Kunst gewidmet ist, kann — und darf — der
Politik nur beschränkt Kräfte widmen. Mein Va
ter ist gewiß heute ebenso sehr und tief gefühls
mäßig Welfe, wie damals, als er seine Laufbahn
als Verwaltungsbeamter aufgab. Ich glaube nicht,
daß ich mehr als vier- oder sechsmal im Leben mit
ihm über politische Dinge gesprochen habe. Daß
ich nicht Welfe im Parteisinne bin, sondern nur
in einer Art geschichtlichen Romantizismus, hat
niemals den geringsten Zwist zwischen uns er
geben.
Wie köstlich waren jene Jahre zwischen 1890
und 1895, da ich gemeinsam mit meinem Bruder
das alte Lyzeum 2 besuchte! Mir scheint aus der
Erinnerung, als ob das fröhliche Lachen meiner
drei Schwestern und der trockene Humor meines
Bruders durch alle jene Tage klangen, als ob wir
täglich ein Dutzend Freunde und Freundinnen um
unseren Tisch sahen, täglich zur Klavierbegleitung
unserer lieben Mutter Volkslieder sangen und
täglich an Mittag- und Abendessen sich Tänze an
schlössen, von denen damals Gavotte und Menuett
zu dem alten Bestandteil von Quadrille, Francais,
Tempete, Walzer, Polka mit seinen Abarten,
Rheinländer und Galopp hinzukamen. Wir hat
ten «ine köstliche selige Kindheit in dem alten
russigen Haus in der Landschaftsstraße!
Meine Versmacherei blühte in diesem Garten
der liebevollsten Anteilnahme aller an den Betä
tigungen aller natürlich wie ein Bauerngarten
nn Juni, Zwischen 60 und 150 Gedichte schrieb
ich damals alljährlich, alle wurden in großem
Kreise vorgelesen und erbarmungslos-liebevoll be
urteilt.
Meine alttestamentarischen Balladen schrieb
ich unter dem Eindruck wiederholten Besuches in
der Hannoverschen Synagoge mit meinem Schul
freund Ludwig Heynemann, und es ist mir ein
lieber Zufall, daß ich gerade ihn vor wenigen Wo
chen auf der menschenvollen Leipziger Straße traf,
wie er eben in einen Vortrag von mir gehen
wollte. Ein freundliches Schicksal schenkte mir die
Gabe einer weitausgebreiteten und regen Freund-
jchaft, so daß ich alle meine vielen Freunde, so
weit sie der Krieg mir ließ, noch heute kenne und
lieb habe, so wirre und verschiedene Wege uns
das Schicksal auch führte.
So lebhaft nun auch die Anteilnahme meines
Elternhauses an mittelalterlicher Kunst war —
der zeitgenössischen stand sie fremd gegenüber. Ich
glaube nicht, daß ich als Schüler mehr als zwei
mal im Theater war und auch die Gemäldegalerien
waren uns allen ziemlich fremd. Das bedeutet
gewiß eine Einseitigkeit, und ich habe vor allem
unter der literarischen Leere memos Elternhauses
später lange zu leiden gehabt, da ich nun natür
lich mehr als andere nachzuholen, mehr als an
dere zu vergessen hatte. Wir waren völlig ent
rückt dem Tagesstreit der Kunstmoden, so wie wir
es durch eine gewisse Weltfremdheit unseres Kau
fes auch sonst waren. Wir haben als junge Men
schen nichts geahnt von gesellschaftlicher Streberei,
von höfischen Intriguen, von Klassen- und Ras
senhaß. von Eifersucht etwa auf Eleganz, Rang
und Namen.
Elternhaus — jedes ist ein Paradies für die,
welche als Kinder in „just diesem" leben durften.
