123. Jahrgang
123. Jahrgang
SorrnLag,den 14. September
Sonntagsgedanken.
Sie sind allzumal Sünder und man
geln des Ruhmes, den sie an Gott ha
ben sollten. (Röm. 3, Vers 23.)
Den Spruch haben wir als Schulkinder
auswendig gelernt und ohne jeden Herzens-
öruck aufgesagt. Er gehörte eben zur christli
chen Heilslehre, und dann kam ja auch die
tröstliche Verkündigung der Gnade sofort hin
terdrein. So nahm man also diesen Gedan
ken unschwer hin, wie man man auch anderes
lernte, weil es eben gelehrt wurde.
Heute, wo wir erwachsen sind, brauchen
wir dieses Wort auch als etwas Selbstver
ständliches, aber praktischer. Es dient mei
stens zur bequemen Ausrede: „Wir haben ja
alle unsre Fehler". Die Meinung ist dann:
Wie kann man von uns verlangen, daß wir
fehlerfrei sind? Haben alle ihre Fehler, so
haben wir ein Recht, auch unsre Fehler zu
haben, und niemand darf uns darüber Vor
würfe machen. So dient uns das Wort zur
billigen Selbstberuhigung und zunr Selbst-
trost, wenn uns Vorwürfe treffen oder unser
eigenes Gewissen uns aufrütteln möchte. Ricift
so leicht sind wir gegen anderer Leute Fehler
ebenso nachsichtig, obwohl das eigentlich doch
die logische Folgerung wäre. Aber sei es
drum! Was regen wir uns über andere groß
auf? Wir haben unsere, andere haben ihre
Fehler. „Wir sind ja allzumal Sünder!" Da
wächst dann allerdings die Gefahr heraus, daß
man alles gehen läßt, wie es geht, oder we
nigstens an Menschen und Dinge nur einen
relativen Maßstab legt, und daß jedes Ideal
von vornherein gebrochen erscheint. Ein wirk
licher Höhenflug wird dann nicht mehr ver
sucht.
Das ist freilich der Tod alles Strebens
und Lebens. Wo daher noch Lebensgefühl
herrscht, da läßt man diesen Satz nicht gelten,
daß alle Menschen von vornherein nur „Sün
der" sind. Darum lehnt die leicht begeisterte
Jugend, ja jeder, der noch Ideale hochhält, der
strebt und andere zum Streben anspornen
möchte, diese Gebrochenheit ab. Darum will
unsere Zeit in ihrem männlichen Kraftgefühl
vom „Armesündertum" nichts hören. Das de
mütigt nicht nur den Stolz der Menschen, es
hemmt auch die Tatkraft. Man müßte ja folge
richtiger Weise alles gehen lassen, wie es
läuft. Es gäbe vor lauter ohnmächtigem
Seufzen bald keine Verantwortlichkeit mehr.
Darum weg mit diesem Armesündertum!
Predigen wir lieber, daß wir Menschen gut
sind, damit wir gut werden! Locken wir das
Gute im Menschen hervor! Damit kommen
wir weiter. Denn damit entfesseln wir
Streben und Kräfte.
Ganz recht! Wenn nur nicht doch unser
Wort recht behielte! Oder hätte es Unrecht?
Tritt es nicht gerade in unsern Tagen un
widerleglich immer wieder zu Tage, wie alle
Menschen wurmstichig sind, wie wir Sumpf,
Korruption, Bestechlichkeit, Leichtfertigkeit,
Geiz, Ehrsucht mit oft unanständiger Gesin
nung finden in Kreisen und bei Menschen, bei
denen man es nie gedacht? Oeffnen uns nicht
die Skandale, von denen fast jede Zeitung be
richtet, die Augen? Wir wählen zum Reichs
tag. Welche Partei hat eine ganz saubere
Weste? Menschelt es nicht überall, auch in den
Kirchen, auch in den frömmsten Vereinen? Wo
ist ein Mensch ohne Bruch und Riß? Wer
machte keine Fehler, hätte keine Fehler?
Also sind wir denn doch rettungslos zur
Hoffnungslosigkeit verdammt? Alles vollide
ale Streben wäre Schwärmerei? Die Gebro
chenheit, die Halbheit wäre das Letzte, stumpfe
Ergebung in die Erbärmlichkeit das Wahre?
