Full text: Newspaper volume (1930, Bd. 3)

Das Lübecker 
kin-erfterben. 
Berlin, 5, Juli. Der Direktor des Reichs 
gesundheitsamts, Prof. Dr. Haendel. hat heute 
Gelegenheit genommen, vor der Presse einen 
Zwischenbericht über den Stand der Untersuchun 
gen wegen des Lübecker Kindersterbens zu geben. 
Eingangs stellte Prof. Haendel fest, daß nach 
seiner Ueberzeugung nicht davon die Rede sein 
könne, daß die Lübecker Aerzte irgendeinen Versuch 
der Vertuschung der Zusammenhänge vorgenom 
men haben. Im Gegenteil könne, so erklärt Prof. 
Haendel, festgestellt werden, daß alle Lübecker 
Stellen mit Einschluß der beschuldigten Aerzte 
Deycke und Kloß in der entgegenkommendsten 
Weise die Untersuchungen gefördert und unterstützt 
haben. 
Die Untersuchungen im einzelnen hätten sich 
in drei Richtungen bewegen müssen. Zunächst sei 
zu untersuchen gewesen, ob die Kulturen dadurch 
Veränderungen erhalten haben, daß sie in Deutsch 
land au? anderem Wege gezogen werden als in 
Paris. Die Untersuchungen hierüber sind noch 
nicht abgeschlossen. 1927 habe sich bereits das Ge 
sundheitsamt mit diesem Tuberkuloseschutzverfah 
ren beschäftigt, habe aber keine Anzeichen dafür 
bekommen können, daß es möglich sei, die Virulenz 
der .Präparate zu steigern. Bei den damaligen 
Versuchen sei es jedenfalls nicht geglückt auf künst 
lichem Wege eine solche Virulenzsteigerung zu er- 
Zielen^ Die jetzige Untersuchung sei nochmals auf 
diese Frage ausgedehnt worden, aber es sei wenig 
wahrsechinlich, daß heute ein positives Ergebnis 
zustande käme. 
Die zweite Frage, die zu untersuchen gewesen 
ist, war die, ob eine Verwandlung der Kulturen 
vorgelegen habe. Auch hier sind die Untersuchun 
gen noch nicht abgeschlossen und werden noch etwa 
vier Wochen in Anspruch nehmen. Jedoch sei auch 
das nicht sehr wahrscheinlich. 
Ş Die größte Wahrsechinlichkeit hat die dritte 
Möglichkeit, daß es sich um eine Vermengung zwi 
schen virulenten Teilen mit tuberkulösen Kulturen 
handelt. Eine einwandfreie Feststellung ist aber 
auch ui dieser Richtung noch nicht möglich gewesen. 
Im übrigen erklärt Professor Haendel,"daß die 
Annahme der Öffentlichkeit, daß durch persönliche 
Differenzen zwischen Professor Deyke und Pro 
fessor Kloß das Kindersterben in Lübeck einen so 
großen Umfang angenommen hätte, unrichtig sei. 
Im Gegenteil könne er feststellen, daß auch Prof. 
Kloß bei den Beratungen des Lübecker Eesund- 
heitsrats sich für die Einführung des Calmette- 
Verfahrens ausgesprochen habe. Im übrigen sei 
nach wie vor Fühlung mit Professor Ealmette in 
Paris vorhanden. Von irgendwelchen Differen 
zen könne jedenfalls keine Rede sein. 
folge einer aufsteigenden Gewitterbö kurz 
nach dem Start in Köln-Poll eine Notlandung 
vornehmen. Der Druck von oben war so stark, 
daß Gefahr bestand, daß der Ballon auf das 
Dach eines Hauses abgetrieben würde. Ob 
wohl zehn Sack Ballast abgeworfen wurden, 
konnte der Ballonführer Geußgen (Kölns den 
Sturz nicht mehr verhindern. Bei dem Sturz 
wurden der Führer und die beiden Mitfah 
rer leicht verletzt. Der vierte Mitfahrer, Ju 
stizrat Deußen (Krefelds, erlitt innere Ver 
letzungen und einen Bruch der Schädelbasis. 
