Full text: Newspaper volume (1931, Bd. 4)

îut Schêêàm -er Tiefe- 
Mit Genehmigung des Verlags Rütten 
& Loening, Frankfurt a. Main, 
entnehmen wir folgende Erzählung dem noch 
vor Weihnachten erscheinenden spannenden 
Buch „Der Perlentaucher" von Berge 
und Lanier. Ein Berufener berichtet hier 
über seine Erlebnisse als Perlentaucher, über 
seine einzigartigen Abenteuer unb' Natur 
einbrücke in der Tiessee. Berges Abenteuer 
stehen dem spannendsten und erregendsten 
Roman nicht nach. 
Ich habe sowohl von Eingeborenen als auch 
von Weißen viele Schreckgeschichten über das 
Ungeheuer aus der Unterwelt des Wassers 
8ehört: den Kraken. 
Mit meinen neunzehn Jahren, meiner eige 
nen Erfahrung Tag für Tag an mancher Mu 
schelbank, war meine Antwort stets nur: 
»Dummes Zeug!". 
^ Dann bekam ich meine erste Lektion über 
oieses besondere Geheimnis der Meere. 
Das Wasser war ziemlich tief, etwa zwanzig 
Jaden. Neben mir war nicht gerade ein Loch, 
"ber doch ein offener Raum zwischen Massen 
von Korallen. Ich bildete mir ein, dort unten 
Pge etwas, das einer echten Muschel verdäch- 
Ug ähnlich sah. Ich arbeitete mich also über 
die Felsblöcke hinunter in jene flache Vertie 
fung. 
Der Gegenstand, der mich hinzog, schien alle 
vleine Erwartungen zu übertreffen. Ich bückte 
blich, um ihn aufzuheben. 
Und in demselben Augenblick fühlte ich, wie 
vfich etwas ganz leicht am linken Arm be 
rührte. 
Instinkt und Schulung unter Wasser ret 
teten mir das Leben. Bevor ich noch die leise 
ste Ahnung hatte, ivas es sein mochte, wirbele 
uh wie der Blitz um meine Achse, riß das 
haarscharfe Messer aus der Scheide am Gür 
tel und hieb drei- oder viermal mit dem vol 
len Schwung meines Armes in die Richtung, 
aus der die Berührung kam. Das Glück war 
blir hold, ich trennte zwei lassoartige Arme 
ab, die mich ergriffen hatten,' im nächsten 
Augenblick hätte der Krake mich an beiden 
Armen gefesselt, und ich wäre hilflos gewesen. 
Während ich zuschlug und spürte, wie die 
Klinge durch eine Masse weichen Fleisches 
schnitt, packten mich zwei weitere Arme, jeder 
Um ein Fußgelenk. Ich fühlte einen furchtba 
ren Ruck am Bein und wäre beinahe umge 
fallen. 
Das alles klingt melodramatisch, wenn man 
cs unter zivilisierten Umständen wieder er 
zählt. Aber keine Beschreibung in Worten 
kann meinen Schreck in jenem Augenblick 
schildern. Es war ziemlich trüb an jener 
Stelle, immerhin konnte ich an den Felsen vor 
vür etwas wie eine formlose Masse und wo- 
gende, sich krümmende Arme sehen, auch einen 
abgehauenen Stumpf. Da wußte ich nur zu 
gut, daß dies das Ding war, das die schauer 
lichen Geschichten der Eingeborenen veranlaßt 
hatte. Und ich hatte mich darüber lustig ge 
macht! Ich stellte mir flüchtig vor, wie meine 
Kameraden oben ein zerrissenes, baumelndes 
Rettungstau und einen Luftschlauch hochzogen, 
ich malte mir ein menschliches Wesen, nämlich 
mich selbst, aus, das in dem Rachen des ent 
setzlichen Ungeheuers zappelte. 
Inzwischen kämpfte ich tute ein Automat. 