— Nimmermehr! Aber es gilt zunächst, sich
ganz nüchtern auf den Boden der Tatsachen
zu stellen. Dann geht es einem etwa, wis
einem jungen Lehrer, der eine Schulklasse an
tritt, in der durch Schuld des Vorgängers al
les verlottert ist. Tie Kinder ahnen gar nicht,
wie unwissend sie sind. Bei ihren Unarten
denkt sich kein Mensch etwas. Man ist den
Schlendrian eben gewohnt. Aber der neue Leh
rer empfindet den Zustand mit herbem
Schmerz, und weil er ganz neu und frisch
hereinkommt, schafft er Wandel. So ähnlich
gilts, zunächst ganz offen, zu sehen und an
zuerkennen, wie heruntergekommen wir sind,
und wie alle Richtungen, Parteien und Men
schen, auch die sich zu Reformen anbieten,
selbst brüchig sind. Das wirkt erschütternd, ge
rade wenn wir an unseres Volkes heiß er
sehnten Aufstieg denken. Aber es hilft uns,
daß wir nun das Heil nicht von einer Men-
schenscite her erwarten, wo doch nur wieder
alles von Sünde infiziert ist, sondern daß
wir ausschauen und warten auf die Tat Got
tes, die uns Erlösung und Rettung bringt.
I---,- / Das Gesicht der Landschaft.
mit Weröekraft begabt
dynamischen Kräfte prallen an starrer Tekto
nik ab, die faustische Energie erlahmt am
schönen Schein. Die Kunst verstärkt den Ein.
druck. Die Seele ahnt in der Majestät klafft,
scher Renaissance die des Todes, ahnt die be
zwingende Macht raffaelitischer Magie, aber
sie sieht zugleich die Maske Platos, erkennt
die Tyrannis antiken Geistes, der Generati
onen von Jahrhunderten als der Botmäßig
keit des dogmatischen Humanismus unterwor
fen waren, und mit barocker Wucht durchbricht
sie den Raum. Hier regiert ewig Sophrosyne,
die helfenden Halbgötter schlummern, die
Landschaft elysäisch geworden.
Zurück zum Norden durch Wald- und
Berglandschaft. Da trifft ihr Blick den Dom.
Mit seinen Verstrebungen und Schwibbogen,
mit seinen Hoch- und Seitenschiffen und all
den Krabben, Knöpfen und Standbildern in
Nischen und Klüften wird er ihr plötzlich als
steinerner Wald des Lebens offenbar. Sie
sieht in der Dämmerung aus Erkern und
Winkeln die Schatten springen, sieht unter
Jochbögen grauenerweckend Echsen und
Schlangen kriechen, sie sieht die Rosetten der
hohen Buntscheiben im Lichte der Untergangs
sonne erglühen, sieht wie das Gottesauge, das
Wodansauge mit seinem Spähblick das tiefste
Dunkel durchdringt, und sie erbebt. Die Pfei
ler scheinen sich wie Halme zu wiegen, die
Fialen wie Fruchtdolden zu entknospen. Der
Dom tönt. Ein spitzbogenhafter Aufgesang, ein
sinnensreudig-hohes Lied auf die Schönheit,
Fülle und Macht unendlichen Lebens trägt die
Seele empor. Sie fühlt, der Aom ist der Wald-
landschaft erwachsen.
Aber wie? Schließlich hat sich dies öom-l
hafte Formwerden erschöpft. Es gilt die ge
genwärtigen Kräfte neu zu binden. Die Land
schaft selber muß sprechen. Welche macht die
Seele am stärksten werdefreudig?
So sucht sie weiter und wandert wohl
durch wogendes Wiesenland mit Knick und
Haselbusch, durch sichtweite Moore mit
schwarzbraunem Torfstich und leuchtenden von
Machangeln bestandenen Heiöestrecken, die sich
menschenleer, wie von unbegreiflicher Trauer
erfüllt, ausbreiten. Raubvogelschrei durchgellt
die Stille, gespenstisch kluckern die Tiefen, doch
die Seele sich in Zwiesprache mit diesem Ge
sicht am stärksten bewahrheitet fühlt, wo alle
schöpferischen Verhältnisse als wesensver
wandt erkannt und bis in die Hintergründe
ahnungsvoll-sicher begriffen werden.
Solchermaßen erlebt die Seele wohl
ihre Odyssee: erst spät erreicht sie ihr Jthaka.
Die Ferne lockt: mit vollen Segeln steuert sie
wohl voll Sehnsucht nach heiterem Himmel
südwärts. Da sieht sie die Landschaft in voll
endeter Schönheit prangen. Obeliskenförmig
und massig stehen Cypressen, aus schwebenden
Kronen ragender Pinien tönt Vogellockruf,
und azurblau leuchtet weithin das Meer.
Raudfest, ein ornamentales Band, strömen
Flüsse durch laubarmes Flachland. In der
Taghelle schimmern Bauten gleißend und
grell. Die Luft ist trocken-klar, das Licht ste
hend, der Schatten gegenstehend, alles tritt
gegenständlich hervor.
Da will es scheinen, als ob das Werden
als Sein verfestigt läge: soweit im Leben ist
zu nah am Tod (Hebbel).. Da ist kein Spiel-
Notsiagge.
Von Hans Friedrich B l u n ck.
