25. Jahrgang / Nr. 101
Beilage der Schleswig-Holsteinischen Landeszeikung (Rendsburger Tageblatt)
Sonnabend, den 30. April 1932
Frühttugslonnr
«nK Krechigjährtgrr Kries
Eine Iugenderinnerung von Max Iungnickel
Es ist wie ein Märchen, wenn die Frühlingssonne
Ms Schu-lstubensenster tritt und groß und strahlend
Blicke über Tintenbänke gleiten läßt. Wie eine
goldene Atempause im grauen Zahlen- und Buch-
ßvbenbetrieb wirkt das. Und auf einmal sagt der
Lehrer: »Wenn ihr gut lernt, dann gehen wir in
^cht Tagen in den Wald/ — Ja. das ist ein Wort,
die Kinderherzen vor Jubel aufreißt. Wer in
diesen Tagen herrscht der Dreißigjährige Krieg. Ein
schwerer und langer Krieg. Gewiß es ist viel Ver
wegenes, viel Abenteuerliches, Buntes und Strauch-
ritterhoftes darin. Wallenstein und Tilly und Gustav
Adolf, das sind Kerle, die man liebt und haßt, für
die man flackert und glüht. Aber diese Helden wur
den geboren und schlugen Schlachten und sind ge
fallen. Und das muß man wissen, das muß man
Mnau mit Daten und Jahreszahlen belegen. O, das
gibt «ine ganze Armee Geschichtszahlen! Und die
wuß man vorwärts und rückwärts und aus der
Reih« kenen. Das ist eine Arbeit! Im Gehirn steht
şine Mühle, und die muß sich drehen, immer hübsch
im Kreis herum, und dann wieder zurück, und dann
muß die Mühle, auf einen Lehrerzuruf mit einem
Ruck anhalten können. Und der Ruck muß ganz
genau bezeichnet werden: Datum und Jahr? — —
Ja, dos ist bestimmt nicht einfach, zumal man ein
<mnz schlechtes Zahlengedächtnis hat. Man wird fo
langsam mit Haß vollgeladen auf einen Mann wie
Wallenstein, der aus den Schlachten und Siegen und
Unterhandlungen gar nicht mehr herauskam. Man
hätte lieber gesehen, er wäre schon in der Schlacht
bei Lützen von einer Kugel getroffen worden, damit
man nicht mehr nötig gehabt hätte, die ganze eiserne
Kette seiner Taten herunterzuschnurven. —
Ich setzte mich also wahrhaft auf die Hosen, machte
mir lange Zettel mit den Jahreszahlen und lernte
und lernte. Meine Mutter hörte mir die Zahlen ab.
Ja, vorwärts ging's halbwegs, rückwärts und außer
der Reihe haute ich immer daneben. Meine Mutter
hatte offenbar Mitleid mit mir und fragte mich
oftmals, zwischen vielen Nieten, nach der Schlacht
bei Breitenfeld und nach der Zerstörung Mägde-
bürg«. Und wenn dann, zwischen Fehlschlüssen,
immer diese richtigen Treffer kamen. dann erfreute
V. mich meine Mutter immer wieder: »Na, sichst du,
es geht jkt!* Aber leider war mein Lehrer gar nicht
«ms Ermunterungen eingerichtet. Er fragte mich nie
nach den Zahlen und Daten, die ich wußte. Immer
griff er daneben, oder ich griff daneben. Und nach
jedem Fchlschlag kam's mir wie eirt Blitzschlag: »Mit
unserm Waldspaziergang wird nichts. Ihr könnt
euch bei dem bedanken!" Und feine Augen loderten
mich «in. Und meine Mitschüler hatten so etwas wie
Haß und Verachtung im Blick. Und immer eifriger
faß ich daheim und ochste die Zahlen des Dreißig
jährigen Krieges. Ich gab mir Mühe, ich gab mir
schmerzhafte Blühe. Wer ich habe nun mal kein
Zahlengedächtnis mit auf die Welt gebracht. Und
dann saß ein Vogel am Fenster und nahm mich mit
in feinem Lied.
