124. Jahrgang.
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I
Nr. 202
ösnnghenö. den 29. August.
( 1931
Wo stehen wir.
Gedaàn zur Zeitgeschichte.
Die nachstehende Abhandlung bildet den
Schluß der „Gedanken zur Zeitgeschichte" aus
den vorangegangenen Sonnabendnummcrn.
schreibt in „Die Tat" abschließend:
Es liegt auf der Linie der bisher geschil
derten Tatsachen und Erkenntnisse, daß sich
das, was heute geschieht, also det langsame
Zusammenbruch eines totalen Systems und
seine Ersetzung durch ein neues — wenn man
historisch noch strenger definieren will: der
Wandel eines Systems — ganz anders
darstellt, als jede frühere Entwicklung. Wir
erleben einen Zusammenbruch „von oben",
wir erleben — außer der veränderten Stim
mung und geistigen Haltung des Menschen —
keinen Stoß „von unten".
Es handelt sich heute in erster Linie um
eine große get fit ge Wandlung, in der
wir stehen. Es geht um den Menschen in sei
ner gesamten Totalität, um die Seele, wenn
man vor diesem Wort nicht zurückscheut. Und
die Entscheidung darüber, wohin es geht und
wie lange es dauert, fällt in jedem einzelnen
selbst, nirgends sonst!
Deshalb werden die neuen Parolen des
kommenden Aufbaues — neben den rein tech
nischen Kunstgriffen des staatlichen und wirt
schaftlichen Lebens — merkwürdiger Natur
sein. Sie werden ganz primitiv sein. Es wird
heißen: Zurück zur Natur! Zurück zum Men
schen! Zurück aufs Land! Zurück zu Gott!
Wenn keine Fehler von „oben" gemacht
werden, wird die Spannung, die „unten"
herrscht, nicht zu einem großen, jähen Auf
schwung führen, der die Blätter der Weltge
schichte füllen wird. Die Entwicklung wird sich
dann weiter wie bisher zwangsläufig und auf
evolutionärer Basis vollziehen, ohne Revolu
tion und ohne Krieg. Zwei Beispeile dafür
haben wir ja in den letzten Wochen erlebt:
die Reparationsfrage und die Ban
ke n p I e i t e.
* & *
Und damit kommen wir zur letzten und
für den einzelnen Menschen wichtigsten Frage:
Was soll der einzelne heute tun?
Eine Welt bricht um ihn zusammen und er ist
total in diese Welt hineingeflochten. Die Span
nung der Zeit reißt an seinen Nerven, an
seinem Körper, an seiner Gesundheit. Sie ver
braucht ihn früh. Er altert in einem rasenden
Tempo, Not und Entbehrung tun ein Uebri-
ges dazu. Die Aerzte und > Krankenhäuser
könnten eine furchtbare Geschichte über die
Hintergründe unserer Zeit schreiben. Wir
Menschen von heute sind wie Lichter, die an
beiden Enden brennen.
Was kann der einzelne tun? Millionen
grübeln heute Tag und Nacht über diese Fra
ge nach. Sie verfolgt jeden, keiner wird von
ihr verschont. Der Bankdirektor hat dieselben
schlaflosen Nächte wie der Erwerbslose, der
Jndustrieführer dieselben Sorgen wie der An
gestellte. Der Bauer dasselbe Leid wie der
Arbeiter. Die seelische Not ist heute abso
lut gleich verteilt. Es t ft ô t e N o t um
die E x i st e n z. Nur, daß sie denjenigen,
den die Zeit schon physisch herausgeschleudert
hat, primitiver trifft als denjenigen, den sie
psychisch zermürbt. Wir wagen heute die Be
hauptung, daß die Not des reichen Mannes,
der sich in seinen Kissen wälzt, nicht weniger
gering ist, als die nackte Not des Erwerbs
losen, der sich sein Brot zusammenbettelt, daß
die furchtbare Ungewißheit und
Hilflosigkeit des Arbeitgebers
genau so schwer ist, wie die furcht
bare Ungewißheit und Hilflosig
keit des Arbeitnehmers! Nur wer
öie Zeit aus der Froschperspektive sieht, kann
anderer Ansicht sein. Auch die Not ist total,
und das Leid, das sie bringt!