Aber ich glaube doch, daß wir fünf Geschwister
das unsere nicht nur von uns aus als ein Para
dies bezeichnen dürfen. Viele hunderte von Freun-
fcen haben es uns später viele Lausend Male be
stätigt: Euer Elternhaus halte einen Stil, der we
der vorher noch nachher da war, es wehte eine
Luft der Freiheit, der Geistigkeit, der Reinheit
durch das alte Haus in der Landschaftsstraße, die
alle glücklich machte, die darin atmen durften. Ich
möchte stundenlang plaudern über mein geliebtes
Elternhaus!
Bunte Welt.
Fassadenkonkurrenz.
Die Stadt Paris hat für die Hausbesitzer und
Architekten eine Konkurrenz ausgeschrieben: von
den im Jahre 1929 erbauten Häusern sollen die
jenigen prämiiert werden, die die schönsten Fas
saden haben. Auch ein Wettbewerb der im Jahre
1929 erbauten Eeschäftsportale wird stattfinden
und überdies die Prämiierung der neuen Bauten
(mit Ausnahme von Hotels und Pensionen),
welche den Anforderungen der Hygiene, der Rein
lichkeit und Bequemlichkeit in allen Wohnungen
einschließlich der des Portiers am besten entspre
chen und deren Mietzinse am preiswertesten sind.
In einer Zeit, da die Wohnfrage eine so
wichtige Rolle im Leben aller Völker spielt, kann
die Initiative der Stadt Paris nicht warm genug
begrüßt werden. In den Händen der Architekten
liegt die Gestaltung der Schönheit einer Stadt,
dis Angleichung der Wohnbauten an die Zeitbe-
dllrfnifse. Je mehr der Geschmack der Allgemein
heit sich auf das Moderne einstellt, um so wichti
ger sind derlei Wettbewerbe, wie der eben aus
geschriebene, denn sie fördern das Verständnis des
Publikums für das Talent und Können der Ar
chitekten und geben den Baukünstlern einen sicht
baren Beweis des Interesses der Obrigkeit an
ihrem Werke.
Die Dynastie Bernet:
vier Generationen begabter Maler.
Im Museum von Avignon finden sich Frag
mente von Bildern Antoine Vernets. Die Mal-
weife ist etwas primitiv, aber fleißig und gewis
senhaft. ^ 1689 geboren, starb er 1753 und hinter
ließ dreizehn lebende Kinder, von denen mehrere
seine Kunstbegabung erbten. Von seinen Söhnen
war Jean-Antoine Bildhauer in Avignon, An-
toine-Jgnace Maler — sein Werk „Ausbruch des
Vesuvs" ist bekannt —, Francois-Gabriel Ma
rine- und Architekturenmaler, Antoine-Francois
chmückte den Saal des Theaters von Versailles
mit Malereien und schließlich Joseph Vernet, der
berühmteste Sproß der Familie.
__ Von Anfang an schien der der begabteste und
! h sandte ihn der Vater nach Italien, wo er die
Antike studierte. Charakteristisch für seine Freude
an..der Schönheit des Meeres ist folgende Episode:
Während eines Sturmes auf offenem Meere ließ
er sich an den Mast festbinden, um die Wellen und
den Gewitterhimmel besser studieren zu können.
Er wurde der beliebteste, berühmteste Maler sei
ner Zeit, Mitglied der Akademie und begann eine
Serie Hafenstudien, die er aus Geldmangel nicht
zu Ende führen konnte.
Sein Sohn Claude Vernet erhielt 1782 den
Rompreis. Als Begleiter des ersten Konsuls reiste
er nach Italien, von wo er Skizzen mitbrachte,
nach denen er zahlreiche historische Gemälde schuf.
Er hatte aber auch viel Sinn für Humor und
seine Karikaturen brachten ganz Paris zum La
chen. Claudes Sohn Horace hatte die Vielseitig
keit und Produktivität seiner Ahnen geerbt. Von
seiner Hand stammen Zeichnungen, Modekupfer,
Karikaturen. Wie sein Vater hatte er eine beson
dere Vorliebe für militärische und historische Bil
der sowie Eenreszenen. Von seiner Algierreise im
Jahre 1835 brachte er interessante Gemälde heim.