Jedesmal, wenn ich mich bücken und versuchen 
wollte, meine Fußgelenke frei zu bekommen, 
zerrte mich die Bestie so heftig, daß ich mir wie 
ein kleiner Bub vorkam, der von einem starken 
Mann herumgestoßen wird,- nur mit der größ 
ten Anstrengung hielt ich stand. Helm' und 
Brustplatte schlugen mir hart gegen Kopf und 
Brust. Ein Stoß schleuderte mich gegen einen 
Felsen und raubte mir den Atem. Die Kraft 
der Bestie war schrecklich und erzeugte ein 
Gefühl von Todesangst. Auch die kalte Be 
rechnung, mit der sie meinen Bewegungen 
zuvor kam und jeden Befreiungsversuch ver 
eitelte, hatte eine tiefe Wirkung auf die Wi 
derstandskraft meiner Nerven. 
Es ging um Leben und Tod. Körper und 
Geist arbeiteten, als ständen sie nicht in Ver 
bindung miteinander: Der Körper quälte sich 
ab, rang, kämpfte gegen die zerrenden Strän 
ge, versuchte zu schneiden, zu stechen, sich zu 
befreien,- der Geist hinwiederum erwog sorg 
fältig Möglichkeiten, zog die Einzelheiten der 
Lage in Betracht und mühte sich um den Ent 
schluß, ob das Notsignal gewagt werden dürfte. 
Das ist das Letzte, wozu sich der Taucher in 
der Not entschließt — zu den vier Zügen, die 
bedeuten: „Zieht, bis die Leine reißt!" Der 
Notfall war klar gegeben,- aber meine Sorge 
war, daß sich mein Luftschlauch und das Ret 
tungsseil an einem der vielen Korallenvor- 
sprünge verwickeln könnten. Geschah das, so 
konnte eine Anstrengung von oben sie leicht 
abschneiden und mich hoffnungslos in einer 
Spalte eingeklemmt zurücklassen. Einem Men 
schen, der unter Wasser arbeitet, sind diese bei 
den Verbindungslinien im Unterbewußtsein 
stets gegenwärtig- ganz mechanisch unterläßt 
man jede Handlung, bevor man nicht sicher 
ist, daß sich nichts verwickelt hat. Und ich in 
meiner Klemme hatte nur sehr wenig Aussicht, 
so etwas zu verhindern. 
Unser seltsamer Zweikampf dauerte fort. 
Ich setzte all meine Kraft ein, um dem Rucken 
des Tieres zu widerstehen, ich bemühte mich, 
noch mehr von den lebenden Fesseln abzu 
schneiden, die mich umstrickten. (Es schienen 
sehr viele zu sein, zweimal soviel als in Wirk 
lichkeit, sic lagen zusammengerollt um mich 
herum.) 
Zur Vermehrung meiner Bedrängnis ge 
rieten meine Gewichte in heftige Schwingung, 
und ich mußte darauf achten, daß ich meinen 
Helm aufbehielt,- denn sonst dringt Luft in 
Brust und Hosenbeine ein, und man ist erle 
digt. Auf das Abzugsventil war zu achten, 
und während des ganzen Kampfes mutzte ich 
mich aufrecht halten und nach jedem Ruck an 
den Fußgelenken wieder ausrichten. 
Als ob das teuflische Hirn in dem gierigen, 
fleischigen Geschöpf das alles verstanden hätte! 
In dem Augenblick, wo ich die Hand mit dem 
großen Messer abwärts stoßen wollte, gab es 
mir einen fürchterlichen Ruck und zerrte mich 
zehn oder fünfzehn Fuß weit, preßte mir den 
schweren Helm gegen Kiefer und Schädel und 
quetschte mich gegen die rauhe, krustige Fels 
wand. Und all das in einem Pfuhl, der ge 
schwärzt und getrübt war von der Tinte, die 
die Bestie ausgespritzt hatte. 