Im übrigen sind die Nöte, aus denen her
aus der einzelne heute nach dem fragt, was
er tun soll, verschieden voneinander gelagert.
Der eine überlegt krampfhaft, wie er sein Geld
/
erhalten kann. Er flüchtet ins Ausland, kauft
Devisen, Schmuck oder sonst etwas,' alles aber
— das fühlt er — kann ihm keine Sicherheit
bieten. Der andere, der bereits aus dem Ar
beitsprozeß ausgcstoßen wurde, zermartert
sich den Kopf darüber, was er anfangen kann,
welchen Beruf er ergreifen könnte, wo er
wieder in den Rhythmus der Arbeit hineiu-
schlüpsen kann. Der dritte sieht den Verfall
seines Jndustriewerkes oder seines Geschäfts,'
er spürt die Verantwortung für die Menschen,
die er beschäftigt, für die Tradition, die er
verkörpert. Und wieder ein anderer sieht, wie
ihm der väterliche Grund und Boden stück
weise fortgerissen wird, wie er seine Basis
Stück für Stück verkaufen muß, ohne das ihm
eigentlich Geld übrigbleibt. So sieht die Lage
heute aus! Jeder aber ist an seinen persön
lichen Standort gebunden und jeder stellt die
Frage: Was soll, ich tun? von anderen per
sönlichen Bindungen und Voraussetzungen
aus.
Für diese persönlichen, jeweils standort
gebundenen Fragen gibt es keine umfassende
Antwort. Seine jeweils spezielle Lage muß
der einzelne allein lösen, seinen eigenen Weg
muß er allein gehen. Die Frage also so stellen
heißt, zuviel vom anderen verlangen. Wohl
aber kann die Frage anders gestellt werden.
Nämlich so: wie richte ich mein eigenes Leben,
meine eigene Existenz ein in der heutigen Zeit
des Ueberganges, wo ein System, in das ich
verflochten bin, zusammenbricht, und ein neues
System sich erst langsam bildet, wie richte ich
in dieser Zeit mein eigenes Leven so ein, daß
ich Raum im neuen System finde, daß ich die
Uebergangszeit überdauere, daß ich physisch
und psychisch hinüberreiche in das neue Sy
stem? Denn das ist doch unsere Tragik: wir
sind mit unseren siebzig Jahren, die wir gün
stigstenfalls alt werden, gerade mitten hinein
gestellt in den Bruch »der historischen Entwick
lung. Dieser Bruch fällt direkt in unsere Le
bensspanne hinein, die wir hier unten haben,
und wir müssen trotz dieses Bruches versuchen,
aus unserem Leben und seinen paar Jahren
das Beste, Wertvollste und Glücklichste für uns
herauszuholen — trotz Krise und Zusammen
bruch.
Auf diese Frage kann man dem einzelnen
Menschen heute schon eine präzise Antwort
geben. Man kann ihm sogar die Wege und
Möglichkeiten aufzeigen. Wie er sie allerdings
im Detail löst, ist seine jeweils von ihm selbst
abhängige Aufgabe, die ihm niemand abneh
men kann.
Der Rückzug des einzelnen aus dem Sy
stem geht nur über den Weg persönlicher
O p f e r und Entscheidungen, d. h., er
wird in dem Matze vom System selber, seiner
Not und seiner Krise frei, in dem er seine
persönlichen Ansprüche zurück
schraubt. Das scheint im ersten Augenblick
der Ideologie gewisser Wirtschaftsführer zu
entsprechen, die ihren persönlichen Verbrauch
nicht eingeschränkt haben, cs aber dafür umso
wehr von ihren Angestellten verlangen. Wenn
sich diese Wirtschaftsführer aber einmal die
Konsequenz dieses Ratschlages überlegen, und
wenn sie sie vor allem verstehen könnten,
würden ihnen die Haare zu Berge stehen.
Denn praktisch würde eine so totale Einschrän.
kung der Bedürfnisse des.einzelnen bedeuten,
daß das kapitalistische Prinzip der Bedarfs-
wecknng zusammenbrechen würde.