Er starb mit 74 Jahren.
Immer noch vererbt sich die malerische Be
gabung in dieser Familie. Die Tochter Antoine
Vernets hatte sich mit dem Bildhauer Honore
Gilbert vermählt und aus dieser Verbindung
stammt eine Reihe berühmter Bildhauer und
Goldschmiede, die unter dem Namen Eilbert-Ver-
net bekannt wurden. Es ist wohl äußerst selten,
daß künstlerische Begabung durch so viele Gene
rationen vererbt wird, noch seltener kommt es
aber vor, daß, wie bei der Familie Vernet, die
Nachgeborenen auf dem hohen Niveau der Ahnen
bleiben.
Wochenend.
Das^ „Wochenend" ist für den Deutschen eine
verhältnismäßig neue Errungenschaft. Erst einige
Jahre nach dem Kriege kam es als „Weekend"
aus England zu uns. Und es dauerte wieder
etliche Jahre, bis dieser englische Import zum
„Wochenend" verdeutscht wurde. Ist das Wort
wirklich eine Neuschöpfung? Die meisten werden
es wohl bisher dafür gehalten haben.
Aber es kann bald seinen hundertsten Ge
burtstag feiern! Denn Karl Gutzkow hat es ge
prägt. In seinem „Uriel Acosta", den er 1846
in Paris schrieb, kommt das Wort zum ersten
Male vor. Da sagt im ersten Auftritt des zwei
ten Aufzuges Judith zu ihrem Vater Manafse
Vanderstraten, der klagt, daß ihn die Sorgen von
der Börse in Amsterdam bis in seine Villa ver
folgen:
..Hab' ich nicht alles festlich hergerichtet,
Wie Jhr's am Wochenende liebt? Sind Gäste,
Wie Ihr gewohnt, zu Tische nicht beschieden?"
Wort und Begriff sind, wie man sieht. 1846
schon genau so da wie heute. Der Großstädter
geht aufs La nd, verläßt die Stadt, die Stätte sei
ner Arbeit und sucht Erholung und Vergnügen
auf seinem Landsitz.
Und gerade in der Dichtung muß das Wort,
das uns heute so neu dünkt wie der Begriff, den
cs bezeichnet, zuerst erscheinen, in der der weise
Rabbi Ben Akiba auf die Bühne kommt, um zu
verkünden: „Und alles ist schon einmal dagewe-
ien." Auch das so moderne Wochenend, es ist
schon dagewesen!
Ein Dorf wird von der Braunkohle verschlungen.
Das unweit des Vraunkohlenverfandbahnhofs
Luckenau an der Strecke Weißenfels—Zeitz ge
legene Dörfchen Daumnitz soll diesen Winter vom
Erdboden verschwinden, weil die sich unter ihm
hinziehenden Braunkohlenlager wertvoller sind als
das Dorf. Dis Werfchrn-Weißenfelser Braun-
kohlen-A.-G. hat das ganze Dorf mit Flur erwor
ben, vom Staate die Erlaubnis erhalten, das
ganze Dorf abzubrechen und die 10 Meter unter
der Oberfläche liegende, etwa 20 Meter starke
Braunkohlenschicht abzubauen. Diese Kohle ist
besonders fetthaltig und eignet sich gut zur Aus
beute in der Schwelerei. Dis 328 Seelen zählende
Bevölkerung wird anderweit Wohnung erhalten.
§um Sächeln und Lachen
Eben deshalb!
„Welches Glück, lieber Schmidt, du kommst
wie gerufen! Höre mal, du kennst mich doch nun
schon fünf Jahre, nicht wahr?"
„Allerdings."
„Ach, dann borg' mir doch, bitte, mal hundert
Mark!"
„Liebster Krause, das ich nicht."
„Was, du kannst nicht? Aber warum denn
nicht?"
