Full text: Newspaper volume (1930, Bd. 3)

25.»- 
60.00 
99.5» 
78.00 
139.0 
152.5 
138.0 
105.0 
21.00 
(15.0 
161.0 
97.75 
125.5 
Ls 
1930 
itroä&t!) 
121.85 
120.55 
162.45 
10805 
1311* 
143® 
90.45 
7125 
Nisse. 
remen 
239 
1st 193. 
m 
a 
XJC 
[ l«ķ 
tur M 
- Käb 
. über 
Nach- 
Preise 
;es'Ucht- 
Mer-ek 
leben 
-55 
-52 
-47 
82 
—62 
-65 
-66 
-62 
Nr. 200 
Zur Unterhaltung 
oei[0gg der Şchleswļg.Holsteļnļschen Landeszeļtung (Rendsburger Tageblatt) 
Mittwoch, den 27. August 1930 
MUàèà aU Kàèà'» 
Söhne von Geldfürsten, die sich selbständig machten. 
Don Eva Piek. 
Amerikas heuttge Milliardäre haben fast alle 
ihre Laufbahn als bettelarme Burschen, als Straßen- 
händler, Zeitungsjungen, G-efchäftsdiener und der 
gleichen mehr, begonnen. Nachdem sie dann zum 
Reichtum gelangt, wollten sie ihre Millionen in 
vollen Zügen genießen und sahen sich veranlaßt, 
auf möglichst unsinnige Weise Hr Geld mit beiden 
Härrden zum Fenster herauszuwerfen. Ihre Töch 
ter und Söhne aber wollen eben denselben Weg be- 
lchreiten, den àst ihre Väter gegangen, um auch 
durch allerlei Entbehrungen und Abenteuer zu Mil 
lionen zu gelangen. Mit wachsendem Unbehagen 
lehen das die reichen Väter, können aber gegen den 
Starrsinn der Kinder nichts ausrichten. 
In den lebten Jahren herrscht unter vielen 
amerikanischen Millionären und Milliardären eine 
wahre Panikstimmung, denn ihre Sprößlinge ver 
zichten ganz einfach auf alle Vorteile, die ihnen das 
väterliche Vermögen bietet und wollen ihren Weg, 
ohne von zu Hause auch nur einen Cent Unter 
stützung zu erhalten, selber machen. Heute ist diese 
Flucht aus dem elterlichen Hause geradezu zu einer 
Modeangelegenheit geworden und die armen, reichen 
Eltern wissen nicht, was sie beginnen sollen. Sie 
lassen also ihre Kinder in die Ferne ziehen und 
ebnen ihnen aus der Ferne ihre Wege. Denn das 
ist eben der Unterschied zwischen dem Kampfe der 
ersten und zweiten Generation. Hier eine kleine 
Blutenlese einiger Schildbürgerstteiche, die diese 
vielversprechenden Zöglinge in den letzten Jahren 
aufführten. 
Ş Katherine Mac Comb, die Tochter des mächtigen 
Präsidenten des amerikanischen Stahltvusts, arbei 
tete in einer der Fabriken eines anderen Stahl- 
magnaten. Sie befaß den Ehrgeiz, mit dem Lohne 
einer ungelernten Arbeiterin ihr Auskommen zu 
finden. Zu Beginn ihrer Tätigkeit bewohnte Jte 
in dem Arme-Leute-Biertel eine kleine Stube. Kaum 
aber war sie vier Wochen tätig, alls plötzlich ihre 
Vorgesetzten auf sie aufmerksam wurden und sie in 
eine höhere Lohnklasse versetzten. Dieses Aufmerk 
samwerden wiederholte sich regelmäßig in zwei 
wöchigen Abständen. Und nach kurzen drei Mo 
naten war Miß Katherine eine gutbezahlte Be 
amtin öer Fabrik. Zuerst war sie froh und glücklich 
über den schnellen Aufstieg. Dann fiel ihr aber ein: 
„Ich bin ja die Tochter von Mr. Comb." Und nun 
wußte sie alles. Sie ließ also ihre Stelle — Stelle 
sein, eilte schnurstracks zu Hrem Vater, schlug einen 
mächtigen Krach und jetzt will sie wieder Arbeiterin 
werden, aber unter fremdem Stamen. Allerdings, 
ob -ihr dies gelingen wird, ist noch abzuwarten. 