Der Ewer lag mit dem Stewen in jeder
Gischt. Die übergeschlagene Ladung drückte
das Schiff vornüber, Notflaggen natterten an
seinem kahlen Großmast und am Fockstumpf.
Der Wind pflückte an den Leimvandfetzen
und trieb das Fahrzeug störrig auf die Elb
bucht zu. Er gab nicht mehr viel drum, er legte
es mit denen an, die ihm die See bestreiten.
Um die lecke Steinladung war es doch in einer
dieser Stunden geschehen.
Der Schiffer am Steuer spürte es wohl.
Er starrte ohne viel Hoffnung, mit übernäch
tigten Augen, in die einförmige Fläche. In
seiner tauben Müdigkeit war ihm mitunter,
als führe der Ewer längst jenseits der Wirk
lichkeit. Um ihn schien's nicht schade, wäre es
schon so weit. Leid tat's ihm um seines Bru
ders Weib, das vor ihm an der Luke hockte,
die Arme fest um die Hölzer geschlungen.
Die Notflagge hing über Hinnerk Reels.
Winter um Winter hatte er verzweifelt gegen
die Not gekämpft. Erst zum Ende, als sein
Weib gestorben war, wgr er zusammengebro
chen. Von da ab n>7r das Leben ihm ein lang
sames Verdämmern geworden, das an einem
dieser Tage zu Ende gehen mußte: ob jetzt,
ob später, er fragte wenig danach.
Ter Himmel lag wie eine graue Steppe
tief über'm Wasser, die Becher, die vor'm
Wind näherkamen, schienen aus ihm nieder
zu stürzen. Mitunter sprangen einige Wege
dazwischen auf, aus denen schäumende Böen
über's Meer stürzen. Dann neigte sich der
Ewer tiefer vornüber.
Der Schiffer fiel wieder in fieberndes
Träumen, das die Erschöpfung der Nacht in
ihm weckte. Einmal dachte er an die, die vor
ihm kauerte. War seines Bruders Witwe,
hatte in Hamburg Arbeit suchen wollen. Sie
hatte die Nacht über mit ihm wie ein Tier
Um ihr Leben gekämpft. Jetzt, da der Sturm
nachgelassen hatte, war sie zusammengebro
chen. Er empfand ein tiefes Mitleiden mit
ihr, wagte nicht, sie hinunter zu schicken, weil
niemand wußte, wie rasch es mit dem Schiff
zu Ende gehen würde.
Der halbwache Schlaf kam wieder über
Neels und mit ihm eine entspannende Nach
giebigkeit. Wie eine Erlösung schien ihm,
wenn seine Einsamkeit mit der Tiefe eins
würde. Er fühlte keinen Zwang zu bleiben,
bleierne Müdigkeit dämpfte seinen Willen zu
den grauen Augenblicken, die über ihn ka
men, wenn er die Lider schloß.
Im Westen stieg das Gewölk dunkler auf,
der Himmel zerriß und zerlappte, das Rollen
der See hallte von oben wider und schlug
dumpf zur Ferne. Die Wogen brachen här
ter gegen das Heck: einmal leckte ein Spritzer
hoch in die Notflagge über der Fock. Die Frau
war davon aufgefahren, riß einen Augenblick
verzweifelt an den Stricken, mit denen sie sich
angebunden hatte, und begriff dann, wo sie
war. Mühselig, mit halb erstorbenen Gliedern,
löste sie sich, richtete sich hoch und stierte über
die graue Wüste, auf der kein Segel sichtbar
war. Ihr Blick blieb fragend auf Hinnerk
Neels haften. Der sah an ihr vorbei, sie störte
ihn in seinen dämmernden Gedanken. Da kroch
sie langsam an der Luke entlang zu ihm ans
Steuer.
„Wie weit ist es?" fragte sie. Er nickte
nach vorn, der Bug tauchte tiefer, warf im
Aufspringen einen hohen Gischtflug übers
Deck und rollte wieder in die nächste Woge
hinein. Einmal schien es, als wollte eine
Ohnmacht über die Frau kommen. Aber ehe
der Schiffer zupackte, hatte sie selbst ein schlin
gerndes Tau ergriffen und um sich geschlun
gen.
Ihr Lebenswille rührte Neels. Die, welche
da vor ihm kauerte, kämpfte gegen das Un
vermeidliche, störte ihn, der in dämmernder
Müdigkeit auf das Schicksal wartete. „Hilft
uns nichts", dachte er und biß die Zähne zu
sammen, „es geht aufs Ende." Aber das
Weib wurde wacher und das Entsetzen mit
ihr. Hilfesuchend starrte sie in die Weite. Ihre
Kraft schien mit der Furcht zu wachsen, ihre
Augen klüfteten durch die tiefhäugenden Wol
ken, bohrten in die verhängten Weiten.
die Luke, glaubte, jeden Augenblick müsse ihn
ein Brecher über Bord spülen. Aber während
er das Segel packte, der Besam zu schlingern
begann und mit den gelösten Tauen die
Leinwand von oben stürzte, war es, als
zwänge ein fremder Befehl ihn körperlich, als
bewegte er sich für das Weib, mit der Kraft
der Fäuste, mit der sie ihn geweckt hatte.