Er ist im Laufe des Vormittags seinen Ver 
letzungen erlegen. 
Weitere Ballonunfälle beim Rheinlaud- 
Vefreiungsflug. 
TU. Köln, 5. Juli. Der Ballon-Wettbe 
werb des Rheinland-Befreiungsfluges scheint 
unter einem ungünstigen Stern zu stehen. 
Kurze Zeit nach dem Start mußte der Bal 
lon „Gelsenkirchen - Buer" bei Eile in der 
Nähe von Godesberg niedergehen. Bei der 
Landung wurde ein Mitfahrender leicht ver 
letzt. Der Ballon „Karl Bammler" mußte 
gleich hinter Köln bei Gremberghoven landen. 
Diese Ballons sowie der verunglückte „Köln" 
wurden besonders von dem gerade aufziehen 
den Gewitter betroffen. 
Sftsere Slagppgifáe... 
... bet Worms 
TU. Worms, 8. Juli. Auf der Bürger- 
weide stürzte ein Kleinflugzeug, Marke 
Klemm, das dem Kölner Verein für Luftfahrt 
gehört, ab. Es stürzte aus 20 Meter Höhe auf 
den Boden und wurde fast vollkommen zer 
trümmert. Der Führer Naöatz erlitt einen 
Beinbruch, sein Begleiter Schmitz eine Ge 
hirnerschütterung. 
... in Frankreich 
WTB. Paris, 5. Juli. Der bekannte An 
hänger und Förderer des Flugsportes, Graf 
de Precourt, verunglückte in seinem eigenen 
Flugzeug. Er kam in dichten Nebel und 
stürzte ab. Beim Aufschlagen auf den Boden 
geriet das Flugzeug in Brand. Die drei In 
sassen verbrannten. 
Der neue Fingrestord. 
23 Tage in der Luft. 
Chikago, 8. Juli. Das Flugzeug „City of 
Chikago", mit dem die Gebrüder Hunter den 
Weltrekord im Dauerflug mit Tanken in der Luft 
gebrochen haben ,ist, wie berichtet, nach einem 
331 Stunden, d. h. 23 Tage und 2 Stunden wäh- 
Ņden Flug glatt auf dem Flugplatz Sky Har 
bour gelandet. Damit haben die Gebrüder Hunter 
den im Juli 1929 von den Fliegern Dale Jackson 
und Forest O'brien aufgestllten Rekord um bei 
nahe 131 Stunden überboten. Der Bruch eines 
Oelleitungsrohres hatte das Flugzeug zum Nieder 
gehen gezwungen, sonst hätten die Gebrüder Hun 
ter vielleicht ihre ursprüngliche Absicht, den Re 
kordflug am amerikanischen Nationalfeiertag zu 
beenden, noch übertroffen. 
/rndslêon-Kbllirrr im 
Nhàêaà 
WTB. Köln, 5. Juli. Der bei Sem Frei 
ballonwettbewerb in der Nähe öes Flugha 
fens Köln-Butzweilerhof außer Wettbewerb 
aufgestiegene Freiballon „Köln" mußte in- 
^ Anläßlich des Festtages hatte sich auf dem 
Flugcklatz eine besonders zahlreiche Menschen 
menge eingefunden, die den Fliegern begeisterte 
Ovationen darbrachten. Die beiden Brüder wur 
den in den Ruheraum des Flugzeugschuppens ge 
bracht, und sanken sofort in einen tiefen Schlaf. 
Der Flug der Gebrüder Hunter, die seit 23 
Tagen über dem Flugplatz kreisten, stellt eine bei 
spielslose Leistung des Motors und der beiden 
Flieger dar. Sie konnten sich in den letzten Tagen 
des Fluges nur mit übermenschlicher Energie wach 
halten. Durch abgeworfene Zettel berichteten sie, 
daß sie mit Hilfe dauernden Genusses von schwar 
zem Kaffee ihre Nerven, die sonst wohl versagt 
hätten, von neuem anregten. Der anhaltende 
Lärm der Motoren hat sie vollkommen taub ge 
macht und sie werden wohl einiger Ruhezeit be 
dürfen, bis sie ihr Gehör wieder erlangen. Wäh 
rend des Fluges haben sie mehrere Reparaturen 
vorgenommen. Beispielsweise bestieg dabei einer 
die Tragflächen des Flugzeuges, während der 
andere weiter steuerte. Dabei hatten die Flie 
ger in ihren Sitzen kaum genügend Raum, um sich 
zu bewegen. 