Dann und wann erholte ich mich von der 
Anstrengung dadurch, daß ich mich an Ret 
tungsseil und Luftschlauch festhielt. Nach einer 
Weile schien sich eine leichte Strömung durch 
zusetzen und etwas von der dicksten Verfär 
bung wegzuführen. 
Als ich einen Blick auf die ekelhafte Masse 
von Armên und sich windenden Beinen ge 
worfen und besonders in die diabolischen Zie 
gen geschaut hatte, reckte ich mich, um das Not 
signal zu geben, sofort schnellte mich der Krake 
ein Dutzend Fuß weit, und ich mußte mich 
mit aller Kraft zusammennehmen, um nicht 
hinzufallen. 
Blitzartig schoß mir der Gedanke durch den 
Kopf: Das ist ja die reine Hölle. Denn alles 
um mich herum war fauliges, unnatürliches, 
dreckiges Schwarz, das unglaubliche Wesen 
hatte mich in seiner Gewalt und wollte mich 
unbedingt verschlingen. 
Das, was ich hier erzähle, mutz zehn bis 
fünfzehn Minuten gedauert haben. Damals 
schien es mir eine Ewigkeit. Ich begann zu 
begreifen, daß es nicht länger auszuhalten 
war. Der erste schwere Schlag des Helms hatte 
mich zerschirnden, zerquetscht, betäubt. Das 
darauffolgende heftige Aufschlagen und Hin 
schmettern gegen die Korallen hatte meine 
Kräfte erschöpft, ich sah ein, daß ich verloren 
war, wenn ich nicht schnell handelte. Die Ge 
legenheit auszunutzen, den Luftschlauch klar 
zu bekommen, war nicht mehr als Verzweif 
lungsmaßnahme anzusehen. 
Sofort spürte ich, wie ich in Bewegung kam. 
Ehe noch die Welle angsterfüllter Bewußt 
losigkeit über mich hinwegspülte, warf ich die 
Arme hoch, faßte beide Leinen und ruckte vier 
mal wie wahnsinnig. Einen Augenblick hatte 
ich die Empfindung, der Länge nach in zwei 
Teile gerissen zu werden. 
Plötzlich schoß ich in die Höhe, bis zehn oder 
fünfzehn Fuß unter dem Wasserspiegel. 
Aus dem Licht über mir schloß ich, daß ich 
der Oberfläche sehr nahe sein mußte. Ich 
schaute hinunter, ich sah die Saugarme des 
Seeteufels noch fest um meine Knöchel liegen. 
Die scheußliche Masse seines Körpers hing dar 
unter. 
Ich selbst konnte gar nichts tun. Es war 
unmöglich, hinunterzufassen und meine Beine 
zu befreien, solange ich an ihnen abwärts und 
von den Seilen aufwärts gezogen wurde. Der 
Krake zerrte mit aller Macht. 
Als ich mich so weit oben befand, daß ich zu 
erkennen vermochte, was los war, brüllte 
mein Freund Ro auf dem Deck des Luggers 
den Männern zu, sie sollten fest ziehen. Ge 
schickt schlang er mir eine dickere Leine um 
den Leib. Zwei weitere Männer packten sic 
und zogen mich daran in die Höhe. 