„Weil ich dich fünf Jahre kenne!"
Bestätigung.
„Herr Direktor, man hat nur schon oft gesagt,
ich hätte Gold in der Kehle!"
„Schon möglich. Wahrscheinlich können Sis
deshalb nicht singen!"
Beruhigend.
Ein geiziger und ängstlich für sein Wohl be
sorgter Patient fragte den Professor gegen Ende
einer längeren Konsultation: „Ist die Operation
auch nicht lebensgefährlich?" — „Woher", ent
gegnet« der Professor, „für hundert Franken kön
nen Cie keine lebensgefährlichen Operationen
verlangen!"
Schach-Lcke.
Geleitet von Schachmeister Ali. BrînSâarm. Kier,
Holtenauer Straße 228.
(Anschrift an die Adresse.)
Aufgabe Nr. 7.
Bon Berger.
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Stärker als der Tod.
Roman von Hans Sdiulze.
7 ) (Nachdruck verboten.)
Und immer wieder jagten sich die entsetzlichen
Gedanken durch sein schmerzendes Hirn, wie in
einem ewig geschlossenen Kreise.
Du bist ja zum Tode verurteilt!
In zweimal 24 Stunden mußt du mit klaren
Sinnen, aus freiern Entschluß, in der Vollkraft
deines Lebens dem letzten Ende entgegengehen!"
Das konnte doch nicht sein!
Das war ja Unsinn, Unmöglichkeit!
Zum Tode verurteilt!
Ganz deutlich sah er die furchtbaren Worte in
riesigen schwarzen Buchstaben vor sich an der matt-
beleuchteten Wand wie den Titel einer phantastischen
Novelle in einem amerikanischen Dutzendmagazin.
Und plötzlich ertrug er die qualvolle Spannung
seiner Nerven nicht länger, daß er in den Erker
trat und die Fenster weit aufriß.
Nur Luft zur Freiheit, zum Atmen!
Draußen webt das erste rote Dämmern der
Frühnacht.
Don der Terrasse einer Nachbarvilla klang das
Lachen und Plaudern weinfroher Menschen.
Bunte Lampen flammten über hellen Korb
sesseln.
Und dann verstummte auf einmal die lärmende
Fröhlichkeit. Und aus den präludierenden Akkor
den eines Flügels formte sich das zitternde Gespinst
einer sehnsüchtigen Melodie:
„De tat d'amour, de tat d'iversses
Que restent-tils? Quelques fleurs"
fang eine wunderschöne Frauenstimme.
Wie ein Fieberschauer schüttelte es den ein
samen Lauscher.
„Que restent-ils? Quelques fleurs," wieder
holte er leise.
Noch einmal erhob sich die Melodie in weh
mütiger Klage, um gleich darauf in den kunstvollen
Arpeggien des Nachspiels langsam dahinzusterben.
Dann wieder die große Stille der Sommer
nacht. —
Kurt schreckte empor.
Sein Gesicht war grau und wie von irrer Angst
verzerrt.
a b c d e < g n
Matt in 2 Zügen.
Weiß: Kh7, Dc8, Lei. Sh6 und b6, Bf6, f3
Schwarz: Ke5, Te6, Bd7, d6, d4, e7
Eine durch ihre Verführungen besonders wertvolle
Aufgabe des Altmeisters.
Ein Endspiel von Rinck.
Stellung: Weiß: Kb7, Se4, Lh4, Bd2, g6 (5)
Schwarz: Kd4. Tal, Bb6, g7 (4)
Weiß zieht und gewinnt.
Dem Bauern g6 fällt die Entscheidunq zu. Er
muß zu diesem Zweck frei werden, ohne allerdings
bei seinem weiteren Vormarsch aufgehalten wer
den zu können.
1. Lh4—f6-f-!
Dient dem ersteren Zwecke. Der Läufer muß
wegen der Bedrohung des Tal genommen werden.