In der Schule wurde ich gehänselt, beschimpst, weil
ich der Grund war, der den Waldspaziergang zn
Lust werden ließ. Eine Verstocktheit fraß sich in mein
Herz. Um diesen Preis einen Waldspaziergang! Um
Hn Preis, daß ich mir den Kopf zerrieb, daß ich
Höllenqualen ausstand, wenn ich nach idem Todesjahr
'Poppenheims gefragt wurde, deshalb einen Wald-
spazievgang? Ich fing an, den Lehrer zn verachten.
Die Geschichtsstunden wurden mir znm Fegefeuer.
Ilnd den Ausflug, den ich freudig ersehnt hatte,
verabscheute ich bis in die tiefste Seele.
Meine Mutter wußte um mich Befchetd. Sie er
klärte mir, als ich sie wieder bat, mir die Zahlen
»bzuhören: »Ach, laß die dummen Dinger!" Cs kam
şv etwas wie eine Erleichterung über mich. Dann
schrieb sie einen Zettel und bescheinigte darauf, daß
ch krank sei. Diesen Zettel bekam der Lehrer.
Ich blieb daheim. In den Nachmittagsstunden zog
^ie Schulklasse singend an unserem Fenster vorüber,
bie machten alle einen Waldspaziergong. Ich stand
hinter der Gardine. Und als ich sie alle dahiulaufen
«ah, den Lehrer voran, da siel's wie ein Stein von
seinem Herzen: »Dem Himmel fei Dank, nun bin
■ Uch wieder frei. Nun ist die bange Zeit endlich vor
über mtt dem Dreißigjährigen Krieg!" Es war, als
°b ein neues Leben für mich anfing. Jetzt ist nun
Schluß mit dem ewigen Whören und den Demüti-
FUngen. Gut, daß sie nun endlich 'den gemeinen, den
sivnz gemeinen Waldfpaziergang machen. — Und
c m Sonntag ging ich mit meiner Mutter in den
Astrid Wie ein Märchen ivar das, wie ein vernünf
tiges Märchen.
tausendstel Millimeter — ganz einfach zu messen.
Eine bemerkenswerte Mitteilung machten ge-
întlich der letzten Sitzung der Pariser Akademie
Wissenschaften die Professoren Leon Guillei
îud Mennesson. Die beiden Gelehrten führten der
Akademie ein neues und sehr einfaches Verfahren
brr Messung von „Längen" unter einem Milli
meter vor. Auf ein Luftdrucksystem gegründet, ge
battet es, Längen bis zum tausendsten Teil eines
Millimeters zu messen. Professor Euillet führte im
Verlauf der Sitzung verschiedene Typen des neuen
aßapparates vor und demonstrierte gleichzeitig
rnc Reihe von Versuchen, die überraschende Er-
pbuissc zeigten.
MņftZ KSNSL MmKK:
Hails' èà ķàêè / Vķ ̧rî Nsîhherg.
1. Kapitel.
„Silentium! Wer jetzt heim geht, ist ein Baby,
ein dummes — Baby," lallte mit schwerer Zunge
Studiosus Ernst Seilsbacher.
»Der dicke Ernst hat recht", briillte ein anderer,
»jetzt wird's gemütlich und wehe dem, der den ma
gischen Kreis zerstört; er fürcht sich vor unserer
Rache."
Seilsbacher versuchte auf den Tisch zu steigen.
Vergebliche Mühe. Aber plötzlich lag er platt auf
dem Bauch. Seine Beine trugen ihn nicht mehr.
Die Studenten johlten vergnügt. Seilsbacher
kroch in die Höhe und kniete nun wenigstens.
„Mensch, vor mir brauchst du nicht zu knien, ich
bin doch nicht deine Gretel," sagte Srrachwitz. .
Erneutes Lachen.
»Ja — hieß sie Gretel? Mir ist so, als hätte sie
Fritzi geheißen," sagte Seilsbacher und versuchte
aufzustehen.
