Full text: Newspaper volume (1930, Bd. 4)

123. Jahrgang 
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123. Jahrgang 
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Öec Sonntngsfrcunö 
SorrnLag, den 23. Nsvsmber 
Der (Lob in ber nieberbeutfchen Dichtung. 
von Albrecht Janssen, Hamburg. 
Das uralte Rätsel von Geborenwerden und 
Sterben, das von Anbeginn aller Dings an 
menschliches Denken immer wieder beschäftigt hat, 
ist auch eines der großen Probleme unserer Kunst. 
Im grüblerischen Wesen des Niederdeutschen liegt 
es nun beschlossen, daß er sich vielleicht ernster als 
andere immer wieder mit dieser geheimnisvollen 
Frage beschäftigt hat. Darum spielt auch in der 
niederdeutschen Literatur, schon von der mittel 
niederdeutschen Zeit an, der Tod eine ganz be 
sondere Rolle. Die alten Totentänze sind. freilich 
international: aber auf niederdeutschem Boden ist 
ein Totentanz erwachsen, der bereits starke Eigen 
züge ausweist. Im 1489 gedruckten „Lübecker To 
tentanz" ist zwar der Tod auch noch der erbar 
mungslose Vernichter; aber er tritt hier als Spiel- 
mann auf, der zum letzten Tanz auffordert. 
Heide; aber immer spürt er, daß jemand ihm folgt. 
„Uem een Deel, Daud, bloß bitt ick di: 
Wann slippst de Seiße äs för mi, 
Wacht, bit ick mine Arbeit daohn, 
Se Saot an 'n Grünn, int Fack dat Kaohn, 
Dann hau fast tau ..." 
In ganz anderer Weise tritt uns der Tod in 
der Dichtung des dritten Westfalen entgegen. 
Augustin Wibbelt, der freundliche Pfarrherr von 
Mehr am Niederrhein, hat oft an Sterbebetten 
gestanden. Er weiß, wie schwer die Alten sterben 
und wie leicht die Jungen. Darum sagt der Tod 
bei ihm: 
„De Kleinen haal 
Ick leiwer äs de Grauten. Hädd 'k de Wahl, 
Ick höll de Kleinen all' — för 't Liäben sind 
Se viell to gutt! .. 
Zuin (Totensonntag 
Nr. 274a 
Sonntagsgedanken. 
Wir warten aber eines neuen Himmels 
und einer neuen Erde nach seiner Ver 
heißung, in welchen Gerechtigkeit wohnet. 
(2. Petr. 3, V. 13.) 
Totensonntag brechen kaum vernarbte Wun 
den wieder auf. Wie weh tut es doch, wenn der 
Tod eine Lücke im Kreise unserer Lieben gerissen! 
Wie vieles wird gleich anders, wenn zwei Augen 
sich für immer geschlossen! Wie entbehrt man je 
langer je mehr, was der Verblichene uns war! 
Alls die großen und kleinen Dienste, alle Treue 
und Liebe, so mancher guter Rat, manches auf 
munternde Wort, das uns sonst half, jetzt fehlt es 
und wir fühlen so oft die drückende Einsamkeit. 
Und doch ist dies noch nicht das Tiefste. Der 
Tod bringt immer etwas Fremdes. Daß derselbe 
Leib, der dem Leben diente, nun nichts mehr auf 
nimmt und nichts mehr ausdrückt, was sonst die 
Seele des Entschlafenen bewegte, die furchtbare 
Starre und Stille eines Leichnams mutet immer 
fremd und befremdend an. Man kann es begrei 
fen, daß vielen in der Nähe einer Leiche unheim- 
lich zu Mute wird. 
Tritt der Uebergang aus dem Leben zum. 
Sterben nun plötzlich und unerwartet ein, so ist 
der Eindruck auf unsere Seele geradezu erschüt 
ternd. Darum haben die Massen-Unglücksfälle der 
letzten Wochen ja auch solch weites Echo im ganzen 
Lande wachgerufen. Man steht da fassungslos 
dem Unbegreiflichen gegenüber, das wir Tod 
nennen. 
Ist nun der Tod das Letzte? Denkt an einen 
Menschen, der dir geistig etwas bedeutete, oder an 
einen, dessen Liebe dich warm umhüllte, und die 
Antwort ist einfach. Sofort weißt du, was da im 
tiefsten Grund das Leben, oder sagen wir besser: 
die Persönlichkeit des andern ausmachte, das war 
doch nicht der Leib, der nun starr und still daliegt. 