1. g 7Xf6
2. Se4—g3!
Und das dem zweiten. Der Turm könnte nur
von gl aus den Bauern g6 aufhalten. Das Feld
gl ist jetzt aber wegen der Wendung Se2+ ge
sperrt. Die weiße Dame ist nicht mehr zu hindern
uno ore Partie öamit verloren.
Mit zwei, drei Schritten stand er auf der Diele
und griff nach Stock und Hut.
In der nächsten Minute jagte er wie ein ge
hetztes Wild plan- und ziellos in das schweigende
Dunkel hinaus.
3.
Kurt wohnte feit einem halben Jahr in der
Hartkornfchen Pension in Schlachtensee, wohin er
durch ihre zufällige Empfehlung eines befreundc-
ten Schauspielers verschlagen worden war.
Die Inhaberin dieser Fremdenherberge, die
ebenso gutmütige wie unendlich rundliche Frau
Emilie Hartkort, hatte vor grauen Jahren als ju
gendliche Naive und muntere Liebhaberin an ver
schiedenen süddeutschen Hoftheatern geglänzt, bis
sie allmählich mit zunehmender Körperfülle in das
Fach der Salondamen hinübergewechselt war und
sich vor dem letzten Abstieg zur komischen Alten m:t
einer auskömmlichen Rente und einer nie versa
genden Begeisterung für die wettbedeutenden Bret
ter in das Privatleben zurückgezogen hatte.
Bald darauf war sie dann zur allgemeinen Ue-
berrafchung ihres Freundeskreises eine etwas un
durchsichtige Ehe eingegangen.
Und zwar mit dem Vertreter eines persischen
Teppichhauses, einem düster-blickenden Mann mit
einem betörenden pechschwarzen Schnurrbart, der
ihr anfänglich einen beschädigten Afghan aufzu
schwatzen versucht und sich dann in rascher Erfas
sung der Situation mit einem entschlossenen Front
wechsel schon am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft
im Herzen und in dem gemütlichen Heim der an
lehnungsbedürftigen Exschaufpielerin dauernd ein
genistet hatte.
Auf seine Veranlassung hatte Frau Emilie die
kleine Residenz, wo sie bisher gewohnt, mit Berlin
vertauscht und war klug genug gewesen, ihre Bar
mittel in der Anzahlung für ein Pensionat in
Schlachtensee festzulegen und sie damit sowohl vor
dem begehrlichen Zugriff ihres neugebackenen Ehe
mannes als auch vor dem Lawinensturz der deut-
chen Inflation zu bewahren.
Der Gatte, an dem sie trotz feiner bald durch-
chauten moralischen Brüchigkeit mit unerschütter
licher Zuneigung hing, hotte indes nach und nach
alle Entwicklungsstufen der Nachtriegswirtschaft
durchgemocht.
Ein winziges Ladenlokal in einer Seitenstraße
des Kurfürstendammes wurde der Schauplatz seiner
kaufmännischen Unternehmungen, die in bunter
Reihenfolge als Likörstube, Effekten- und Hypothe
kenbank, Confiserie Parisienne mit Geheimverschleiß
von Kokain und Morphium, Radiomaterialhandlung
und so fort aufgezogen wurde.
Als ihm dann mit der Einführung der Renten
mark der Boden für feine etwas luftigen Geschäfte
entzogen war, hatte er sich allmählich wieder an den
h,äuslü>n Herd nach Schlachtenfee zurückgewöhnt
und führte hier, bis auf zeitweilige kleine Besor
gungen und Botengänge, ein völlig drohnenhaftes
Leben, schlief b's in den Hellen Morgen hinein und
faß nachmittags meist in einem verschossenen Cu
taway mit der Würde eines abgebauten Diplomaten
Zeitung lesend und ungezählt« Zigaretten rauchend,
als Repräsentant in der großen EmpfangSdiele
des Erdgeschosses.