Der kleine Rehnerk half dem Dicken endlich «ruf
die Deine.
»Quäle dich doch nicht mit bet Na me nsfeststellung
deiner Mädel, Ernst", sagte er dabei gutmütig.
»Zwölf Seidel Echtes," bestellte der lange Lünen-
Heim, »langt das?"
»Es ist eins zuviel, das inacht nichts, Ernst trinkt
es mit," kam die Antwort.
Der rothaarige Kleiwitz hatte sie gegeben.
Es ging schon stark auf Mitternacht, als in einer
Verbindungskneipe das frohe Gelächter der Stu
denten erschallte.
Liebevoll ruhten die Schweinsäugkein des dicken
Wirtes auf den lustigen Musensöhnen. Sie waren
alle seine Kinder. Er konnte sich ein Leben ohne
seine verflixten Kerls nicht vorstellen.
Deutsche Studenten!
Jahr aus, Jahr ein lebte Vater Kroner rrnter
seinen Studenten. Sie ärgerten ihn manchmal weid
lich. Was tat's? Er wäre gestorben ohne feine ver
flixten Kerls. Jetzt humpelte er an den Tisch.
»Herr Seilsbacher, wann kommt der Vater?"
Der Dicke umarmte seinen Gläubiger.
»Hafte Angst uni dein Geld? Wirst es kriegen,
Dater Kroner. Sollte der Alte sich weigern, kriegfte
es, wenn ich Schatzmeister des Kaisers von Japan
bin; das kann nicht mehr lange 'dauern bei meinen
Fähigkeiten."
Brausendes Gelächter.
Der Wirt verzog das Gesicht, er wußte nicht, ich
er ernstlich böse sein oder lieber mitlachen sollte.
Kleiwitz schlug Seilsbacher auf die Schüller.
»Du stehst diesmal hoch in 'der Kreide. Rede <nts
diesem Grunde nicht so frivol. Dein alter Herr wird
wettern."
Seilsbacher lächelte.
»Wir müssen ihn erst vergnügt machen, den Al-
ten. Er muß auftauen und feste trinken. Dann wivd
ihm meine Schuldenlast langsam beigebogen. Zu
was ist er Seifenfäbrikant. Er wivd doch wohl noch
das bißchen Gesöff für seinen Einzigen bezahlen
können?"
»Hast du dir nicht auch das Essen ankreiden las
sen? Mir schwant so was," sagte Mildner.
Ernst Seilsbacher hielt jich die Ohren zu.
»Hört auf. müßt Ihr mir wahrhaftig durch Eure
blödsinnige Unkerei den Abend versalzen?"
Er war durch diese Reden plötzlich wieder nüch
tern geworden.
Pfui Teufel, da« wird eine unangenehme Stun
de, wenn er beichten mußte, das wußte er. Aber
Schwamm drüber.
Der Alte hatte ja schon manchmal über den Leicht
sinn des Sohnes gewettert, die Sturmkatastrophe
würde ja wohl auch diesmal vorübergehen.
Ernst Seilsbacher blickte umher. Da sah er, wie
Dietz v. Wenkendorf mit verschränkten Armen am
Fenster lehnte und schweigend auf die Tafelrunde
blickte.
Langsam ging Seilsbacher um den Tisch herum.
Bor Wenkendorf hielt er.
»Du, Dietz, warum hast du mich eben so finster
angesehen? Habe ich dir was getan?"
Der große schlanke Student am Fenster blickte
ihn mit seinen stahlbiauen Augen eine Weile schwei
gend an, dann sagte er langsam:
»Du hast mir nichts getan, alter Freund, doch es
wäre besser, du machtest deinem Dater nicht allzu
viel Sorgen. Es wäre auch mit der Hälfte ganz gut
gegangen."
Seils'bacher senkte den Kopf.
»Du hast recht, Dietz, mein verdammter Leicht
sinn. Ich wünsche, ich hätte etwas von dir."
Die Unterhaltung wurde von den anderen Stu
denten. nicht verstanden, doch sie zwinkerten sich zu.
