îut Schêêàm -er Tiefe-
Mit Genehmigung des Verlags Rütten
& Loening, Frankfurt a. Main,
entnehmen wir folgende Erzählung dem noch
vor Weihnachten erscheinenden spannenden
Buch „Der Perlentaucher" von Berge
und Lanier. Ein Berufener berichtet hier
über seine Erlebnisse als Perlentaucher, über
seine einzigartigen Abenteuer unb' Natur
einbrücke in der Tiessee. Berges Abenteuer
stehen dem spannendsten und erregendsten
Roman nicht nach.
Ich habe sowohl von Eingeborenen als auch
von Weißen viele Schreckgeschichten über das
Ungeheuer aus der Unterwelt des Wassers
8ehört: den Kraken.
Mit meinen neunzehn Jahren, meiner eige
nen Erfahrung Tag für Tag an mancher Mu
schelbank, war meine Antwort stets nur:
»Dummes Zeug!".
^ Dann bekam ich meine erste Lektion über
oieses besondere Geheimnis der Meere.
Das Wasser war ziemlich tief, etwa zwanzig
Jaden. Neben mir war nicht gerade ein Loch,
"ber doch ein offener Raum zwischen Massen
von Korallen. Ich bildete mir ein, dort unten
Pge etwas, das einer echten Muschel verdäch-
Ug ähnlich sah. Ich arbeitete mich also über
die Felsblöcke hinunter in jene flache Vertie
fung.
Der Gegenstand, der mich hinzog, schien alle
vleine Erwartungen zu übertreffen. Ich bückte
blich, um ihn aufzuheben.
Und in demselben Augenblick fühlte ich, wie
vfich etwas ganz leicht am linken Arm be
rührte.
Instinkt und Schulung unter Wasser ret
teten mir das Leben. Bevor ich noch die leise
ste Ahnung hatte, ivas es sein mochte, wirbele
uh wie der Blitz um meine Achse, riß das
haarscharfe Messer aus der Scheide am Gür
tel und hieb drei- oder viermal mit dem vol
len Schwung meines Armes in die Richtung,
aus der die Berührung kam. Das Glück war
blir hold, ich trennte zwei lassoartige Arme
ab, die mich ergriffen hatten,' im nächsten
Augenblick hätte der Krake mich an beiden
Armen gefesselt, und ich wäre hilflos gewesen.
Während ich zuschlug und spürte, wie die
Klinge durch eine Masse weichen Fleisches
schnitt, packten mich zwei weitere Arme, jeder
Um ein Fußgelenk. Ich fühlte einen furchtba
ren Ruck am Bein und wäre beinahe umge
fallen.
Das alles klingt melodramatisch, wenn man
cs unter zivilisierten Umständen wieder er
zählt. Aber keine Beschreibung in Worten
kann meinen Schreck in jenem Augenblick
schildern. Es war ziemlich trüb an jener
Stelle, immerhin konnte ich an den Felsen vor
vür etwas wie eine formlose Masse und wo-
gende, sich krümmende Arme sehen, auch einen
abgehauenen Stumpf. Da wußte ich nur zu
gut, daß dies das Ding war, das die schauer
lichen Geschichten der Eingeborenen veranlaßt
hatte. Und ich hatte mich darüber lustig ge
macht! Ich stellte mir flüchtig vor, wie meine
Kameraden oben ein zerrissenes, baumelndes
Rettungstau und einen Luftschlauch hochzogen,
ich malte mir ein menschliches Wesen, nämlich
mich selbst, aus, das in dem Rachen des ent
setzlichen Ungeheuers zappelte.
Inzwischen kämpfte ich tute ein Automat.
Jedesmal, wenn ich mich bücken und versuchen
wollte, meine Fußgelenke frei zu bekommen,
zerrte mich die Bestie so heftig, daß ich mir wie
ein kleiner Bub vorkam, der von einem starken
Mann herumgestoßen wird,- nur mit der größ
ten Anstrengung hielt ich stand. Helm' und
Brustplatte schlugen mir hart gegen Kopf und
Brust. Ein Stoß schleuderte mich gegen einen
Felsen und raubte mir den Atem. Die Kraft
der Bestie war schrecklich und erzeugte ein
Gefühl von Todesangst. Auch die kalte Be
rechnung, mit der sie meinen Bewegungen
zuvor kam und jeden Befreiungsversuch ver
eitelte, hatte eine tiefe Wirkung auf die Wi
derstandskraft meiner Nerven.