Ro glitt ins Wasser, das große Mesier 
kampfbereit. Mit zwei sicheren Hieben trennte 
er die entsetzlichen Arme ab. — 
Dänemarks modernster Bahnhof in Fredericia 
Einer der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte in 
Dänemark, der Bahnhof in Fredericia, von wo 
Eisenbahnlinien in alle Richtungen Jütlands ab 
gehen und gleichzeitig der Fährenverkehr vom 
Festland nach den Inseln einsetzt, hat sich seit vie 
len Jahren als hoffnungslos veraltet erwiesen, 
weswegen man an eine gründliche Erneuerung 
denken mußte. In diesen Tagen sind die Erdarbei 
ten für den neuen Bahnhof fertig geworden und 
in der nächsten Zeit beginnt die Eeleiselegung für 
den Rangierbahnhof. Die Station Fredericia wird 
Dänemarks größter und modernster Bahnhof wer 
den mit einem Abstand von 6 Kilometern bis zu 
den äußersten Weichen. Es sollen drei Züge in 
jeder Richtung zu gleicher Zeit expediert und 1000 
Waggons täglich rangiert werden können. Im 
Frühjahr wird man mit der Errichtung der Ge 
bäude beginnen, so daß der Bahnhof vollkommen 
fertig sein kann, wenn im Frühjahr 1935 der 
Verkehr über die Brücke des Kleinen Belts er- 
öffnet wird. 
Miese Zeiten. 
Kommt ein Bettler in ein Geschäft und bittet um 
eine milde Gabe. 
„Warten Sie einen Augenblick", sagt der Ehef. 
Der Bettler wartet schon über eine halbe Stunde. 
„Wie lange soll ich denn noch warten?" 
„Solange, bis ich meine Bilanz fertig habe, 
eventuell komme ich dann gleich mit Ihnen mit." 
Der Pitter besucht seinen Freund Andres: „E 
schön Zimmer bewohnste — uu wieviel Miel blcibstc 
jede Monat schuldig?" 
* 
„Was brüllen Sie denn so schrecklich. Herr", sagt 
der Zahnarzt, „ich bin doch an den kranken Zahn 
noch gar nicht hingekommen." 
„Stimmt, Herr Doktor, aber Sie stehen auf mei. 
nein Hühnerauge!" 
Sein ßeUst 
Von Ha n s Fr a n ck. 
Der bekannte mecklenburgische Dichter Hans 
Franck läßt demnächst unter dem Titel 
„Zeitenprisma" seine Kurzgeschichten gesam 
melt erscheinen. (Verlag Georg Müller, 
München. 
Gustav Nachtigal, der große Asrikareisende, 
steriet bei seiner Durchquerung des Sudans in 
cine Lebenslage oder richtiger gesagt: Todes 
tage, über die von Millionen Europäern nicht 
Einer aus eigener Erfahrung sprechen kann: 
i»r sollte gefressen werden. Gehört schon diese 
Gefahr zu den seltensten aller Menschenerleb- 
stisse, so ist die Tat, durch welche er sie bestand, 
schlechthin einzig. 
Gustav Nachtigal hatte mit unsäglichen Mü- 
aber ohne ernsthafte Gefährdungen, die 
Sahara durchquert, um dem Sultan von Vor- 
(stt Geschenke des Königs von Preußen zu 
Überbringen. Im Jahre 1870 war er in Kuka, 
Hauptstadt Bornus — einem Hinterlande 
ZZ sehr viel später von Gustav Nachtigal un- 
Er deutschen Schutz gestellten Kamerun — 
'Eierlich eingezogen. Den Rückweg nach Tunis 
îchhm der ärztliche Forscher nicht wieder durch 
Sahara. Er bereiste vielmehr den damals 
"och völlig unerschlossenen Sudan in seiner 
Ganzen Breite. 
Bei dieser Durchquerung des Sudans traf 
Gustav Nachtigal zwischen Bagirmi und Wa- 
auf einen bislang gänzlich unbekannten 
R ger^amm und zwar — wie er am eigenen 
^eibe erfahren sollte — auf Kannibalen. Er 
bstte sich im Uebereifer von den Mitgliedern 
crncr Expedition getrennt. Die Krieger des 
>icht einnial dem Namen nach bekannten Su- 
^"üvölkchens überfielen ihn. Sie schlugen den 
^ehrlosen aber nicht nieder, schleppten ihn 
relmèhr zu dem Hüttenhaufen, in welchem 
König residierte. Dort wurde er an einen 
^ m gebunden und mlU" — kein Zweifel! 
sollte ge, essen weà. 