„Aha," sagte irgend einer, »das Sumpfhuhn er
hält von seinem Intimus eine Standpauke."
Merkwürdig war es übrigens. Ohne daß Wen
kendorf viele Worte machte, wußte man stets, wie
und was er dachte.
Seine großen Augen flammten, wenn es sich um
ernste Dinge handelte, oder sie blitzten fast mit
leidig über die anderen, wenn sie ihre dummen
Witze machten.
Sie liebten ihn alle und beugten sich oft seiner
Meinung.
In einem waren sich alle Studenten einig: Dietz
von Wenkendorf war ein seltener Mensch, der Tüch
tigste von ihnen allen.
Roch nie hatte einer von ihnen Wenkendorf be
trunken gesehen. Er wußte stets, wann er genug
hatte und gab den anderen nie ein Schauspiel.
Daß er mit einem solchen Sumpfhuhn, wie Seils
bacher es nun einmal mar, Freundschaft halten
konnte, war ihnen allen ein Rätsel.
»Es leb« die Liebe!"
Strachwitz hob sein Glas gegen Metz v. Wenkerv-
dorf. Ruhig trat der <m den Tisch.
»Du hast recht, Strachwitz, es leb« 'die Liebe."
Es war spät, als Wenkendorf mit Seilsbacher
über die Waldemarstraße quert«. um den Freund
nach Hause zu bringen.
Seilsbacher hatte sich von Frau Kroner einen
vorzüglichen »Schwarzen" brauen lassen, hatte nur
noch mäßig getrunken und war nun wieder ganz
sicher auf den Beinen.
Srmniagsge-anken.
In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost. Ich
habe die Welt überwunden. (Joh. 16 B. 33.)
Man kann bei solchem Wort leicht dem Eindruck
verfallen, als wäre das Christentum nur etwas für
ängstliche Gemüter, für Schwächlinge, die bei jeder
Kleinigkeit Angst bekämen und sich dann zur All
macht Gottes flüchteten. Run, immerhin! Es wäre
doch kein schlechtes Mng, wenn es ein Mittel gibt,
das auch schwachen Naturen Ruhe und Kraft ver
leiht. Wir Menschen sind nun doch einmal nicht alle
gleich heldenhaft veranlagt. Und wenn es wirklich
gelingt, dem zagenden Menschenherzen Ruhe und
Frieden einzugeben, dann ist das Christentum selbst,
das solches vollbringt, jedenfalls nichts Schwächli
ches, sondern wirklich etwas Großes.
Wer man ttit doch den Jüngern von damals Un
recht. wenn man ste für schwache Naturen hält. Sie
waren trotz aller Fehler und manchen Versagens
'doch Männer, slate und entschiedene, tapfere Män
ner, die um ihres Glaubens willen gewagt hatten,
Beruf und Familie, Stellung und Ehre, ja Leib
und Leben einzusetzen. Sie waren Männer der Tat.
Aber auch Männer voll Mut können sehr ernst in
die Welt und dunkel in die Zukunft sehen. Wer will
z. B. jenem Plann, der das Buch über den »Unter
gang des Abendlandes" geschrieben, und denen, die
unter dem Bann dieses Buches stehen, die Männ
lichkett absprechen? Dort redet man von Tatsachen,
sieht Gesetze des Weltgeschehens, glaubt zu düsteren
Folgerungen genötigt zu sein und steht infolgedes
sen unter Katastrophenstimmung. Haben solche
immer unrecht? .Muß man als nüchterner Mensch
nicht oft selbst den Kopf schütteln, wenn ein kur
sichtiger, oberflächlicher Optimismus uns vorreden
will, es habe alles keine Rot, oder wenn jemand
uns glauben machen wollte, eä würde ini Handum
drehen besser? Gerade ein Christ, der gewohnt ist,
tiefer zu sehen, erkennt den Schadeil und die Risse,
die durch unser Volk gehen, viel ernster als andere.