John Scott, dessen Vater einer der reichsten 
Männer in Aamerika ist, hatte in dieser Beziehung 
niehr Glück. Vor -drei Jahren ließ er sich in einem 
kleinen Delikatessengeschäft als Verkäufer anstellen, 
zog in ein kleines Mansardenzimmer, ersparte sich 
während dieser drei Jahre ein Kapital von drei 
tausend Dollar uud machte sich jetzt selbständig. 
Er hofft, im Verlauf von einigen Jahren aus feinem 
Geschäft — ohn?, das väterliche Geld in Anspruch 
'nehmen zu müssen — ein großes Unternehmen zu 
schaffen. Er glaubt, auf -diese Weise die ihm recht- 
mäßig zustehenden Millionen allein verdienen zu 
können. 
Kornelius Vanderbilt fun. hat w-iederum eine 
andere Marotte. Er ist Schriftsteller, wohnt in 
einem einfachen Jnnggesellenheim, besitzt ein kleines 
Zimmer ohne Bedienung und lebt von den Hono 
raren seiner Artikel. Diese werden natürlich, da 
er ein Vanderbilt ist, sehr hoch bewertet, und so hat 
er auch keinen Maßstab, ob er im Ernstfall von seiner 
Arbeit leben könnte. - 
Patrick Buttler, der Sohn des millionenreichen 
Textilfabrikanten William, lebt tatsächlich von dem 
Ertrag seiner Arbeit. Er ist Polizist in der Stadt 
Nvuyork und steht bei brennender Hitze und eisiger 
Kälte stundenlang auf seinem -Posten. Kürzlich, als 
er schon ganze drei Monate in Stellung war, wurde 
er interviewt. Man glaubte nämlich, d-aß dies nur 
eine vorübergehende Laune von ihm sei. Er er 
klärte aber allen Ernstes: „Sie irren. Ich habe mir 
diese Beschäftigung gewählt, denn eben diese Arbeit, 
als armer, einfacher Mann der Allgemeinheit zu 
dienen, verschafft mir das für mich so notwendige 
seelische Gleichgewicht." Allerdings ließ er nichts 
darüber verlauten, ob zu diesem seelischen Gleich 
gewicht auch d-ie väterlichen Millionen notwendig 
sind, denn nach seinem anstrengenden Dienst kehrt 
er wieder in das väterliche Palais zurück. 
Berthe Smith, d-ie schöne und jungle Tochter 
eines schwerreichen Petro-lc-ummagnaten, liebt wie 
derum die häusliche Arbeit. Sie hatte sich in'ihr 
Köpfchen gesetzt, ihren gesamten To-ile-ttenbedarf aus 
eigenem verdienten Gelde zu -decken. Sie nmcht 
Stickereien und diese werden dann an reiche Leute 
verkauft. Und um der Bedauernswerten auf die 
Beine zu helfen, ist es heutzutage in Kalifornien 
geradezu Mode, solche Stickereien zu besitzen. 
NMà tüdf. 
Luftakrobat wider Willen. 
Reichlich aufregend war das Abenteuer, das 
kürzlich der amerikanische Flie-gerleutnant Ryan 
über dem Flugplatz La Crosse erlebte. Unange- 
chnallt begleitete er einen Kameraden bei einem 
Schauflug als Beobachter. Im Angesicht von 
Tausenden von Zuschauern sackte das Flugzeug 
plötzlich in einer Lufttasche nach vorne ab. Der 
Stoß warf Ryan aus seinem Sitz hinaus hoch in 
die Luft. Da er sich nicht durch einen Fallschirm 
-gesichert hatte, glaubte Ryan sein letztes Stünd- 
lein gekommen. Doch sein Kamerad fing das Flug 
zeug wieder auf, und Ryan landete durch Zufall 
auf einem der Flügel. Der Luftdruck riß ihn aber 
sfort zurück, und das Flugzeug glitt unter ihm 
hinweg. Im letzten Augenblick konnte sich der 
Leutnant an einer Verstrebung anklammern. 
Gleichzeitig aber geriet fein Fuß in den Bereich 
eines hinter dem Flügel angebrachten Druckpro 
bellers, Der riß ihm die Sohle vom Schuh und 
schnitt ihm eine Zehe ab. Inzwischen hatte der 
Pilot die Steuerknüppel festgelegt, und nun klet 
terte er auf den Flügel, um seinem Kameraden zu 
helfen. Er konnte Ryan in die Kabine ziehen. 
Dort preßte er ihm, um weiteren Blutverlust zu 
verhindern, die Fußmuskeln mit einer Rohrzange 
zusammen. Dann konnte ohne weiteren Unfall 
die Landung ermöglicht werden. 