Es ging um Leben und Tod. Körper und
Geist arbeiteten, als ständen sie nicht in Ver
bindung miteinander: Der Körper quälte sich
ab, rang, kämpfte gegen die zerrenden Strän
ge, versuchte zu schneiden, zu stechen, sich zu
befreien,- der Geist hinwiederum erwog sorg
fältig Möglichkeiten, zog die Einzelheiten der
Lage in Betracht und mühte sich um den Ent
schluß, ob das Notsignal gewagt werden dürfte.
Das ist das Letzte, wozu sich der Taucher in
der Not entschließt — zu den vier Zügen, die
bedeuten: „Zieht, bis die Leine reißt!" Der
Notfall war klar gegeben,- aber meine Sorge
war, daß sich mein Luftschlauch und das Ret
tungsseil an einem der vielen Korallenvor-
sprünge verwickeln könnten. Geschah das, so
konnte eine Anstrengung von oben sie leicht
abschneiden und mich hoffnungslos in einer
Spalte eingeklemmt zurücklassen. Einem Men
schen, der unter Wasser arbeitet, sind diese bei
den Verbindungslinien im Unterbewußtsein
stets gegenwärtig- ganz mechanisch unterläßt
man jede Handlung, bevor man nicht sicher
ist, daß sich nichts verwickelt hat. Und ich in
meiner Klemme hatte nur sehr wenig Aussicht,
so etwas zu verhindern.
Unser seltsamer Zweikampf dauerte fort.
Ich setzte all meine Kraft ein, um dem Rucken
des Tieres zu widerstehen, ich bemühte mich,
noch mehr von den lebenden Fesseln abzu
schneiden, die mich umstrickten. (Es schienen
sehr viele zu sein, zweimal soviel als in Wirk
lichkeit, sic lagen zusammengerollt um mich
herum.)
Zur Vermehrung meiner Bedrängnis ge
rieten meine Gewichte in heftige Schwingung,
und ich mußte darauf achten, daß ich meinen
Helm aufbehielt,- denn sonst dringt Luft in
Brust und Hosenbeine ein, und man ist erle
digt. Auf das Abzugsventil war zu achten,
und während des ganzen Kampfes mutzte ich
mich aufrecht halten und nach jedem Ruck an
den Fußgelenken wieder ausrichten.
Als ob das teuflische Hirn in dem gierigen,
fleischigen Geschöpf das alles verstanden hätte!
In dem Augenblick, wo ich die Hand mit dem
großen Messer abwärts stoßen wollte, gab es
mir einen fürchterlichen Ruck und zerrte mich
zehn oder fünfzehn Fuß weit, preßte mir den
schweren Helm gegen Kiefer und Schädel und
quetschte mich gegen die rauhe, krustige Fels
wand. Und all das in einem Pfuhl, der ge
schwärzt und getrübt war von der Tinte, die
die Bestie ausgespritzt hatte.
Dann und wann erholte ich mich von der
Anstrengung dadurch, daß ich mich an Ret
tungsseil und Luftschlauch festhielt. Nach einer
Weile schien sich eine leichte Strömung durch
zusetzen und etwas von der dicksten Verfär
bung wegzuführen.
Als ich einen Blick auf die ekelhafte Masse
von Armên und sich windenden Beinen ge
worfen und besonders in die diabolischen Zie
gen geschaut hatte, reckte ich mich, um das Not
signal zu geben, sofort schnellte mich der Krake
ein Dutzend Fuß weit, und ich mußte mich
mit aller Kraft zusammennehmen, um nicht
hinzufallen.
Blitzartig schoß mir der Gedanke durch den
Kopf: Das ist ja die reine Hölle. Denn alles
um mich herum war fauliges, unnatürliches,
dreckiges Schwarz, das unglaubliche Wesen
hatte mich in seiner Gewalt und wollte mich
unbedingt verschlingen.
Das, was ich hier erzähle, mutz zehn bis
fünfzehn Minuten gedauert haben. Damals
schien es mir eine Ewigkeit. Ich begann zu
begreifen, daß es nicht länger auszuhalten
war. Der erste schwere Schlag des Helms hatte
mich zerschirnden, zerquetscht, betäubt. Das
darauffolgende heftige Aufschlagen und Hin
schmettern gegen die Korallen hatte meine
Kräfte erschöpft, ich sah ein, daß ich verloren
war, wenn ich nicht schnell handelte. Die Ge
legenheit auszunutzen, den Luftschlauch klar
zu bekommen, war nicht mehr als Verzweif
lungsmaßnahme anzusehen.