Die Pension hatte sich inzwischen dank ihrer
ruhigen Lage und ausgezeichneten Verpflegung
vor allem in den Kreisen der Bühnen- und Artisten
welt einen bedeutenden Ruf erworben.
So gehörte eine Anzahl bekannter Künstler des
Wintergartens und der Skala bei ihren regelmäßig
wiederkehrenden Engagements trotz der beträcht
lichen Entfernung von der inneren Stadt zum
eisernen Bestand des Hauses, so daß Frau Hartkort
«die Sterne des Varietees allmählich ebenso vertraut
geworden waren wie die in ihrer Erinnerung schon
langsam verblassenden Heldendarsteller der süddeut
schen Hostheater.
Der ewig vergnügte italienische Kunstschütze, ein
Doppelgänger Carusos von schlagender Aehnlich-
keit, der seit Jahren die Hauptstädte aller Konti
nente bereiste, fand die gleiche gastliche Aufnahme
wie die verwegenen mexikanischen Luftakrobaten,
die mit ihrem dreifachen Salto am fliegenden Tra
pez in sachverständigen Kreisen für sichere Todes
kandidaten galten, oder die amerikanischen Exzen-
trics mit ihrer bildschönen Schwester, deren mäd
chenhafte Anmut bei den plumpen Späßen des
Clownduetts die Bühne erhellte.
Zugleich mit ihr war zum Mai-Engagement
eine kleine englische Tänzerin über den Kanal ge
kommen, ein halbes Kind noch, von unerhörter Gra
zie und Lieblichkeit, die in London und Neuyork
bereits mit Gagen und Heiratsanträgen über-
chüttet worden war, und die kinderlose Frau Hart
kort hütete diese beiden zarten Gewächse des inter
nationalen Kulturgartens mit mütterlich-zärlicher
Besorgtheit.
Kurt war schon in aller Morgenfrühe mit einem
der ersten Züge von Schlachtenfee nach Wannsce
herübergekommen.
Ursprünglich hatte er die Absicht gehabt, Wal
ter von Prayer-aufzusuchen und mit dem Freunde,
der ihm seelisch am nächsten stand, den letzten Tag
seines Lebens zu verleben.
Dann aber hatte er sich am Schwedischen Pa
villon ein Segelboot gemietet und viele Stunden
ohne Zeit und Ziel auf den, See gekreuzt.
Gegen Mittag war er endlich in einer einsamen
Bucht vor Anker gegangen und hatte sich hier auf
dem Steilhang des Ufers in dem wehenden Grafe
gelagert.
In wundervollen, weichen Windungen schwang
sich das schimmernde Band der Havel um die grü
nen Linien der Wälder.
Und aus der träumenden Stille der großen
Einsamkeit formte sich ihm wieder die furchtbare
Vorstellung, die ihn schon seit zwei Tagen ruhelos
umhergehest hatte und erst vor der jubelnden Klar-
lheit dieses vollerblUhten Maitages für kurze, selbst
vergessene Augenblicke in ihm zurückgetreten war:
Morgen um d:e-elbe Zeit, wenn die gleiche Sonne
über der schlichten Schönheit dieses verlassenen
Hei-dewinkels flammte, war die Uhr seines Lebens
abgelaufen.
Und eine Woche später, am selben Tage wie
heute, lag er bereits hundert Stunden unter der
Erde.
Ein vom Schicksal zermalmter, verlorener
Mensch, über dessen rätselhaften Tod die Welt viel
leicht am nächsten Tage schon mitleidlos hinweg
gegangen war. —
Mit einem verzweifelten Ruck fuhr der Sin
nende in die Höhe.
Ob ihn auch Evelyn so schnell vergessen würde?
Dort drüben in blaßblaucr Ferne leuchtete ihr
weißes Haus aus den dunklen Uferwäldern.
Damit sie in Glanz und Sonne weiterleben
konnte, mußte er heute noch sterben.
(Fortsetzung folgt.)