Das verhängnisvolle Telephon. 
Ein eigenartiger Schadenersatz pvozeß wird 
jetzt vor den Pariser Gerichten verhandelt. Der 
Kläger ist ein Pariser Rechtsanwalt namens Der 
nier, der gegen einen anderen Pariser namens Thi- 
àlt Schadenersatzansprüche erhebt. Die beiden 
'waren auf ungewöhnliche We-ise miteinander in 
Konflikt gekommen. Sie sind nämlich beide Te-le- 
phonte-ilnehmer nnd hatten -durch ein Versehen die 
selbe Nummer erhalten. Natürlich gab -das zu den 
unangenehmsten Mihverftändn-ifsen Anlaß, und die 
Anklage behauptet nun, daß Dylvcmkt eines Tages, 
als er wieder des öfteren angerufen und nach Ver 
nier gefragt worden war, in feiner Wut erklärte, 
Herr Vernier fei verrückt und in ein Irrenhn.. 
überführt worden. Die Folge dieser Mitteilung 
war, -daß zahlreiche Freunde und Kunden des Rechts 
anwalts aufgeregt in sein Büro kamen, um sich nach 
seinem Ergehen zu erkundigen, und daß sich auch die 
Kunde verbreite, Vernier sei wahnsinnig, was für 
einen Rechtsanwalt immerhin recht peinlich ist. Er 
verlangt nun von Thibault Schadenersatz, der aber 
erklärt, die fragliche Aeußerung nicht getan zu 
haben. 
Eine phantastische Karriere. 
Als der Weltkrieg ausbrach war Severin Ior- 
govits ein einfacher Abiturient eines ungarischen 
Gymnasiums. Er zog als Freiwilliger ins Feld und 
wurde b-al>d Leutnant. Nach Beendigung des Krie 
ges blieb er bei -der Nationalavmee, wo er bis zum 
Hauptmann avancierte. Dann nahm er -den Ab- 
fch-ied, weil ihm der Posten eines Generaldirektors 
einer Budapester Schiffahrtsgesellschaft angeboten 
wurde. Das gefiel ihm aber nicht, und als er 
Geld genug verdient hatte, pachtete er mehrere 
Hotels und Gasthäuser, darunter das berüchtigte 
Vergnügungslükal „Casino de Paris" zu Budapest. 
Schließlich wurde er aber auch dieses Lebens 
überdrüssig, begab sich nach Wien und trat vom grie- 
chifch-ka-tho-Iischen Glauben zur katholischen Kirche 
über, um Priester zu werden. Nach Vollendung der 
theologischen Studien erhielt er die Weihen und 
wurde Priester in einem ungarischen Dorf. Do-ch 
nur für wenige Jahre, denn jetzt ist er zum Bischof 
-der altkotholischen ungarischen Kirche ernannt 
worden. Severin-us, wie er sich nunmehr nennt, ist 
ganze 4-0 Jahre alt und hat sich bisher zweimal 
-mit Erfolg scheiden lassen. 
Rekordzahlen brr der Reichspost. 
Kaum macht sich die Oeffentlichkeit eine Vor 
stellung von dem Umfang des Paket- und Wert 
sendungsverkehrs, den die Reichspost im Laufe 
eines Jahres zu bewältigen hat. Die Betriebs 
ergebnisse, die die Reichspost für die Zeit vom 1. 
April 1929 bis zum 30. März 1930 jetzt vorlegt, 
sehen insgesamt 288,2 Millionen Pakete und Wert 
sendungen vor, die einschließlich des Verkehrs von 
und nach dem Auslands befördert worden sind. 
Der weitaus größte Teil der Sendungen, 279,9 
Millionen, waren gewöhnliche Pakete oder unver 
siegelte Pakete mit Wertangabe. Es wurden außer 
dem 3,7 Millionen versiegelte Wertpakete und 4,6 
Millionen Wertbriefe in einem Gesamtwertbetrag 
von 14,76 Milliarden Mark befördert und ihren 
Empfängern zugestellt. Allein der Auslandsver- 
kehr belief sich auf 4,4 Millionen, aus dem Aus 
land kommende Sendungen, während an Pakel- 
und Wertsendungen 12,13 Millionen von Deutsch 
land in alle Teile der Welt gesandt wurden. 