Aber auch die Führer des Tankflugzeuges. 
Albert und Walter Hunter, die Brüder der Pilo 
ten, haben eine große Leistung vollbracht. Die 
Versorgung des Rekordflugzeuges mit Betriebs 
stoff stellte an ihre Geschicklichkeit die höchsten 
Anforderungen. Sie mußten dicht an der „City 
of Chicago" fliegen und ihr Flugzeug stets genau 
parallel dem Rekordflugzeug halten. Auch mit 
Lebensmitteln mußten sie dis Flieger versorgen. 
Schwerer Schifsszusannneuststz in der Adria. 
WTB. Zara, 6. Juli. Das italienische Mo 
torschiff „Francesco Marosini" stieß in der 
vergangenen Nacht in der Meerenge von Pas- 
man mit dem südslavischen Dampfer „Karage- 
orgevitsch" zusammen. Die „Karageorvitsch" 
wurde schwer beschädigt, ihre 400 Passagiere 
wurden von dem italienischen Schiff übernom 
men und nach Zara gebracht. Bier von ihnen 
wurden bei dem Zusammenstoß getötet. 17 
waren so schwer verletzt, daß sie nach der Lan 
dung ins Krankenhaus gebracht werden muß 
ten. 
Max Schmeling wieder in der Heimat. 
Tic Ankunft des Weltmeisters und seiner Mutter (neben ihm) in dem Berli 
ner Flughafen Tempelhofer Feld, wo er von seinen Freunden und Anhän- 
gern begrüßt wurde. 
Drahtseilanschlag auf Automobils 
Gifhorn. 5. Juli. Auf der Landstraße zwischen 
Salzwedel und Brome entdeckten gestern abend 
öwei Kraftwagenfahrer au« Isenbüttel und 
Gifhorn im Scheinwerferlicht ein quer über die 
Straße gespanntes Seil. Durch scharfes Bremsen 
konnte der Wagen dicht vor dem Hindernis zum 
Stehen gebracht werden. Es wurde festgestellt, daß 
es sich um ein aus schweren Drähten bestehendes 
Seil handelte, das an den Chausseebäumen bei 
derseits der Straße angebracht mat. Die zustän 
dige Landjäger stelle wurde verständigt. 
Atttylenknng mit Hertz'schen Welle«. 
In Barcelona wurde am Sonntag erst 
malig ein führerloses Auto mit Hilfe von 
Hertz'schen Wellen, die von einem hinter ihm 
fahrenden Kraftwagen ausgesandt wurden, 
durch die Hauptverkehrsstraßen ohne jeden 
Zwischenfall gesteuert. 
vie AtlantiRmädels. 
Roman von G. Meerstedt. 
(Nachdruck verboten.) 
Aber Diabelli war ein geriebener Kunde. Ehe 
die beiden Mädels dazu kamen, einen neuen Kon 
trakt zu unterschreiben, legte er ihnen lieber selber 
noch einmal einen vor. Die Zahlen, die in den an 
deren Kontrakten paradiert hatten, kannte er. 
Schraubte er die seinen also noch etwas höher! Das 
kam immer dabei heraus. 
Während die Mädels seinen Kontrakt prüften, 
wagte Diabelli noch den bescheidenen Vorstoß, daß 
sie im Grunde genommen ja seinem Kunstinsütui 
den Aufstieg zu danken hätten. — 
„Halt, mein Lieber", Alary hat sich in Positur 
^setzt, „umgedreht wird ein Schuh darausl Sie 
steigen nämlich mit uns und wir nicht mit Ihnen. 