Das Leben war etwas anderes. Das Leben war 
Geist. Es ist ungefähr so, wie wenn man einem 
Künstler all sein Werkzeug und den Stoff seines 
Schaffens fortnimmt. Zunächst wird er dann 
allerdings nichts mehr schaffen können; aber hört 
er damit auf, ein Künstler zu sein? Irgendwie 
wird das Genie sich schon wieder Bahn brechen 
und neue Schöpfungen zutage fördern. So ist es 
recht, wenn wir auf unsre Grabsteine das Hoff 
nungswort setzen: „Auf Wiedersehn!" 
Doch wenn wir nun hinüberschauen, wie es 
einst sein mag, wenn wir uns wieder treffen, wie 
es im Himmel aussehen wird, alle Versuche, den 
Himmel auszumalen, nehmen ihre Farben aus 
dem Farbkasten dieser Erde. D. h. wir kommen 
nicht los von den Vorstellungen, dis wir uns im 
Raum dieser Erde, in der Zeit dieses Lebens ge 
bildet. Ob.sie zutreffen? Wahrscheinlich nicht, 
da im Reiche der Geister Ort und Zeit gegen 
standslos sind. Es wird also ganz anders sein, 
als je in eines Menschen Sinn gekommen ist. 
Und ist das nicht gerade tröstlich? Wäre es nicht 
geradezu zum Verzweifeln, wenn wir uns sagen 
müßten: dann beginnt das Ringen mit all dem 
Jammer, der Mühe, dem Schmerz, der Trauer, 
der Sorge dieses Lebens wieder, vielleicht nur auf 
einer andern Ebene, aber sonst dasselbe? Nein, 
einen neuen Himmel und eine neue Erde er 
warten wir. Nur das ist Trost, und die Haupt 
sache in diesem neuen Leben ist nicht Gesundheit, 
nicht Reichtum, nicht Wohlleben — was ja doch 
wieder in die Vergänglichkeit hineinführte —, son 
dern Gerechtigkeit! Mag es sein, wie es will, 
wenn nur das fehlt, daß andere uns Unrecht tun 
— wie viel Bitterkeit entspringt aus dieser Wur 
zel! — und daß wir andern Unrecht tun — wie 
viel Beschämung und quälende Reue verursacht 
uns das! — dann wird es schon von selbst ein Le 
ben in der Herrlichkeit! 
Ob es das gibt? Oder ob das nur frommes 
Träumen vorgaukelt? Wir Christen warten nicht 
ohne Grund. Wir haben den, der den Tod über 
wunden hat: „Jesus lebt, mit ihm auch ich!" Wir 
haben auch das Angeld des Geistes. Wer als 
Christ je Ernst gemacht hat mit christlichem Leben, 
der weiß, wie die „Gerechtigkeit", deren man sich 
befleißigt, ein Stück „Himmel auf Erden" schafft, 
wie schön es ist, in einer Gemeinschaft zu leben, 
sei es in der Familie, sei es sonst wo, wo die Men 
schen tun, was sie sollen und was sie können, um 
einander in Wahrheit und Liebe zu dienen. Da 
hofft man nicht ins Blaue, sondern hat bestimm 
ten Grund unter den Füßen. Auf diesem Grunde 
steht man fest und schaut in gewisser Hoffnung auch 
über die Gräber, über alles Leid und über allen 
Sturm dieser Zeit hinweg: „Wir warten eines 
neuen Himmels und einer neuen Erde, in welchen 
Gerechtigkeit wohnt". 
„Danzet mede, ick singe vorhen! 
Alsus heth de sanck, den ick meen: 
Bitterliken sterven is ,de erste sanck, 
De ander is de klocken klanck; 
De dritte is: in korter stunden 
Werstu vergelten van dien frunden, 
Un din titlike gud ghan set o deele, 
Die warme umme dat fleß, de düvel umme de 
seele." 
Mittelalterliche dramatische Totentänze, einst 
aus erbaulichen Gründen bei den Geistlichen sehr 
beliebt, haben den Holsteiner Heinrich Eckmann zu 
seinem „nedderdütschen Dodendanz", den „Lewens- 
weg", angeregt; er gestaltet in durchaus eigenar 
tiger Weife das alte Thema, allerdings mehr ly 
risch als dramatisch. Jugend-Laienspielbühnen 
sollten sich dieses Spieles mehr als bisher an 
nehmen. 