Heiler« «.ernste SàKsà 
General von Löwenfeld besichtigte ein neu. 
erbautes Offizierska-sino in Hannover, dessen Innen- 
architektur ihm absolut nicht gefallen wollte. 
Am Schluß der Inspektion verabschiedet er sich 
von den Herren mit den Worten: „Wissen Sie, 
woran mich die Bude hier erinnert? An den 
Trompeter von Säckingen: Es ist alles so häßlich 
eingerichtet!" 
•f 
Der frühere Stadtsekretär Wolff tu Braun- 
schweig war Poet und ein lustiger Bruder, beson 
ders als Gelegenheitsdichter konnte er etwas leisten. 
Als einmal zu Ehren des Herzogs illuminiert 
werden sollte, übersandte er einem befreundeten 
Kaufmann auf Ersuchen für ein Transparent fol- 
gende Reime: 
„Das Haus der Welfen soll grünen und blühn! 
Hier ist ein großes Tuch-Magazin. 
Durchlauchtigster Herzo-g! belohne die Treu! 
Reiß alle Tag ein Paar Hosen entzwei." 
Ķèàs Oper. 
Mit einem E i n f ü h r u n g s a b e n d für 
neue und alte Kräfte, die Dirigenten und das Or 
chester hat die Intendanz d-e-r Sache der Oper und 
Operette einen guten Dienst erwiesen. Man hörte, 
im Rahmen eines auf der Bühne spielenden Kon 
zerts, Sologesänge und ist gespannt aus weitere 
Leistungen, die beim Hinzutritt des Lebensele- 
ments des Bühnenkünstlers — des Theaters, des 
Spiels, des Agierens — logischer Weise nur im 
Sinns einer Ausweitung und Steigerung zu er 
warten sind. Man hörte das Orchester und fing 
Feuer; und man versuchte den Gedanken abzu 
wehren, daß ungeheuer Notlage wirklich erzwingen 
könnte, die vorsichtshalber für nächstes Jahr aus 
gesprochene Kündigung dieses ausgezeichneten 
Klangkörpers wahrzumachen. Man sah, wie drei 
Dirigenten, Hans Eahlenbeck, Manfred K ö h- 
l e r und der neue junge Otto Winkler, als 
Führer durch die Partitur die stattliche Musiker- 
schar beseelten und beschwingten. 
Als neue Vertreter des „dunklen Parts" stell 
ten sich mit Arien vor Mela Gilbert (Altistin) 
und Josef Jmmendorf (Bassist), als neue Vertre 
ter der „helleren Lags" Hendrik Appels (Helden- 
tenor), Werner Hamann und Paul Schmidtmann 
(Tenöre). Zu ihnen gesellten sich die bekannten 
bewährten Kräfte: Käthe Traß, Helene Sommer- 
eldt, Else Veith sowie Adolf Martini von der 
Oper und Albert Stiller und Emmy Wöbbeking 
von der Operette. 
Freundlichste Empfindungen des gut besetzten 
Hauses wandten sich allen Künstlern — Solisten, 
Dirigenten und Orchester — zu, und es erstand, 
einige wenige Heine Wünsche weit zurückdrängend, 
d-is starke Gewißheit: Wohlan, das Spiel kann 
beginnen! # 
Gegen üblen Mundgeruch, nach längerer Mundruhe und 
nach dem Rauchen benutze man zum Desodorieren und Aro 
matisieren des Atems eine Spülung mit dem herrlich er 
frischenden Chlorodont-Mundwasser. Flasche 1.— Mk. 
Das Schickrfa! 
im ŞftrîbKhtîMg. 
Skizze von G u st a v Schüren. 
Der Kunstgewerbelehrer Willm Broderfohu 
war ein sehr liebenswerter, trefflich erzogener, nach 
ollem Edlen strebender junger Mann. Leider sin 
bißchen schüchtern. Er hatte sich mehr mit seinen 
Büchern nnd den Dingen -der Kunst beschäftigt als 
mit -dem blühenden Leben und war dabei ein wenig 
einseitig geworden. . 
Sein empfängliches Herz sehnte sich unbewußt 
nach einem gleichgestimmten Herzen. Nur fehlte 
-ihm jeglicher Mut, unter den jungen Mädchen und 
Frauen, die in seinen Gesichtskreis traten, eine 
Wahl zu treffen, ja, überhaupt eine zu finden, von 
-der ein Strahlen ausgegangen wäre, das ihn er 
wärmte und entzündete. So mußte er es mit Seuf 
zen der Zukunft und dem Zufall überlassen, ihm 
eines Tages doch vielleicht das Glück in -den Weg 
zu werfen. 