Gustav Nachtigal schloß sein Lcbensbnch ab. 
Es standen ansehnliche Posten auf der Aktiva 
seite. Unbestreitbar: Er hatte mancherlei Nicht- 
alltägliches daheim und in der Fremde gelei 
stet. Aber gegenüber dem, was zu leisten war, 
was er noch hätte leisten können, wenn er 
nicht in die Hände der Kannibalen geraten 
wäre, gegenüber den verwirrend großen Po 
sten auf der Passivaseite fielen seine sämtlichen 
bisherigen Leistungen nicht ins Gewicht. Was 
alles konnte er zum Exempel in diesem Augen 
blick Wichtiges beobachten! Vorgänge, Hand 
lungen, Gebräuche, die noch kein Forscher fest 
gehalten, noch keiner, wenn er sie doch für sich 
festhielt, der Heimat wissenschaftlich einwand 
frei beschrieben hatte. 
Immer sorgsamer, immer leidenschaftlicher 
verfolgte Gustav Nachtigal das Tun und Trei 
ben der Neger. 
t Freilich, keine alltägliche Mahlzeit sollte vor 
sich gehen. Sondern ein Festschmaus. Das 
ganze Dorf, das vollzählige Völkchen war auf 
den Beinen. Alles ging nach altem, bis ins 
einzelne festgelegtem Ritus vor sich. Das Auf 
schichten des Holzes — eine heilige Handlung. 
Das Herbeiholen der Kessel — ein gottesdienst 
licher Akt. Die Bereitstellung der Trinkgefäße 
— eine sakrale Leistung. Das Wetzen der Mes 
ser — ein wollustdurchschauertes Mysterium. 
Selbstverständlich durfte bei einer solchen Fei 
er die Musik nicht fehlen. In feierlichem Zu 
ge wurden die Instrumente herbeigeschafft. 
Warum waren die einen von ihnen unfaßbar 
lang, während die anderen durch Kürze auf 
fielen? Das konnte kein Zufall sein. Wurden 
jene nur zu Hause benutzt, von berufsmäßigen 
Sängern, sozusagen von den Negerbarden? 
Mußten diese, im Gegensatz zu ihnen, hand 
licher sein, weil sie auf die Streifzüge — zur 
Jagd, in den Krieg — mitgenommen wurden? 
Woraus bestand der Fingerhut, mit dem die 
Saiten gerissen werden sollten? War auch seine 
Spitze aus Horn? Sicher nicht. Genauer hin 
sehen! Festhalten die überaus wichtigen Be 
obachtungen! Im Innern festhalten! 
Sämtliche Vorbereitungen zum Volks 
schmaus waren beendet. Die einen griffen 
nach den Instrumenten. Setzten mit Spielen 
ein. Die anderen begannen zu tanzen. Rund 
um den Gefangenen. Die dritten huben zu 
singen an. 
Gustav Nachtigal geriet außer sich. Welcher 
Forscher hatte das gesehen? Wer hatte das 
aufgezeichnet? Alles war hier bis ins Einzel 
ne festgelegt. Das Gebaren, die Melodien. 
Die Texte, die Folge der Tänze. Genauer 
hinhören! Schärfer hinsehen! Aber wer konn 
te dieses hundertfältige Auf und Ab in sein 
Gedächtnis aufspeichern? Also durch Buch 
staben, durch Noten, durch Zeichen festhalten. 
Papier! Bleistift!! Gustav Nachtigal gewahrte 
zu seinem Kummer, daß er gefesselt war. 
Gefesselt? Er mußte die Hände frei haben. 
Punktum. Gab es nicht Artisten, die zur Be 
lustigung der Menschen, um Geld durch ihre 
Spielerei zu verdienen, sich aus den kunst 
vollsten Fesselungen befreiten? Und er, der 
frei sein mußte, um der-Forschung unschätz 
bare Dienste zu leisten, er sollte es nicht fertig 
bringen, die Arme, die Hände aus kunstlos 
geschlungenen Negerstricken heraus zu ziehen? 
