selten vor, daß man das Interesse des
Lesers zu fesseln vermag. Denken Sie sich,
daß Sie in einem Buch auf eine lange Be
schreibung eines Sonnenuntergangs, einer
Abendröte stoßen. Gestehen Sie ehrlich, daß
Sje sie am liebsten überspringen. So mache
ich es wenigstens.
Der Fehler muß jedoch irgendwie an dem lie
gen, der dies schildert. Etwas so Bezaubern
des wie eine Abendröte muß sich so beschrei
ben lassen, daß sie dasselbe Entzücken wie
beim Beschauen auslöst. Es läßt sich schon
machen, aber es gilt die rechte Art zu finden.
Ich erinnere mich, daß zu der Zeit, als ich
als Lehrerin in Landskrona lebte — also vor
etwa fünfunddreißig Jahren — im Südschwe
dischen Tagblatte eine Folge von Naturschil
derungen erschienen, die die größte Bewun
derung aller Leser erregten. Sie waren selten
mehr als eine Spalte lang, überaus konzen
triert und mit einer erstaunlichen Sicherheit
und Eleganz geschrieben. Sie erschien anonym,
aber es war leicht zu sehen, daß der Verfasser
wissenschaftliche Bildung besaß. Und doch schil
derte er keine fremden Weltteile und Länder,
er gab nur jede Woche eine Uebersicht über
die Witterung und die Vegetation eines Land
striches an der Oeresunöküste. Er verfolgte
das Auftauchen der Wiesenblumen, er zählte
sie auf, so wie sie sich im Frühling zeigten
oder im Herbst verschwanden, er kündigte die
Ankunft der Zugvögel an, er behielt die
Kriechtiere und Insekten der Erde im Auge,
sowie die Quallen, Seesterne und Krabben, die
an den steinigen Strand gespült wurden. Vor
allen Dingen aber beschäftigte sich der Ano
nymus mit der Himmelswölbung, den Wol
ken, den Regenbogen, den Gewittern und den
Sonnenuntergängen.
Alles ließ darauf schließen, daß er sich in
der Helsingborger Gegend aufhielt, also nur
einige wenige Meilen nördlich von Lands
krona. Man konnte sagen, daß derselbe Him
mel sich über ihm wölbte wie über uns, daß
dieselben Wolkenbildungen über seinem
Kopfe öahinstrichen wie über unserem.
Aber dennoch griff man jedesmal eifrig nach
der Zeitung, wenn einer seiner Artikel darin
stand, um von Regenschauern oder Feöerwölk-
chen oder von den Farbenschattierungen der
Abendröte zu lesen. Wir hatten ja genau das
selbe gesehen, aber wir hatten nicht heraus
gefunden, wie merkwürdig, wie interessant
alles war, ehe dieser Mann uns die Augen
öffnete.
Haben Sie den Sonnenuntergang an die
sem und diesem Abend beobachtet, konnte er
fragen, und darauf folgte ein ganzes Drama.
Eine Wolke zog auf, wurde beschrieben, in
Positur gestellt, dann kam eine zweite, eine
dritte, eine vierte, bis der ganze Abenöhim-
mel von einer drohenden Wolkenburg umge
ben war. Wenn sie glücklich zur Stelle und
geordnet waren, begann das Spiel der Strah
len, Farbe ging in Farbe über, sie kämpften
und wurden besiegt. Das Wasser des Sunds
und die schöne dänische Küste bekamen auch
ihr Teil von den Schattierungen und Stim
mungen ab, nicht eine Nuance des ganzen
Schauspiels ging dem Leser verloren.
Man erkannte ja alles wieder, aber das
Bild ward um so viel reicher und klarer, als
unsere eigenen Sinne es zu erfassen vermocht
hatten.
Man darf sich nicht denken, daß diese Schil
derungen poetisch im hergebrachten Sinne
waren. Der Anonymus bediente sich weder
großartiger Bilder noch hoher, klingender
Worte. Seine Zaubermacht bestand in etwas
ganz anderem. Er zwang einen das, wovon
er sprach, zu erleben. Er nahm uns mit hin
aus ins Freie. Man fühlte sich von der Abend-
brise umfächelt. Man hatte die Regenschauer
oder die Gewitter dicht über sich. Man schaute
mit seinen eigenen Augen diesen violetten
oder bronzegrünen oder zitronengelben oder
goldenen Sonnenuntergang.
Aber dies, daß wir sozusagen an seinen
Wanderungen teilnahmen, daß wir gleichsam
an seiner Seite Muscheln und Pflanzen sam
melten, machte es wohl, daß wir gerne ge
wußt hätten, wer er war. Wir nahmen so
eifrig an seinen kleinen Freuden teil, wir
waren stolz auf seine Entdeckungen! Wer war
er denn, dieser Mann der Wissenschaft mit der
gewandten Feder, dieser Sonnenuntergangs-
Anbeter, dieser Wortmaler?