Ahnt er doch etwas von dämonischen Mächten, die
von unten her wühlen. Sieht man dann auf der
anderen Seite die Uneinigkeit selbst im Volke Got
tes, die Blindheit und Gleichgültigkeit so vieler, die
sich Christen nennen, da kann einem wohl angst
und bange werden.
Und doch verfallen wir nicht dem Pessimismus,
der den Untergang des Abendlandes oder unseres
Volkes oder unserer Kirche für besiegelt hält, der
nur klagen und anklagen kann und dann alles dem
Abgrund zittteiben läßt und die Hände verzweifelt
in deii Schoß legt. Davor bewahrt uns solch ein
Wort, wie unser Leit-wort. Wir kennen und haben
den, der die Welt überwunden hat. Bei Jesus stand
noch mehr auf dem Spiele als bei alleil rmieren
Wahlen und Entscheidungen. Auch ihn suchten die
Stimmen zu locken, er solle den Menschen nur Brot
geben, die wirtschaftlichen Fragen lösen, dann wäre
alles gut; auch ihm boten sich Reichtum und olle
Schätze der Welt als Bundesgenossen an; er hätte
ber populärste Mann seiner Zeit, ja, ohne große
Schwierigkeit König, wir würden sagest: „Diktator"
sein können, wenn er nur zugegriffen hätte; ihn
umschmeichelten Freunde, bedrohten Feinde; zn-dem
sprach auch zu ihm eine Stimme von menschlich
berechtigter Leidensscheu; auch thru inachte Undank,
der Welt Lohn, das Lieben unb Dienen sauer; aber,
was wir auch nennen, er hat sich durch nichts ab
drängen lassen; er blieb Sieger und darum wurde
er Sieger auch durch Karfteitag hindurch. Und er
bleibt Sieger auch als der erhöhte Herr! Darum ha
ben wir getrosten Mut. weil wir ihn kennen, der
Sieger geblieben ist und bleibt und der in seinem
Erbarmen der Heiland der ganzen Welt sein und
werden will. Das gibt uns täglich wieder Mut zum
Leben und zum Arbeiten trotz allen Elendes und
aller Erbärmlichkeit der Zeit. Das ist unser Chri-
steirfriede und unsere Christenkraft.
Arm in Arm schlenderten die zwei Studenten
dahin. Tiefblau wölbte sich der Himmel mit un
zähligen Sternen über ihnen. Ganz vereinzelt be-
gegneten ihnen ein paar Nachtschwärmer.
Wenkendorf sagte plötzlich:
»Ja, mein Alter, nun werden wir uns auch balb
trennen müssen. Einer wird dorthin verschlagen, der
andere dahin. Wohl nur in den seltensten Fällen
bleiben einmal zwei auch später zusammen. 2lber
wir haben es ja gewußt, daß auch die fröhliche Stu
dentenzeit einmal ein Ende nimmt. Rur, es kommt
einem dann doch schwer an."
Seilsbacher seufzte.
»Ja, und trotzdem ich nun schon etliche Semester
mehr wie du meiir aufmerksames Gehirn mit den
Wissenschaften vollstopfe, wivd es mir natürlich auch
diesmal wieder nicht gelingen, den Doktor ju holen
und die Wut des Alten wivd grauenhaft sein. Doch
ich weiß nicht, wie das kommt. Immer, wenn ich
glaube, alles richtig in mich aufgenommen zu haben,
ist es im nächsten Moment wie weggeblasen. Es ist
dgch wahrhaftig nicht schön, wenn ich altes bemoo
stes Haupt mich immer wieder hersetzen soll."
»Ra, Lünenheims Haupt ist noch bemooster rmd
einmal wivd ja -doch der Doktor auch bei dir ein
schlagen."
»Re, du. ich zweifle. Ueberhaupt, wenn du am
Schluß des Semesters gehst. Als Doktor natürlich,
denn dich hat ja die Natur mit ein paar Pfund
Grütze mehr gesegnet wie mich. Du hast mich im
mer vor dem Aeu'ßersten bewahrt. Wenn du weg
bist, stehe ich für nichts. Und dann ist es mir ein
Rätsel, warum mein Vater so auf der Geschichte
besteht. Ich übernehme einmal die Fabrik und wa
rum ich da Doktor Seilsbacher heißen muß, wenn
ich mir im Büro ausrechne, wieviel Kisten Seife
diesen Monat hinaus sind, ist mir wirklich schleier
haft."