Sofort spürte ich, wie ich in Bewegung kam.
Ehe noch die Welle angsterfüllter Bewußt
losigkeit über mich hinwegspülte, warf ich die
Arme hoch, faßte beide Leinen und ruckte vier
mal wie wahnsinnig. Einen Augenblick hatte
ich die Empfindung, der Länge nach in zwei
Teile gerissen zu werden.
Plötzlich schoß ich in die Höhe, bis zehn oder
fünfzehn Fuß unter dem Wasserspiegel.
Aus dem Licht über mir schloß ich, daß ich
der Oberfläche sehr nahe sein mußte. Ich
schaute hinunter, ich sah die Saugarme des
Seeteufels noch fest um meine Knöchel liegen.
Die scheußliche Masse seines Körpers hing dar
unter.
Ich selbst konnte gar nichts tun. Es war
unmöglich, hinunterzufassen und meine Beine
zu befreien, solange ich an ihnen abwärts und
von den Seilen aufwärts gezogen wurde. Der
Krake zerrte mit aller Macht.
Als ich mich so weit oben befand, daß ich zu
erkennen vermochte, was los war, brüllte
mein Freund Ro auf dem Deck des Luggers
den Männern zu, sie sollten fest ziehen. Ge
schickt schlang er mir eine dickere Leine um
den Leib. Zwei weitere Männer packten sic
und zogen mich daran in die Höhe.
Ro glitt ins Wasser, das große Mesier
kampfbereit. Mit zwei sicheren Hieben trennte
er die entsetzlichen Arme ab. —
Dänemarks modernster Bahnhof in Fredericia
Einer der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte in
Dänemark, der Bahnhof in Fredericia, von wo
Eisenbahnlinien in alle Richtungen Jütlands ab
gehen und gleichzeitig der Fährenverkehr vom
Festland nach den Inseln einsetzt, hat sich seit vie
len Jahren als hoffnungslos veraltet erwiesen,
weswegen man an eine gründliche Erneuerung
denken mußte. In diesen Tagen sind die Erdarbei
ten für den neuen Bahnhof fertig geworden und
in der nächsten Zeit beginnt die Eeleiselegung für
den Rangierbahnhof. Die Station Fredericia wird
Dänemarks größter und modernster Bahnhof wer
den mit einem Abstand von 6 Kilometern bis zu
den äußersten Weichen. Es sollen drei Züge in
jeder Richtung zu gleicher Zeit expediert und 1000
Waggons täglich rangiert werden können. Im
Frühjahr wird man mit der Errichtung der Ge
bäude beginnen, so daß der Bahnhof vollkommen
fertig sein kann, wenn im Frühjahr 1935 der
Verkehr über die Brücke des Kleinen Belts er-
öffnet wird.
Miese Zeiten.
Kommt ein Bettler in ein Geschäft und bittet um
eine milde Gabe.
„Warten Sie einen Augenblick", sagt der Ehef.
Der Bettler wartet schon über eine halbe Stunde.
„Wie lange soll ich denn noch warten?"
„Solange, bis ich meine Bilanz fertig habe,
eventuell komme ich dann gleich mit Ihnen mit."
Der Pitter besucht seinen Freund Andres: „E
schön Zimmer bewohnste — uu wieviel Miel blcibstc
jede Monat schuldig?"
*
„Was brüllen Sie denn so schrecklich. Herr", sagt
der Zahnarzt, „ich bin doch an den kranken Zahn
noch gar nicht hingekommen."
„Stimmt, Herr Doktor, aber Sie stehen auf mei.
nein Hühnerauge!"
Sein ßeUst
Von Ha n s Fr a n ck.
Der bekannte mecklenburgische Dichter Hans
Franck läßt demnächst unter dem Titel
„Zeitenprisma" seine Kurzgeschichten gesam
melt erscheinen. (Verlag Georg Müller,
München.
Gustav Nachtigal, der große Asrikareisende,
steriet bei seiner Durchquerung des Sudans in
cine Lebenslage oder richtiger gesagt: Todes
tage, über die von Millionen Europäern nicht
Einer aus eigener Erfahrung sprechen kann:
i»r sollte gefressen werden. Gehört schon diese
Gefahr zu den seltensten aller Menschenerleb-
stisse, so ist die Tat, durch welche er sie bestand,
schlechthin einzig.