Das Schiff begann hilfloser zu treiben,
Reels blickte zum Steuer zurück, hörte die
Schreie und Rufe der Frau, er sah, wie der
fremde, graue Rumpf ihnen nahe war, sah,
wie er unklar wurde, und dann, nach einer
Weile, wie ein tanzendes Boot auf den
Gischtköpfen stand. Da kam es auch über ihn,
daß das Leben noch einmal in ihm auffie
berte, er arbeitete sich mit stoßender Brust zu
rück, schlang die Stricke um und wartete Kör--
per an Körper mit dem Weib auf das dunkle
Boot, das sich näher und näher arbeitete. Und
während er sich gegen sie lehnte, spürte er
dumpf, wie ein Treiben nach Leben von ihr
ausströmte.
Der Ewer stampfte und schlingerte unter
den Brechern, das Deck tauchte schräg vorn
über, hob sich und sog sich wieder voll in der
brechenden Gischt. Es kann jeden Augenblick
aus sein, dachte Hinnerk Reels noch einmal,
aber er fühlte, wie die Angst von der andern
zu ihm kroch, die Angst um ihrer beiden Le
ben. Ein Tau flog herüber. Schreie kamen
mit der Gischt. Er lockerte die Stricke, begann
zurückzuschrecken, und dann, auf einmal, stieß
der Wille zum Leben gewaltsam in ihm hoch.
Wie ein Baum reckte sich der Schiffer, faßte
den Leib der Frau und warf sich, als das
Boot mit einer Welle längsseits kam, mit
einem gewaltigen Satz drüben unter die Ru
derer, Er schlug schwer auf, hob sich wieder:
ihm war, als müsse er zurück, als sei er nur
aufgelebt, um die zu retten, die das Schiff ge
rufen hatte. Aber er fühlte, daß ihre Arme
sich fest um ihn klammerten, er sah, wie Wo
gen und Gischt drüben um den sinkenden Ewer
brandeten. Und er fühlte ein neues, däm
merndes Bewußtsein in sich und stöhnte tief
und glücklich dem Leben entgegen.
ten. Jetzt reckte sie sich, als wollte sie ihm
helfen, das Ruder zu-halten. Es hilft uns ja
nichts, dachte der Schiffer wieder. Wußte sie
nicht, daß es zu Ende ging? Er sah die
Sturmböen im Rücken näher kommen, wie
dunkle Tücher schleppten die Regen hinter
ihnen her. Kälte trieb voran, er fühlte sie
schüttelnd in seinem Rücken stehen. Reels
wußte, irgendwann, in Augenblicken oder
nach einer Weile, mußten die Brecher das
Schiffe querwerfen und die Luken vollschlagen.
Er hielt das Ruder in der erstarrten Faust,
suchte an sein Weib zu denken, das aus ihn
wartete. Langsam spürte er, wie die Erschöp
fung als Dämmerung, die er nicht mehr
durchdringen konnte, sich wieder um ihn wand.
Einmal fuhr er hoch. Die Frau hatte das
Holz in seiner Hand gepackt, schrie ihn an, er
verstand es nicht. Da wies sie rückwärts. In
den Böen querab stand gespenstisch ein grauer
Leib, eine blasse Masse von Segeln, die oben
in den Regen tauchte. Der Schiffer sah stumpf,
ungläubig hinüber, wollte etwas sagen und
taumelte. Der Regen war rasch, deckte wieder
alles ein. Aber das Weib packte und schüttelte
ihn und gab nicht nach, ihre Finger krallten
sich in seine Schultern, schrill schrie sie ihn an.
Der Schiffer sah noch einmal ungläubig hin
über, der Fremde trat wieder als grauer
Schatten heraus. Da verstand der Schiffer, daß
es Wirklichkeit wurde. Er blickte die Frau
erstaunt an, als käme das Unbegreifliche von
ihr, und sah, daß der große Segler rascher zu
fahren schien als die dunklen Sturmwolken,
die noch im Westen' umeinander kreisten. Er
kämpfte gegen die Betäubung um sich her,
wollte überlegen, aber seine Knie schwankten.
Da knotete das Weib schon die Stricke auf,
die ihn hielten, stieß ihn, schrie, wies zum
Notsegel und packte das Ruder mit beiden
Händen. Er begriff, was sie von ihm wollte,
fühlte, wie sein Kopf kreiste, und kroch über