Wenkendorf antwortete nicht. Er war überhaupt
dafür bekannt, daß er jedes Wort sorgsam abwog,
ehe er es aussprach.
Und jetzt ging er außerdem mit sich zu Rate, ob
er nicht dem Freunde endlich einmal sagen sollte,
was ihm längst schon im Stillen zu denken gegeben
hatte.
Sie waren an dem hohen MietÄxntte angekom
men. wo Seilsbacher im dritten Stock bei einer ehr»
baren Deamtenfamilie wohnte.
Einen Augenblick blieben sie vor der Tür stehen
und dann gingen beide zu gleicher Zeit weiter..
Die Mondnacht und die friedliche Ruhe rvaren
wie geschaffen zu einer ernsten Aussprache.
Und auch die Gelegenheit war endlich einmal da
sagte sich Wenkendorf, denn meistens entwļfchte 'hm
Seilsbacher, da er immer noch irgendenre zarte Der-
abredung hatte. Ueberall anbandeln war ja sein
zweites Ich.
Sir verließen jetzt die breite Straße und gingen
unter den alten Kastanien dahin, wo Steinbünke
standen und wo rechts davon tief unten die Schic-
nenstränge der Eisenbahn wie große Schlangen im
Mondlicht glänzten.
»Du hast wohl etwas sehr Unangenehmes für mich
in petto?" fragte Seilsbacher vorsichtig.
Wenkendorf nahm die Mütze ab und fuhr sich mit
der Hand durch das blonde Haar. Dann sagte er
entschlossen:
»Hör' mal gut zu, Ernst. Ich glaube, dein Vater
hat mit schweren geschäftlichen Sorgen zu kämpfen.
Lange schon. Er will es dir verbergen und hofft
wahrscheinlich, sich im Laufe der Zeit herausarbeiten
zu können. Aus diesem Grunde sagte ich dir heute
abend bei Kroner, -daß du dich etwas mehr ein
schränken möchtest."
(Fortsetzung folgt-)
Worpsweder Anekdote.
In Worpswede bei Brennn leben heute zweiund-
fünfzig Künstler und Kunstgewerbler. Diel Schilder
und Wegweiser — nicht ganz zweiundfünfzig —
Kunstausstellungen versuchen, sich dem Unbesange-
üen auf seinem Spaziergang durchs Dorf zur Beute
zu machen. So entsteht der nicht ganz vorteilhafte
Eindruck, Worpswede sei zum Museum verknöchert
und darauf angewiesen, vom Ruhm seiner Bergan-^
genheit zu leben. Die Künstler haben es heute inso
fern besonders schwer, als man es ihnen fast als
Untreue gegen ihr Wesen anrechnet, wenn sie ge
schäftstüchtig werden. Wie weit der Weg, den die
Worpsweder zurückgelegt haben, ist. bis sie endlich
es zn ihren Ausstellungen und Plakaten brachten,
zeigt folgende Geschichte aus der guten alten Zeit:
In den neunziger Jähren hatte der Kritiker 9Î. in
Dingen der Kunst das entscheidende Wort in Berlin.
Bevor die junge Worpsweder Künstlerschaft auf best
Gedanken gekommen war, geschlossen in einer gro
ßen Stadt auszustellen, erhielt sie eines Tages von
Herrn R. einen Brief: er sei bereit, nach Worps
wede zu kommen und in Berliner Blättern von sei
nen Eindrücken zu berichten. Folge: begeisterte Ein
ladung. Einholen des großen Mannes am Bahnhof
in Bremen, denn Zugverbindung gab es damals
noch nicht. Und dann durch Wochen: Besuche, Ate-
lierseste, Picknicks, italienische Nächte, immer wieder