Es konnte eigentlich nicht schwer sein, die
Lösung des Rätsels zu finden. Nur auf ganz
wenige Menschen konnte ja die Beschreibung
passen: wissenschaftlich geschulter Beobachter,
künstlerisch ausgebildeter Schriftsteller, auf
dem Lande ansässig, in der Nähe von Helsing
borg.
Aber wie wir auch nach ihm fahndeten, der
Mann war nicht zu entdecken.
Da halfen wir uns selbst. Wir nahmen an,
daß der Unbekannte jung war, er hatte sich
noch keinen Namen machen können, deshalb
konnte man ihn nicht aufspüren. Und wir
dachten ihn uns als einen neuen Linnê, fröh
lich, schön, strahlend und genial. Wir waren
überzeugt, daß wir bald von ihm reden hören
würden. Wenn er fertig war, wenn er in der
ihm eigenen lebensvollen Art das Ergebnis
seiner Forschungen darlegte, dann würde un
ser Land einen neuen großen Gelehrten ha
ben, auf den es stolz sein konnte.
So hofften wir im stillen, als auf einmal die
Artikel ganz aufhörten. Einige Tage nachher
erzählte das Südschwedische Tagblatt, daß der
Anonymus, der die vielbeachteten Artikel aus
der Helsingborger Gegend geschrieben hatte,
gestorben war.
Die Zeitung brachte auch einige kurze bio
graphische Daten. Der Mann mit der wissen
schaftlichen Schulung, der eleganten Darstel
lungsweise war ein alter ehemaliger Student.
Er hieß Frederikson und hatte wohl nie daran
gedacht, daß dieser Name irgendwelche Be
rühmtheit erlangen könnte. Eine Zeitlang
hatte er in Lund studiert, aber die Hochschule
verlassen, ohne Prüfungen abzulegen. In spä
teren Jahren war er, wie man sagt, men
schenscheu geworden; überaus arm, wie er
war, und ungeneigt, jemandes Hilfe in An
spruch zu nehmen, hatte er in der letzten Zeit
in einer verlassenen Hütte irgendwo am Sund
gehaust. Es sah beinahe aus, als glaubte die
Zeitung, daß er Hungers gestorben war.
Also der Meister der schönen Sonnenunter
gänge war kein neuer Linnê. Wir hatten ihn
uns als einen ruppigen, alten, verbummel
ten Studenten zu denken, menschenscheu und
herabgekommen.
Sein einziger Umgang war die große, freie
Natur gewesen, seine einzige Freude hatte
darin bestanden, dem Wechsel der Jahreszei
ten zu folgen. Die einzige Herrlichkeit, die er
vor Augen gehabt hatte, war die der Abend
röte gewesen. Ein schöner Sonnenuntergang
hatte das große Ereignis in seinem armen
Leben bedeutet.
Aber das ist es vielleicht, was not tut. Nur
das, was höheren Wert für uns hat als irgend
etwas sonst auf der Welt, kann man wohl in
der richtigen Weise schildern.
Vorschlag zur Güte.
„Ihr Essen ist so schlecht, Herr Wirt, daß ich
Ihr Lokal keinem meiner Freunde empfehlen
kann." — „Möchten Sie es dann nicht wenig
stens einem Ihrer Feinde empfehlen?"
Wasserspiegel.
In dem tiefen Rund
Sank die Welt zu Grund.
Und der Himmel liegt
Dicht darangeschmiegt.
Ach, ich find' sie nicht
Droben mehr im Licht.
Und der Widerschein
Schließt sie unten ein.
Richard von Schaukal.
Heimkehr irr öer SLurrmmcht.
Von Hans Bethge.
Knut Johansen, Tilde Haiens Bräutigam,
sollte zu Ostern von seiner Fahrt nach Ost-
sndien zurück sein, um Hochzeit zu machen.
Dstern war gekommen, — Knut Johansen
ņicht. Nun war es Ende Juli und er war noch
'licht da. Auch keine Nachricht von ihm oder
dem Schiff, auf dem er fuhr. Tilde wurde täg
lich hoffnungsloser.
Ter 25. Juli war Kuuts Namenstag. Tilde
hatte an diesem Tage gemeint, ihre Augen
trugen dunkle Ringe. All das Glück, daß sie
sich für diese Zeit erträumt hatten, — wo war
kv nun?
Der Abend war kühl und schön. Es war
^ollmondzeit und der Strand von dem wei
ßen Lichte endlos überschienen. Das Meer
ebbte. Die kleinen Schaumkronen in der Ferne
glänzten wie flüssiges Silber. Tilde Haien
war im Laufe des Tages mehrmals am Stran
de gewesen. Es war ihr, als ob Knut heute
plötzlich erscheinen müsse oder doch Nachricht
von ihm. Bisher freilich war ihre Hoffnung
umsonst gewesen.