Er fuhr oft mit der Bahn zu einem nahen, 
idyllisch gelegenen Städtlein, um sich an den krum 
men Gaffen nn-d verschwiegenen alten Winkeln zu 
erfreuen und sich sinnend in eine längst verschwun 
dene, geruhsame Zeit zu versetzen. 
Auf einer dieser Fahrten, die er, seinem etwas 
mageren Geldbeutel entsprechend, in der Holzklaffe 
Unternahm, erschrak er nicht wenig, als er ein jun 
ges Mädchen sich gegenübersitzen sah, aus ^dessen 
Antlitz ihm ein Zauber anstrahlte, wie er ihn noch 
nie beim Anblick eines Weibes empfunden hatte. 
Das Mädchen sah ihn gelegentlich an, wie sich 
d«s in Eisenbahnwagen nicht immer ganz vermei 
nn läßt. Vor allem gefiel es deut jungen Manne. 
Nß die Kleine nicht nach „schüchterner" Mädchen 
Art verschämt -die Blicke senkte. Sie hielt seinen 
Augen stand, um erst nach einer Weile eine andere 
Blickrichtung zu wählen. 
Wie schade, daß man nicht ein Gespräch an- 
«uipjen konnte! Wie dumm, baß der Zug bald 
halten, daß jeder, sie und er, getrennte Wege gehen 
würde, um sich vielleicht, ja sicher, nie im Leben 
wiederzusehen! Willm hatte das traurige Gefühl, 
daß hier das Schicksal, grausam, wie es fein kann, 
einmal im Leben zwei Menschen aneinander vorbei 
führte, die förmlich «ine innere Bestimmung fürein- 
a-nder mit leiser Ahnung verspürten, ohne baß sie 
Mut fanden, ihre Lebensbahnen zu kreuzen. Dann 
mußte Willm innerlich lachen. Was biidcie er sich 
denn ein? Beachtete ihn die Kleine überhaupt? 
Machte er irgend einen Eindruck auf sie? War er 
nicht einer von Tausenden, die ihr täglich begeg 
neten? 
Der Zug hielt. Willm zögerte etwas, als er 
sah, daß sein Gegenüber Anstalten machte, auszu 
steigen. Er folgte unauffällig. Um Himmels wil 
len, daß die Kleine ja nicht etwa merkte, er steige 
ihr nach, wie die Männer zu sagen pflegen. Er sah 
sie über den Bahnsteig, durch die Bahnhofshalle und 
die Hauptstraße des Städtchens gehen. 
^ Sie verschwand in einem Hause. Willm ging 
vorüber und merkte sich die Hausnummer. Diese 
Zahl war alles, was ihm von dem Erlebnis außer 
der lebendigen Erscheinung des Mädchens blieb. 
Ein Sonnenstrahl hinter den Wolken des Alltags. 
Unaufmerk>am pendelte er durch die altvertraulen. 
Gassen. Er sah heute nicht viel. Seine Enttäu 
schung war groß, als er das Mädchen bei der Rück 
fahrt nicht traf. — 
Oester als bisher fuhr Willm jetzt in die kleine, 
alte Stadt. Er sah seine Bekanntschaft nicht wieder. 
Er kannte sie eigentlich schon ganz gut, wirklich. In 
Gedanken hatte er sich ihr vorgestellt, mit ihr ge 
plaudert, ihr geheime Schönheiten des Städtchens 
gezeigt, ihr seine Pläne und Hoffnungen verraten. 
So kam cs. daß Willm Droberfohn das Mäd 
chen,' als er es eines Tages wieder im gleichen 
Zuge traf, freundlich grüßte und erst zu Tode er 
schrak, als sein Gruß mit einem freundlichen Kopf 
nicken beantwortet wurde. Willm bildete sich auf 
diesen Fortschritt manches ein. Im Laufe der Wo 
chen und Monate faßen sie nun öfter im gleichen 
Wagen. Willm wußte es einzurichten, -daß er jedes 
mal nach der Angebeteten den Wagen bestieg und 
sich fo fttze-n konnte, -daß sie sich unauffälli-g beob 
achten ließ. 
Ob sie fein Tun s-cho-n bemerkt hatte? Ob er sie 
ansprach? Eigentlich war es doch die harmloseste 
Sache von der Welt, wenn man sich so oft sah. 