Gustav Nachtigal hatte mit unsäglichen Mü-
aber ohne ernsthafte Gefährdungen, die
Sahara durchquert, um dem Sultan von Vor-
(stt Geschenke des Königs von Preußen zu
Überbringen. Im Jahre 1870 war er in Kuka,
Hauptstadt Bornus — einem Hinterlande
ZZ sehr viel später von Gustav Nachtigal un-
Er deutschen Schutz gestellten Kamerun —
'Eierlich eingezogen. Den Rückweg nach Tunis
îchhm der ärztliche Forscher nicht wieder durch
Sahara. Er bereiste vielmehr den damals
"och völlig unerschlossenen Sudan in seiner
Ganzen Breite.
Bei dieser Durchquerung des Sudans traf
Gustav Nachtigal zwischen Bagirmi und Wa-
auf einen bislang gänzlich unbekannten
R ger^amm und zwar — wie er am eigenen
^eibe erfahren sollte — auf Kannibalen. Er
bstte sich im Uebereifer von den Mitgliedern
crncr Expedition getrennt. Die Krieger des
>icht einnial dem Namen nach bekannten Su-
^"üvölkchens überfielen ihn. Sie schlugen den
^ehrlosen aber nicht nieder, schleppten ihn
relmèhr zu dem Hüttenhaufen, in welchem
König residierte. Dort wurde er an einen
^ m gebunden und mlU" — kein Zweifel!
sollte ge, essen weà.
Gustav Nachtigal schloß sein Lcbensbnch ab.
Es standen ansehnliche Posten auf der Aktiva
seite. Unbestreitbar: Er hatte mancherlei Nicht-
alltägliches daheim und in der Fremde gelei
stet. Aber gegenüber dem, was zu leisten war,
was er noch hätte leisten können, wenn er
nicht in die Hände der Kannibalen geraten
wäre, gegenüber den verwirrend großen Po
sten auf der Passivaseite fielen seine sämtlichen
bisherigen Leistungen nicht ins Gewicht. Was
alles konnte er zum Exempel in diesem Augen
blick Wichtiges beobachten! Vorgänge, Hand
lungen, Gebräuche, die noch kein Forscher fest
gehalten, noch keiner, wenn er sie doch für sich
festhielt, der Heimat wissenschaftlich einwand
frei beschrieben hatte.
Immer sorgsamer, immer leidenschaftlicher
verfolgte Gustav Nachtigal das Tun und Trei
ben der Neger.
t Freilich, keine alltägliche Mahlzeit sollte vor
sich gehen. Sondern ein Festschmaus. Das
ganze Dorf, das vollzählige Völkchen war auf
den Beinen. Alles ging nach altem, bis ins
einzelne festgelegtem Ritus vor sich. Das Auf
schichten des Holzes — eine heilige Handlung.
Das Herbeiholen der Kessel — ein gottesdienst
licher Akt. Die Bereitstellung der Trinkgefäße
— eine sakrale Leistung. Das Wetzen der Mes
ser — ein wollustdurchschauertes Mysterium.
Selbstverständlich durfte bei einer solchen Fei
er die Musik nicht fehlen. In feierlichem Zu
ge wurden die Instrumente herbeigeschafft.
Warum waren die einen von ihnen unfaßbar
lang, während die anderen durch Kürze auf
fielen? Das konnte kein Zufall sein. Wurden
jene nur zu Hause benutzt, von berufsmäßigen
Sängern, sozusagen von den Negerbarden?
Mußten diese, im Gegensatz zu ihnen, hand
licher sein, weil sie auf die Streifzüge — zur
Jagd, in den Krieg — mitgenommen wurden?
Woraus bestand der Fingerhut, mit dem die
Saiten gerissen werden sollten? War auch seine
Spitze aus Horn? Sicher nicht. Genauer hin
sehen! Festhalten die überaus wichtigen Be
obachtungen! Im Innern festhalten!
Sämtliche Vorbereitungen zum Volks
schmaus waren beendet. Die einen griffen
nach den Instrumenten. Setzten mit Spielen
ein. Die anderen begannen zu tanzen. Rund
um den Gefangenen. Die dritten huben zu
singen an.
Gustav Nachtigal geriet außer sich. Welcher
Forscher hatte das gesehen? Wer hatte das
aufgezeichnet? Alles war hier bis ins Einzel
ne festgelegt. Das Gebaren, die Melodien.