Nun, spät abends, zog es sie noch einmal
ans Meer. Sie stahl sich von Hause fort. Das
Stückchen Heideland, welches das Torf vom
Wasser trennte, hatte sie bald durchmessen.
Dann ging es über die Dünen. Und nun wan
delte sic langsam, vom Mond umflutet, an de
ren Fuße hin.
Leise, kaum hörbar, plätscherte die See, und
von dem Dorf klang in Pausen der Schlag der
Kirchturmuhr. Sonst war es still. Kein Luft
zug ging. Die Schwüle des Tages schien auch
in der Nacht nicht weichen zu wollen.
Tilde ging langsam. Zuweilen blieb sie ste
hen und atmete tief. Ihre Augen waren auf
die Flut gewandt. Als sie einmal vor sich auf
den Strand sah, bemerkte sie eine Strandaster,
die am Saum der Düne ihr kümmerliches Da
sein fristete. Sie trug eine dunkelblaue, voll
entfaltete Blüte.
Tilde bückte sich und brach die Blume. Uud
im Weiterschreiten zupfte sie eines der duften
den Blütenblätter nach dem anderen ab und
sprach dazu in Gedanken:
„Er lebt — er ist tot —er lebt — er ist tot"
und so fort, bis die Blüte nur noch aus weni
gen Blättern bestand.
Dann ließ sie ihre Hände plötzlich sinken. Es
bangte ihr vor der Entscheidung des letzten
Blattes.
Ein Vogel schreckt neben ihr auf. Das Mäd
chen fuhr zusammen und unterdrückte einen
Schrei. Dann sah sie dem Vogel nach und
lauschte dem entschwindenden Flügelrauschen.
Als er weit fort war, erhob sie die schmalen
Hände wieder und zählte weiter. Ihre Lippen
sprachen die Worte, die sie dachte, leise mit:
„Er lebt — er ist tot — er lebt — er ist tot —
er lebt —" nun kam das allerletzte Blatt: „er
ist tot."
Tilde blieb stehen. Die entblätterte Blüte
fiel aus ihren Händen. Mit großen, erstaunten
Augen sah sie aufs Meer. Es war, als sähe sie
in eine andere Welt.
Endlich löste sich die Starrheit ihrer Mie
nen. Sie ließ sich zu Füßen der Dünen nieder
und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Tilde Haien weinte.
Sie hatte keine Hoffnung mehr.
Es war eine Sturmnacht; das Meer gärte,
die Wolken jagten darüber hin wie drängende
Heeresmassen. Mitunter drang ein Leuchten
aus ihren Höhen nieder, Blitze, die zuckend in
das Grauen hinabführen.
Nicht weit vom Gestade, in dem empörten
Elemente, schwamm ein marmorblasser Men
schenkörper. Eins von den vielen Opfern, die
heute das Meer gefordert hatte. Er trieb durch
den Gischt, willenlos, bald hierhin, bald dort
hin geworfew
Jetzt thronte er oben auf eiuem riesigen
Wogenkamm, jetzt wurde er hinabgeschleudert
in die gähnende Tiefe. Endlich trug ihn eine
Welle in die Brandung. Und von dort flog er
in mächtigem Schwung auf den ungastlichen
Strand.
Da lag er still. Der Regen prasselte auf ihn
nieder, und der Sturm wühlte durch das zer
zauste Haar. Und wenn die Blitze nieder
flammten, fielen sie in einen toten Blick, den
nichts mehr blendete. —
Tie Nacht war vergangen und mit ihr das
Toben der Natur. Nun lag ein heller Tag auf
dem Meere, das in seinen schönsten Unschulds
farben glänzte und in der sich die lachenden
Strahlen der Sonne brachen. Von dem Fischer
dörfchen, das hinter den Dünen lag, kam
Glockenläuten. Tie Leute trugen einen schma
len Sarg, mit einfachen Kränzen aus Erika
geschmückt, dem stillen Platze zu, den sie den
„Friedhof der Heimatlosen" nennen. Dort san
gen sie ein Kirchenlied. Ihm folgte ein Prie
sterwort. Tann schütteten sie die Grube zu und
warfen einen kleinen Hügel darüber auf. Ein
Kreuz wurde hineingesteckt, zierlos aus Fich
tenholz gehauen. Darauf zwei kalte, kahle Zif
fern: Nummer 56.
Namen gibt es an dieser trüben Stätte nicht.
Die Tragödie des Toten ist damit zu Ende.
Auf einem anderen Strande aber steht ein
einsames Mädchen, eine Braut, voll Sehnsucht
nach der Rückkehr des Bräutigams, — starr
sieht ihr müdes, verweintes Auge über das
endlose Meer,.
Dee S onntagsfreunö