Die Hände endlich frei! So — mit Gewalt — 
ging's nicht. Auch so nicht. Und so nicht. Aber 
so! Nun noch t,! ' Arme frei! War leichter. 
Biel leichter. 
Gustav Nachtigal griff in seine Rocktasche, 
holte Bleistift und Notizbuch hervor, begann 
zu schreiben: Worte, Noten, Zeichen. 
Die Neger spielten, tanzten, sangen inmit 
ten wilden, sinnebenebelnden Rausches. 
Gustav Nachtigal stand inmitten gläserner 
Klarheit und schrieb. 
Einer der Tanzenden gewahrte es. Glaubte, 
der weiße Mann werde im nächsten Augen 
blick die Rechte mit dem blinkenden Dingel 
chen heben und schießen. Wollte beiseite lau 
fen. Wollte nach einem Speer greifen. 
„Tanzen!" schrie Gustav Nachtigal ihn an. 
Und der Neger tanzte. 
Durch den Anruf schienen mehreren der 
Neger die Augen aufzugehen. Sie begannen, 
um sich zu sehen. Das Marterpfahllieö drohte 
ins Stocken zu geraten. „Singen!" befahl 
Gustav Nachtigal. Und die Neger sangen. 
Von Minute zu Minute steigerte sich das 
Singen und Tanzen. Nicht mehr die Gier des 
frei umher springenden Kannibalenstammes 
trieb den Tumult gipfelan. Beherrscht wurde 
er von dem Willen des gefesselten Mannes: 
der Menschheit durch Kündung bislang un 
bekannter Menschlichkeiten zu dienen. 
Plötzlich aus dem Dickicht eine Salve. Drei 
Neger tot am Boden. Die übrigen fliehen in 
alle Winde: König und Untertanen: Greise, 
Männer, Frauen, Kinder. Die Gefährten des 
Forschers kommen jubelnd herbeigelaufen. 
„Wie könnt ihr mich bei der wichtigsten Ar 
beit meines Lebens stören?" schreit Gustav 
Nachtigal sie an. 
Arbeit —? Stören —? Niemand begreift. 
„Die bedeutendste aller Entdeckungen unse 
rer Expedition! Und ihr vertreibt mir, che sie 
abgeschlossen ist, die Neger durch eure dumme 
Schießerei!" 
Dumme Schießerei ? Dumme ? 
»Seht her: Gesänge der Neger beim Mcn- 
schenschlachtfest! Wortwörtlich aufgezeichnet. 
Notengerecht festgehalten." Jawohl: beim 
Menschenschlachtfest. Und der geschlachtet wer 
den sollte bei diesem Fest, der geschlachtet und 
aufgefressen wäre, wenn sie nicht dummer 
weise geschossen hätten: Er! 
„Ich??" Wer sonst? 
„Hm —" 
Ob er das ganz vergessen hätte? Wie in 
aller Welt nur möglich, seiner Errettung vom 
Tode nicht behilflich zu sein? 
„Vielleicht bin ich gerettet worden, weil ich 
den Tod vergaß ?" 
Hinundherblicken. Begreifen. Keiner wagt 
zu antworten. 
Dann ließ Gustav Nachtigal sich losbinden 
und begann — als ob nichts Außergewöhnli 
ches sich ereignet hätte, weder mit ihm noch 
durch ihn — den Geführten die Opferlieder 
des unbekannten sudanesischen Kannibalen 
stammes vorzulesen, vorzusingen und, hinge 
rissen -on chrer Ranschgewalt, vorzutanzen. 
Nr. 286 
Beilage der Schleswig-Holsteinischen Landeszeikung (Rendsburger Tageblattl 
Montag, Sen 7. Dezember 1931 
D« Unterhaltung
	        
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