Nein, dazu hatte Willm den Mut nicht. Wie, wenn 
sie ihn aus ihren dunklen Augen fragend oder gar 
mißtrauisch anblickte, nach einem Wort der Höflich 
keit verstummte und ihm zu verstehen gab, daß sie 
seine Annäherung nicht wünschte? 
Da gab es Willm auf. Es sollte wohl nicht 
fein. Das Schicksal hatte offenbar nicht die Ab 
sicht, sie miteinander in Berührung zu bringen. 
Um nicht lästig zu erscheinen, entschloß er sich, nicht 
m«hr in das gleiche Abteil zu gehen. Es war besser, 
wenn er sie nicht mehr so eingehend bettachtete. 
Eines Tages wollte es der Zufall — wirklich 
nur der Zufall? —, daß er doch wieder dem ver 
trauten Mädchen gegenüber saß. Es war in einem 
Abteil für Fahrgäste mit Traglasten. Urplötzlich 
bekam der Wagen einen entsetzlichen Ruck, schwankte 
einen Augenblick fürchterlich. Dann erscholl lau 
tes Krachen und Splittern. 
Willm wollte aufspringen. Da wurde mit 
voller Wucht ein Körper gegen ihn geschleudert. 
Eine Wagenwand zersplitterte. Bretter preßten 
sich an ihn, und als ihm im brausenden Schreck zum 
Bewußtsein kam, daß sich ein Eisenbahnunglück er 
eignet hatte, sah er in seinen Armen das Mädchen 
liegen, das ihm bisher so schmerzlich unerreichbar 
gewesen war. 
Sie lag gegen seine Brust gedrückt und hielt 
-die Arme, die sie abwehrend ausgestreckt haben 
mochte, um seinen Leib geschlungen. Willm konnte 
sich nicht rühren. Er verspürte auch keinerlei 
Schmerz, dagegen etwas wie ein nie gekanntes 
Wonnegefühl. 
Deutlich Hörle er in der Nähe furchtbare 
Schreie. Wenn er nur los könnte, um zu helfen, zu 
retten! Aber irgend eine höhere Macht hatte ihm 
ja -das Mädchen in den Arm gelegt und ihn hier 
eingeklemmt. 
Das Mädchen hielt die Augen geschlossen. War 
es tot? Er versuchte, es zu rütteln. Er sprach in 
heftiger Erregung zärtliche Worte. Die Schultern 
der Geliebten leuchteten ihn in ihrer Weiße wie 
frische Wa-lnußkerne an. 
Sein Herz fühlte eine unnennbare Freude: das 
Mädchen schlu-g die Augen auf, blickte ihn gar nicht 
erschreckt an, sondern überstrahlte ihn mit einem 
za-ubervollen Lächeln. Und dann hörte er die 
Worte: „Sind Sie auch nicht verletzt? Entsetzlich, 
wenn Ihnen etwas geschehen wäre!" 
„Mir ist nichts geschehen, Fräulein. Aber wie 
ist es mit Ihnen? Spüren Si-e Schmerzen?" Da 
lächelte sie wieder, kuschelte ihren Kopf ganz fest 
gegen seine Brust und sagte nur: „Mir ist sehr 
wohl." 
Willm fragte sich später immer wieder, woher 
er in jenem Augenblick den unerhörten Mut nahm, 
des Mädchens Kopf empor zu richten und -die blü 
henden Lippen zu küssen. 
Retter kamen und sägten die beiden aus den 
Trümmern heraus. Es war, als hätte die halbe 
Stunde -die beiden aneinander geschmiegt. Ver 
schämt lösten sie sich aus der unfreiwilligen Um 
armung. Willm brachte d-ie Angebetete in das 
Haus, dessen Nummer ihm so vertraut war. 
Ihre Verwandten bewirteten den Junglehrer, 
und auf der Heimfahrt schlossen die beiden ein enges 
Herzensbündnis, -das ohne die Mithilfe der Eisen 
bahn nie zustande gekommen wäre. 
Wenn Willm gelegentlich feiner kleinen Frau 
mit früher nie besessenem Selbstbewußtsein vor 
hält, -daß er sie sich in -den Trümmern -des Eisenbahn 
wagens -durch seinen Kuß erworben h-abe, wie es 
sich für einen Mann gehört, pflegt sie ihm zu ant 
worten: „Du bist im Irrtum, Du He-Id. Ich bin 
aus freien Stücken in Deinen Arm geflogen. Du 
hast gar kein Verdienst an der Sache. Gibst D>: 
es zu?"
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.