Im Höchstfälle würde ich gelten lassen, daß wir ge 
meinschaftlich steigen. Nur nicht protzen! Das ha 
ben die Herren Direktoren so leicht an sich. Ueber 
den Kontrakt ließe sich aber reden, wenn Sie uns 
eine kleine Aenderung gestatten wollen." 
Und Mary streicht kühn, als unterschriebe sie 
schon fünfundzwanzig Jahre lang Kontrakte, die 
Diabellische Zahl aus und setzte eine andere dafür 
hin. 
Am nächsten Tage mietete man sich auf den 
Halbjahrskontrakt hin zu dritt eine hübsche möb 
lierte Wohnung. Ein kleiner dienstbarer Geist wur- 
de engagiert, dem Mary die Hamburger Mädchen 
haube in Form einer Raupe aus weißen Spitzen auf 
setzte — und dann kam man sich wie die Krösusse 
vor. Mary kochte Hamburger Aalsuppe, daß sie 
selbst ein Hamburger Hafenarbeiter nicht hätte stehen 
lassen. Und Hela buk echten Wiener Kaiserschmarrn 
zur Iau^e. Leopold Egg aber verteilte seine Lie 
benswürdigkeit zwischen den Leiden Mädels so 
gleichmäßig, daß man wirklich nicht wußte, zu wel 
chem er denn nun eigentlich gehörte. Was man so 
unter gehören versteht. 
In Oesterreich steht ein altes Schloß. Ls drückt 
sich in eine Flußbiegung, wie so manche alte Schlös 
ser. Diesmal ist es die schöne, von einem Johann 
Strauß unsterblich gemachte blaue Donau. In dem 
Schloß wohnt ein armer Teufel, wie heut« so oft 
in alten Schlössern. Man cnlt nur noch wenig, 
seit die Wiener Hofburg für jeden offen, ist. Und 
man hat nur noch die Hälfte von dem, was man 
früher hatte. Das heißt, auch dann noch mußte 
man Glück gehabt haben. Der arme Teufel, der in 
dem alten Schlote haust, ist ein reizender Mensch. 
Er hat das Glück gehabt, nur die Hälfte seiner 
Habe zu verlieren. Er heißt Leopold von Kronegg, 
hatte zum K. u. K. Deutschmeister-Regiment gehört 
und war fünfzig Jahre alt. Er hatte eine jugend 
lich straffe Figur, leicht angegrautes Haar über einem 
länglich schmalen Gesicht, aber wenn man die lusti 
gen Augen sah, dann wurde das graue Haar dar 
über blond. Eine Frau hatte Leopold von Kronegg 
nicht. Er hotte in seinem Leben zu viele Frauen 
gehabt, um eine einzige wirklich haben zu können. 
Er war auch etwas exzentrisch, was sich Leute mit 
alten Schlössern, auch wenn sie nicht mehr so reich 
sind, wie früher, leisten können. Und er konnte zu 
Eis gefrieren, wenn fremde Menschen in seine Nahe 
kamen. Es fei denn, daß diese Menschen zwei hübsche 
Beinerl und ein kurzes Röckerl aufzuweisen hatten. 
Das Köpferl natürlich in erster Linie nicht zu ver 
gessen. 
Der Poldi Kronegg lebte ziemlich einsam in sei 
nem alten Schlosse. In Wien war kein Betrieb 
mehr. Und anderswo auch nicht. Das Volk mischte 
sich überall zu sehr unter einen. So wie sich heute 
manchmal der Adel unter das Volk mischte. Frei 
willig. Leopold von Kronegg schätzte das nicht. 
Das Mischen war übrigens auch in seiner Fa 
milie vorgekommen. Sogar noch etwas Tolleres. 