Worum kämpft der einzelne heute? Um
Freiheit, um Ruhe, um Sicherheit seiner Exi
stenz und um soziale Gerechtigkeit. Tie soziale
Gerechtigkeit wird ihm die Entwicklung schaf
fen, sie wird zwangsläufig erfolgen, ohne daß
wahrscheinlich die Massen einen aktiven Druck
auszuüben brauchen. Freiheit, Ruhe und Si
cherheit aber wird ihm erst eine neue Zeit
bieten können, und das auch nur auf einem
stark geschmälerten Lebensniveau und einer
beschränkteren Existenzgrundlage.
Vielleicht wird dieses Leben den heutigen
Menschen grauer und eintöniger anmuten.
Vor allem dann, wenn er noch den heutigen
Werten der Zeit: Geld, Besitz usw. verzweifelt
nachjagt. Aber — die Werte werden wechseln!
Er wird weniger zu tun haben als heute. Er
wird mehr Ruhe haben. Er wird mehr Sicher
heit haben. Und — er wird vielleicht wieder
einen Gefallen daran finden, sich mit ernsten
geistigen Werten zu beschäftigen, zu denen er
heute weder Ruhe noch Zeit hat.
Kann der einzelne diesen Weg schon heute
gehen, kann er die ersten persönlichen Schritte
schon vorbereiten, kann er einen Teil seiner
Ansprüche überprüfen und die überflüssigen
auf einem Scheiterhaufen verbrennen, so wird
er sich viel Not, Unsicherheit und viel schlafe
lose Nächte ersparen können.
* * *
Für den Teil des Volkes sowie für dsi
Teile der betroffenen Schichten-, die rechtzeitig
freiwilligen Anschluß an das Neue finden wol
len, bieten sich drei Möglichkeiten: die F<mts-
kapitalistische Möglichkeit, die klein- und mit-
„SparMMn größten Ausmaßes."
Aķil-îkilhtlîliiļ« zur Lïàk-MrmîMW
Die Länder- und Gemeindehaushalte sollen unbedingt ausgeglichen werden.
Einer Korresponöenzmeldung zufolge hat
der Reichsfinanzminister den Ländern Richt
linien zu der Notverordnung des Reichsprä
sidenten zur Sicherung der Haushalte von
Ländern und Gemeinden übersandt. Die Richt
linien beschränken sich auf die Empfehlungen
derjenigen Maßnahmen, die von den Ländern
und den Gemeinden selbst zu treffen sind. Sie
gehen davon aus, daß die Haushalte der Län
der und Gemeinden unbedingt ausgeglichen
werden müssen. Dieser Ausgleich könne in der
Hauptsache nur durch Abstriche auf der Aus-
gabcuseite erfolgen. Mit dem Einsetzen einer
Sparaktion größten Ausmaßes müsse daher
sofort begonnen werden. Die Verordnungen
der Länderregierungen, die auf Grund der
Notverordnung des Reichspräsidenten erlassen
würden, unterlägen nicht den Vorschriften der
Landesverfassungen. Im Verordnungswege
könne von dem bestehenden Landesrecht ein
schließlich des Landesverfaffungsrechts abge
wichen oder bestehendes Landesrecht aufgeho
ben werden.
Auf der Seite der Gemeinden hätten die
Landesregierungen nunmehr die Möglichkeit,
im Wege der Uebertragung eigener Befugnisse
die Gemeindevorsteher zu selbständigen Spar
maßnahmen zu ermächtigen und Bestrebungen,
die der Notwendigkeit, Ersparnisse zu machen,
entgegenstehen, auszuschalten. Was die Spar-
vorfchläge im einzelnen betreffe, so gebe das
Finanz- und Wirtschaftsprogramm des Deut
schen Städtetages eine Reihe beachtlicher Hin
weise. Soweit Gemeindebeamten-Gehälter hö
her seien als vergleichbare Gehälter des Rei
ches und der Länder, könnten im Wege der
Verordnung oder der Aufsicht diese Bezüge den
übrigen Gehältern angeglichen werden. Im
übrigen kämen als Verwaltnngsmatznahmen
insbesondere in Betracht: Einstellungssperre,
Besörderungssperre, Stellenwechsel, Entlaflun-
geu und Kündigungen von Angestellten und
Arbeitern. Des weiteren werde entsprechend
den Vorschlägen des Städtetages geprüft wer
den müssen, inwieweit der Behördenapparat
mit Rücksicht auf die zukünftige Finanzlage
noch aufrechterhalten werden könne. Die öf
fentlichen Mittel für Wohnungsbau und ande
re Bauausgaben müßten eingeschränkt werden.