Die Texte, die Folge der Tänze. Genauer
hinhören! Schärfer hinsehen! Aber wer konn
te dieses hundertfältige Auf und Ab in sein
Gedächtnis aufspeichern? Also durch Buch
staben, durch Noten, durch Zeichen festhalten.
Papier! Bleistift!! Gustav Nachtigal gewahrte
zu seinem Kummer, daß er gefesselt war.
Gefesselt? Er mußte die Hände frei haben.
Punktum. Gab es nicht Artisten, die zur Be
lustigung der Menschen, um Geld durch ihre
Spielerei zu verdienen, sich aus den kunst
vollsten Fesselungen befreiten? Und er, der
frei sein mußte, um der-Forschung unschätz
bare Dienste zu leisten, er sollte es nicht fertig
bringen, die Arme, die Hände aus kunstlos
geschlungenen Negerstricken heraus zu ziehen?
Die Hände endlich frei! So — mit Gewalt —
ging's nicht. Auch so nicht. Und so nicht. Aber
so! Nun noch t,! ' Arme frei! War leichter.
Biel leichter.
Gustav Nachtigal griff in seine Rocktasche,
holte Bleistift und Notizbuch hervor, begann
zu schreiben: Worte, Noten, Zeichen.
Die Neger spielten, tanzten, sangen inmit
ten wilden, sinnebenebelnden Rausches.
Gustav Nachtigal stand inmitten gläserner
Klarheit und schrieb.
Einer der Tanzenden gewahrte es. Glaubte,
der weiße Mann werde im nächsten Augen
blick die Rechte mit dem blinkenden Dingel
chen heben und schießen. Wollte beiseite lau
fen. Wollte nach einem Speer greifen.
„Tanzen!" schrie Gustav Nachtigal ihn an.
Und der Neger tanzte.
Durch den Anruf schienen mehreren der
Neger die Augen aufzugehen. Sie begannen,
um sich zu sehen. Das Marterpfahllieö drohte
ins Stocken zu geraten. „Singen!" befahl
Gustav Nachtigal. Und die Neger sangen.
Von Minute zu Minute steigerte sich das
Singen und Tanzen. Nicht mehr die Gier des
frei umher springenden Kannibalenstammes
trieb den Tumult gipfelan. Beherrscht wurde
er von dem Willen des gefesselten Mannes:
der Menschheit durch Kündung bislang un
bekannter Menschlichkeiten zu dienen.
Plötzlich aus dem Dickicht eine Salve. Drei
Neger tot am Boden. Die übrigen fliehen in
alle Winde: König und Untertanen: Greise,
Männer, Frauen, Kinder. Die Gefährten des
Forschers kommen jubelnd herbeigelaufen.
„Wie könnt ihr mich bei der wichtigsten Ar
beit meines Lebens stören?" schreit Gustav
Nachtigal sie an.
Arbeit —? Stören —? Niemand begreift.
„Die bedeutendste aller Entdeckungen unse
rer Expedition! Und ihr vertreibt mir, che sie
abgeschlossen ist, die Neger durch eure dumme
Schießerei!"
Dumme Schießerei ? Dumme ?
»Seht her: Gesänge der Neger beim Mcn-
schenschlachtfest! Wortwörtlich aufgezeichnet.
Notengerecht festgehalten." Jawohl: beim
Menschenschlachtfest. Und der geschlachtet wer
den sollte bei diesem Fest, der geschlachtet und
aufgefressen wäre, wenn sie nicht dummer
weise geschossen hätten: Er!
„Ich??" Wer sonst?
„Hm —"
Ob er das ganz vergessen hätte? Wie in
aller Welt nur möglich, seiner Errettung vom
Tode nicht behilflich zu sein?
„Vielleicht bin ich gerettet worden, weil ich
den Tod vergaß ?"
Hinundherblicken. Begreifen. Keiner wagt
zu antworten.
Dann ließ Gustav Nachtigal sich losbinden
und begann — als ob nichts Außergewöhnli
ches sich ereignet hätte, weder mit ihm noch
durch ihn — den Geführten die Opferlieder
des unbekannten sudanesischen Kannibalen
stammes vorzulesen, vorzusingen und, hinge
rissen -on chrer Ranschgewalt, vorzutanzen.
Nr. 286
Beilage der Schleswig-Holsteinischen Landeszeikung (Rendsburger Tageblattl
Montag, Sen 7. Dezember 1931
D« Unterhaltung