Zwei Geschwister, denen er Onkel war, eben ver 
waist und schon länger verarmt, hatten den eis 
gekühlten Kaviar, den er vorläufig vorzusetzen ge 
willt war — eine Stiftsstelle für das Mädel in ab 
sehbarer Zeit und eine Unterkunft für den Jun 
gen bei irgendeinem Standesgenossen sollte beschafft 
werden — als Gnadenbrot bezeichnet und waren 
auf und davon gegangen, um sich selbständig zu 
machen. Wenn sich aber Adelige von heute, die 
jung und hübsch sind, selbständig machen, dann 
gehen sie manchmal zum Film oder zum Dariete 
oder zum Zirkus. Und nur in Ausnahmefällen hei 
raten sie jemand mit Namen Astor oder Vanderbilt. 
Ueber diese Art der Selbständigmachung ließe sich 
noch immerhin reden. Alles andere aber war 
Eselei. 
Der fesche Poldi. der keinen lieben alten Franz 
Joseph mehr hatte und keine Hofbälle und keine 
^eschen Kameraden in Uniform, hatte wenigstens 
'einen Haushofmeister behalten. Den konnte keiner 
absetzen, als er allein. Stenzler ging in hochade 
ligen Kniehosen umher, schwarzseidenen Strümpfen 
und Schnallenschuhen. Er hielt das Haus von allen 
größeren und inneren Einflüssen frei. Er war mit 
unter noch ttrenaer als lein Herr. Aber sonst war 
er ein Gemüt, das sich nach dem alten behaglichen 
„getüblvosien" Wien zurück''ebnte. wie nach einer 
warmen Stube. So recht plauschen konnte heute 
gar keiner mehr. Alles schrie. Sogar die netten 
Wiener Mädels, die früher gern und mit Luft die 
Wäsche gewaschen, die Stuben gefegt, die Einkäufe 
besorgt hatten. Es war ihnen nie etwas abgegan 
gen früher unter dem Schutze ihrer Herrschaft. Sie 
waren freier gewesen, als heute in der Freiheit. 
Aber sie schrien mit, weil man sich in Wien das 
Schreien nun mal angewöhnt hatte. So waren die 
Gesinnungen und die Empfindungen der Häupter 
auf Schloß Kronegg — ganz Alt-Wien. Uebrigens 
hatte Schloß Kronegg noch ein drittes Haupt. Ca 
cilia Hupereit, die Schöpferin der Gugelhupf 
schmarrn, Backhähnel und was fönst noch ein Alt- 
Wiener Herz erfreut. Sie war ebenfalls „adelig" 
bis auf die Knochen und verkehrte mit dem Hilfs 
personal, das zu halten man gelegentlich gezwungen 
war, genau wie Stenzler auch, nur beruflich. Die 
beiden Alten schufteten für drei, nur um nicht so 
oft fremdes Volk im Hause haben zu müssen. Zu 
dem bewohnte ja der Schloßherr auch nur einzelne 
Zimmer und pflegte nur ausnahmsweise einmal Be 
such zu haben. Das waren dann Leute seiner Kreise. 
Adelige Hofräte, die „gegangen worden waren", 
die jetzt im Hofe wohnten und rieten, wovon sie 
leben wollten, wenn die Versicherung, die sie ver 
traten, mal eine Woche nichts abwarf. Oder ehe 
malige Kameraden, die in einem Bonkhaufe unter 
geschlüpft waren und zwischen den Zahlen und 
Geldscheinen ihre alte Sorglosigkeit verloren hatten. 
Jeden, der so kam und „abgeglänzt" hatte, 
nahm Cacilia an ihren gewaltigen Busen. Sie 
machte ihm die schönsten Mehlspeisen zurecht. Buk 
ihm den zartesten Blätterteig und briet ihm das 
knusperige Ganserl. Pflaster für den Augenblick. 
Und wenn sie bei der mühseligen und zeitraubenden 
Arbeit des Rupfens diejenigen Revue passieren ließ, 
die alle einmal etwas gewesen waren und nach de 
nen heute kein Hahn mehr krähte, dann kamen im 
mer als erste zwei blonde Geschwister. Die Kinder 
der seelensguten Frau Helene von Kronegg, die 
während der Revolution gestorben war und nun 
im Erbbegräbnis derer von Kronegg ruhte. 