Die Vorschläge des Stäötetages für eine
Einschränkung der Schullaften müßten von den
Länderregierungen eingehend geprüft werden.
Die Richtlinien des Reichsfinanzministers
werfen die Frage auf, ob nicht durch eine Er
höhung der Klasfenfreqnenzen und der Pflicht-
stundenzahl und durch eine stärkere Begabten-
Auslese Einsparungen erzielt werden könnten.
Auf dem Gebiet der Justiz müßten unter Um
ständen die Kosten der Rechtspflege durch eine
Justizreform herabgesetzt werden. Auf dem
Gebiet der Wohlfahrtspflege müssen vertret
bare Einschränkungen vorgenommen werden.
Auch hier wird auf die Richtlinien des Städte
tages verwiesen. Aus dem Fälligweröen von
kurzfristigen Schulden von Ländern und Ge
meinden drohe eine besondere Gefahr für die
öffentlichen Haushalte. Die Reichsregierung
sei bereit, für die Gemeinden durch eine Um-
schuldungsaktion, deren Ausmaß und Verfah
ren noch vorbehalten bleibe, helfend einzu
greifen. Länder und Gemeinden würden sich
bis dahin rechtzeitig mit ihren Gläubigern
über die Verlängerung der Kredite zu einigen
haben. Die Reichsregierung würde Ländern
und Gemeinden nur in den Fällen einer Um
schuldungsaktion zu den Kosten der Woyl-
fahrtserwerbslosenfürsorge eine finanzielle
Hilfe leisten. Auch auf dem Gebiet der Wohl
fahrtslasten könne nur dort unterstützend ein
gegriffen werden, wo sowohl im Land als auch
in der betreffenden Gemeinde alles zum Etats
ausgleich Erforderliche getan worden sei.
Die Reichsregierung wird demnächst Mit
teilungen über die von ihr selbst durchgeführ
ten Sparmaßnahmen machen. Der Reichsfi- ,
nanzminister wird mit dem Rcichsjustizmini-
sterium Verbindung aufnehmen, um die Fra
ge der Reichsjustizreform im Wege der Not
verordnung zu prüfen. Endlich wird noch mit
dem Neichsarbeitsministerium über das Pro
blem der Arbeitslosenversicherung verhandelt.
* V
„NeukonsiruMon der öeamlen-
besoldung."
TU. Berlin, 28. August. Das Reichsfinanz
ministerium teilt zu Pressemitteilungen über eine
Neukonstruktion der Veamtenbesoldung mit, daß an
das Reichssinanzmmisterium Vorschläge auf Ab
änderung der bestehenden Beamtenbesoldungsver
ordnung gelangt seien. Diese Vorschläge würden
nachgeprüft. Das Reichsfinanzministerium sei zu
einer Stellungnahme noch nicht gekommen.
Aus dem preußischen Kabinett
wird mitgeteilt: Ein Berliner Mittagsblatt bringt
unter der Ueberschrift „Rigoroser Abbau bei den
Gemeinden" die Nachricht, die preußische Regierung
werde zum 1. September eine neue Notverordnung
erlassen, die alle Gehälter der preußischen Städte
und Gemeinden regele und neue Bestimmungen über
den Schuletat bringe. Es werden dann eine ganze
Reihe Einzelheiten aus dieser „neuen Notverord
nung" angeführt, die sich u. a. auf die Herabsetzung
des Gehalts des Berliner und des Kölner Oberbür
germeisters, der Bürgermeister und der Stadträte
beziehen. Gegenüber diesen Behauptungen ist fest
zustellen, daß die angebliche neue Notverordnung
schon deshalb zum 1. September nicht erlassen wer
den kann, weil das preußische Kabinett sich bisher
mit diesen oder ähnlichen Vorlagen nicht beschäftigt
hat und auch vor dem genannten Datum überhaupt
nicht zusammentritt. Auf die Einzelheiten der An
gaben einzugehen, ist unter diesen Umstünden un
möglich, da sie jeder materiellen Grundlage entbeh
ren. Aus demselben Grunde ist auch die Meldung
über einen angeblich geplanten Amtsverzicht des
preußischen Kultusministers unzutreffend -