Des Westfalen Karl Prümers epische Dich 
tung „De Dood as Richter" erreicht bei weitem 
nicht die künstlerische Höhe wie das gewaltige 
plattdeutsche Epos „Daud un Düwel", das sein 
Landsmann Karl Wagenfeld 1912 herausgab und 
das zu den besten Werken des neuplattdeutschen 
Schrifttums gehört. Der verstorbene westfälische 
Maler Augustinus Heumann hat die Dichtung 
kongenial illustriert. Aus einem inneren auf 
wühlenden Erlebnis heraus wurde das Werk ge 
boren. Wagenfeld geht in dem Epos ganz eigene 
Wege. Gott schuf den Menschen, der Teufel den 
Tod. Mit der Sintflut beginnt für den grausen 
Schnitter die Ernte; aber bald fürchtet er, daß 
seine Sense stumpf wird. Da führt der Teufel den 
Tod durch die Welt und zeigt ihm, daß die Mensch 
heit in ihrer Blindheit dem Tode selber die Sense 
schleifen hilft. Die sieben Todsünden sind es, die 
dem Dichter nun den Vorwurf zu sieben Gesängen 
geben, die auch sprachlich Bewunderung erzwingen. 
Zarteste Lyrik klingt auf, wird abgelöst von volks 
liedartigen Strophen, wird dann plötzlich balla 
des!, gleitet in dis Alltagssprache über, und im 
Gesang von der Faulheit blitzt sogar feiner Hu 
mor auf. Das besonders schöne lyrische „Naospiell" 
Gesana des Dichters, durck» die blühende 
Zum freundlichen alten „Naohber Daut" ist 
der Schnitter Tod bei Wibbelt geworden. Fast 
tut es ihm leid, daß er soviel Leben vernichten 
muß, und er lächelt milde, wenn er sieht, wie die 
geängstigten Menschen vor seiner Sense fliehen, 
auch wenn er sie rosenumrankt hat. 
Bei dem Hamburger Lyriker Hans Much ist 
der Tod nicht nur der Gärtner, sondern sogar der 
Menschheit bester Freund. Schon in seinem Ee- 
dichtband „To Hus" klingt dieses Thema an, daß 
dann in den Zyklen des „Nedderdütschen Dooden- 
danzes" (illustriert von Willy von Beckerath) in 
einer Weise gestaltet ist wie nie zuvor in platt 
deutscher Lyrik. Auf der frühlingsbunten Wiese 
unterm Blütendach des prangenden Apfelbaumes 
liegt müde der Tod und singt sich selbst in den 
Traum; dann wandert er fiedelnd weiter und 
weckt neue Blumen aus dem Schlaf; aber in des 
Sommers Schwüle wohnt er auch im vernichten 
den Blitz; im Herbst pflanzt er in die rote Heide 
den schwarzen Machandelbaum und hängt sich dann 
des Winters Hermelin um die Schultern. Hin und 
wieder liegt über einzelnen Strophen ein wenig 
vom Hauch kühler Gedanken; aber recht oft zeichnet 
Much wahrhaft poetisch-packendö Bilder, wie z. B. 
in 
Auch Hermann Claudius sinnt gern über Tod 
und Ewigkeit nach. Immer tiefer dringt der 
grübelnde Dichter in das Wesen der letzten Dinge 
vor; aber immer gewaltiger reckt sich dann vor 
ihm auch Gott auf, der hinter dem großen Ge 
heimnis steht. In „Mank Muern" ist der Tod 
noch etwas Elementares, blind Vernichtendes; 
aber später singt der Dichter: 
„. . . . Nu gah ick 
jümmer ünner din Ogen. 
Mi dücht, se kikt frllndlich op mi. 
Dood, 
dat Lewen in't Deepste, 
wat is 't anners as een Lüchten üm di?" 
Bei keinem unserer zeitgenössischen plattdeut 
schen Dichter spielt aber der Tod eine so alles be 
herrschende Rolle wie bei Hermann Boßdorf, bei 
dem Leben und Dichten in eins zusammenîchmol- 
1930 
zen. Wie er uns in seiner Selbstbiographie „De 
swatte Mann" erzählt, hat der Tod ihn vom Au 
genblick seiner Geburt an verfolgt; als seine blej» 
che Hand ihn überschattete, da erwuchs plötzlich de« 
niederdeutsche Dichter. Auch Boßdorf ist der Tod 
nicht Feind und Vernichter, sondern Freund und 
Wohltäter. In seiner Lyrik, in seinen ernsten 
Bühnenstücken, immer wieder stoßen wir auf den 
Tod, mag auch der Name wechseln. Aber immer 
steht der Tod im Dienst eines höheren Wesens. 