Cacilia ging mit ihrem gnädigen Herrn Poldi 
durch Dick und Dünn, aber in der Sache mit der 
kleinen Komtesse Hela und dem jungen gnädigen 
Herrn Leopold, hatte er sich nicht richtig benommen. 
Mutet dem jungen, feschen Ding zu, in ein adeliges 
Damenstift zu gehen, in dem mindestens neun Zehn 
tel der Damen wegen hohen Mers mit dem Kopfe 
wackelten und sich nvr durch Hörrohre verständigten. 
Und der junae Herr Leopold sollte iroendwo unter 
gebracht werden, wo es standesgemäß, ober wahr 
scheinlich nicht schön war — anstatt die Leiden zu 
fragen, wie sie sich denn ihr künftiges Leben däch 
ten. Wer jung war, wollte doch an die Sonne und 
nicht in einem Kapitelsaal sitzen, fromme Sprüche 
lesen und sich als Jüngste Hofmeistern lassen. Oder 
wie der junge Herr Leopold als armer Standes 
genosse den letzten Zipfel von der Tafel einnehmen 
und den Herren noch dem Essen das Feuerzeug für 
die Zigarren hinhalten. Daß die beiden ihr Gepäck 
genommen hatten und auf und davon gegangen 
waren — konnte man es ihnen verdenken? Beson 
ders der Hela nicht, die schon als Kind ziemlich 
selbständig gewesen war und den um ein paar Jahre 
älteren Leopold bemuttert hatte. Hätte der Herr 
Poldi nicht zu den beiden sogen können, bleibt dau 
ernd bei mir, anstatt sie sich vorübergehend zu Gaste 
zu laden? Me Hela würde sehr nett die Honneurs 
gemacht haben, das verstand sie aus dem Effeff. Und 
für den Leopold wäre reichlich in den großen For 
sten des gnädigen Herrn Poldi zu tun gewesen. Das 
Wachstum der Bäume schützen, das Wild zu pflegen 
und abzuschießen, wäre eines adeligen Herrn wür 
dig gewesen. Cäcilia konnte sich in allen Stan 
desfragen sehr gut aus. Dafür hatte sie für den 
gnädigen Herrn PoW auch die erjren Windeln ge 
waschen. Wiewohl sie niemals in fünfzig Jahren 
auch nur die leiseste Andeutung in dieser delikaten 
Angelegenheit gemacht, oder sich diese Tatsache sonst 
irgendwie zunutze gemacht hatte. 
Aber wie das mit der seligen Frau Helene war. 
war auch gerade das mit der unseligen Sepherl ge 
wesen, die der gnädige Herr Poldi in einem Kaffee 
garten kennengelernt hatte, wo sie sang. Und um 
dieser Sepherl willen, der es nachher beliebt hatte, 
den gnädigen Herrn Poldi aufsitzen zu lassen, waren 
ihm wohl die jungen Verwandten unbequem ge 
wesen. Wenn Männer erst graue Haare haben, 
sind sie schlimmer ajs^die Jungen. Sie fallen aber 
auch dafür mehr hinein, als die Jungen. Und als 
der Hereinsall mit Pauken und Trompeten kam, da 
hatte sich Cäcilia, trotzdem sie ihren gnädigen Herrn 
Poldi liebte, und ihm vor fünfzig Jahren die Win 
deln gewaschen hatte, ins Fäustchen gelacht. Aber 
den beiden armen Hascherle hatte das Sehendwerden 
des Herrn Poldi nichts mehr genützt. Und außer 
Cäcilia, die sich freute, daß'sie in einer Sache recht 
bekam, die sie freilich nie öffentlich vertreten harte, 
hatte nur noch die Sepherl gelacht, die ziemlich be 
schwert, zum Teil ohne Herrn Poldis Wissen und 
Willen, abgezogen war. 
Gehört hatte Cäcilia nichts wieder von den bei 
den. Rur ein Brief in nicht adeligem Umschlag war 
einmal gekommen mit Helene von Kronegg als Ab 
sender. Er hatte dann mit auf dem Tablett ge 
legen, das Stenzler znm Abräumen benutzte. 
(Fortsetzung folgt.) 
Ölte
	        
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