„Ich bin der Gärtner des Herrn der Welt, 
der ihm den Garten des Lebens bestellt, 
und pflanze euch Menschen nur aus der Zeit 
in die Ewigkeit." 
Soviel die Menschen auch grübeln mögen, so 
sehr sie sich auch aufbäumen, so bitter sie auch 
weinen — das große Rätsel wird niemals ein 
Sterblicher lösen. Johann Hinrich Fehrs hat in 
seiner schlichten niederdeutschen Art das rechte 
Wort gefunden: 
„To 't Leben hört de Dood, 
so will 't de leewe Gott. 
Wie sünd as Bläder op een Boom, 
dat Lewen is een Sommerdroom 
vull Rädels bet to Enn', 
vull Rädels bet to Enn' ..." 
Sonett'> ^ 
Ich ging im Abenddämmer durch die 'Watten 
Und sah die Wasser nebeln in den Prielen 
Und sah der weißen Möwen Flügelschatten 
In scharfen Strichen auf der Dünung spielen. 
Und schimmernd huben sich die nimmersatten, 
Die Silbervögel, nach den schwarzen Sielen. 
Ich sah der Sonne letzten Streif mit matten, 
Geschrägten Lichtem in das Ewige zielen. 
Dawar nicht Himmel,war nicht Meer, nicht Land 
Erschauernd stand ich an des Ewigen Strand; 
Ich fühlte nichts — nur tiefe, tiefe Ruh. 
Dann schwoll die Flut herauf und schnob mir zu 
Auf! Jede Stunde, die dich zaudernd fand, 
Stirbt einer, der viel besser ist als Du! 
*) Das Schlußgedicht aus einer „In memoriam" betitelten Sammlung 
von Sonetten an gefallene Freunde/ von M. Jahn. 
Harm und der Tod. 
Skizze von .Wolfgang Federau. 
Als er ihn das erste Mal traf, war Harm ein 
halbwüchsiger Junge. Ein richtiger Junge von 
knapp sechzehn Jahren. Einer, wie wir sie mögen: 
frisch, hell, tapfer und ritterlich. 
Harm stak damals tief in jener ersten großen 
Leidenschaft, die jeden Knaben zugleich mit dem 
Stimmwechsel zu überfallen pflegt. Der Gegen 
stand war ein blond und braunes Mädchen von 
jener Art, wie sie an der Wasserkante wachsen. Es 
hieß Liesbeth und hatte einen herben, frischen 
Mund, den Harm ums Leben gern einmal geküßt 
hätte. Natürlich kam es nie dazu, denn to tapfer 
er auch war, dazu gebrach es ihm doch an Akut. 
Selbstverständlich hielt er seine Liebe geheim 
And eben so selbstverständlich wußten die Hälfte 
seiner Klasse darum, seine gesamte nähere und 
entferntere Verwandtschaft, obgleich man taktvoll 
genug war, es ihm zu sagen. 
Aber an einem Abend, als Harm mit dem 
erstaunlichen Appetit dieses Lebensalters einen 
Berg belegter Schnitten vertigte, sagte seine äl 
teste Schwester Ruth mit einem spöttischen und 
überlegenen Lächeln. „Uebrigens, Harm, vorhin 
traf ich im Park deine Liesbeth. Aber sie hat mich 
nicht gesehen — sie war so stark beschäftigt . . 
„Wieso?" fragte Harm. 
„Wieso? Na — sie ging in Begleitung." 
„Von wem?" 
„Von Klaus Moor, deinem Klassenkamera 
den." 
Harm schob den Teller mit einer heftigen Be 
wegung zurück. Er fühlte sich plötzlich gesättigt 
„Und . . . was taten sie?" stotterte er. 
„Ach — ich habe nicht darauf geachtet. So 
neugierig bin ich doch nicht," entgegnete Ruth. 
„War sie . . . war sie fröhlich?" bohrte Harm 
weiter. 
„Ja, ich denke doch. Jedenfalls waren sie bei 
de sehr lustig und aufgekratzt." 
„Gute Nacht," sagte Harm leise und stand auf 
Oben in seinem Kämmerchen warf er sich in Klei 
dern aufs Bett und starrte lange Zeit mit bren 
nenden Augen ins Dunkle. „Mein Herz ist ge 
brochen," dachte er endlich. Und eine seltsam«
	        
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