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Nr. 200
Zur Unterhaltung
oei[0gg der Şchleswļg.Holsteļnļschen Landeszeļtung (Rendsburger Tageblatt)
Mittwoch, den 27. August 1930
MUàèà aU Kàèà'»
Söhne von Geldfürsten, die sich selbständig machten.
Don Eva Piek.
Amerikas heuttge Milliardäre haben fast alle
ihre Laufbahn als bettelarme Burschen, als Straßen-
händler, Zeitungsjungen, G-efchäftsdiener und der
gleichen mehr, begonnen. Nachdem sie dann zum
Reichtum gelangt, wollten sie ihre Millionen in
vollen Zügen genießen und sahen sich veranlaßt,
auf möglichst unsinnige Weise Hr Geld mit beiden
Härrden zum Fenster herauszuwerfen. Ihre Töch
ter und Söhne aber wollen eben denselben Weg be-
lchreiten, den àst ihre Väter gegangen, um auch
durch allerlei Entbehrungen und Abenteuer zu Mil
lionen zu gelangen. Mit wachsendem Unbehagen
lehen das die reichen Väter, können aber gegen den
Starrsinn der Kinder nichts ausrichten.
In den lebten Jahren herrscht unter vielen
amerikanischen Millionären und Milliardären eine
wahre Panikstimmung, denn ihre Sprößlinge ver
zichten ganz einfach auf alle Vorteile, die ihnen das
väterliche Vermögen bietet und wollen ihren Weg,
ohne von zu Hause auch nur einen Cent Unter
stützung zu erhalten, selber machen. Heute ist diese
Flucht aus dem elterlichen Hause geradezu zu einer
Modeangelegenheit geworden und die armen, reichen
Eltern wissen nicht, was sie beginnen sollen. Sie
lassen also ihre Kinder in die Ferne ziehen und
ebnen ihnen aus der Ferne ihre Wege. Denn das
ist eben der Unterschied zwischen dem Kampfe der
ersten und zweiten Generation. Hier eine kleine
Blutenlese einiger Schildbürgerstteiche, die diese
vielversprechenden Zöglinge in den letzten Jahren
aufführten.
Ş Katherine Mac Comb, die Tochter des mächtigen
Präsidenten des amerikanischen Stahltvusts, arbei
tete in einer der Fabriken eines anderen Stahl-
magnaten. Sie befaß den Ehrgeiz, mit dem Lohne
einer ungelernten Arbeiterin ihr Auskommen zu
finden. Zu Beginn ihrer Tätigkeit bewohnte Jte
in dem Arme-Leute-Biertel eine kleine Stube. Kaum
aber war sie vier Wochen tätig, alls plötzlich ihre
Vorgesetzten auf sie aufmerksam wurden und sie in
eine höhere Lohnklasse versetzten. Dieses Aufmerk
samwerden wiederholte sich regelmäßig in zwei
wöchigen Abständen. Und nach kurzen drei Mo
naten war Miß Katherine eine gutbezahlte Be
amtin öer Fabrik. Zuerst war sie froh und glücklich
über den schnellen Aufstieg. Dann fiel ihr aber ein:
„Ich bin ja die Tochter von Mr. Comb." Und nun
wußte sie alles. Sie ließ also ihre Stelle — Stelle
sein, eilte schnurstracks zu Hrem Vater, schlug einen
mächtigen Krach und jetzt will sie wieder Arbeiterin
werden, aber unter fremdem Stamen. Allerdings,
ob -ihr dies gelingen wird, ist noch abzuwarten.
John Scott, dessen Vater einer der reichsten
Männer in Aamerika ist, hatte in dieser Beziehung
niehr Glück. Vor -drei Jahren ließ er sich in einem
kleinen Delikatessengeschäft als Verkäufer anstellen,
zog in ein kleines Mansardenzimmer, ersparte sich
während dieser drei Jahre ein Kapital von drei
tausend Dollar uud machte sich jetzt selbständig.
Er hofft, im Verlauf von einigen Jahren aus feinem
Geschäft — ohn?, das väterliche Geld in Anspruch
'nehmen zu müssen — ein großes Unternehmen zu
schaffen. Er glaubt, auf -diese Weise die ihm recht-
mäßig zustehenden Millionen allein verdienen zu
können.
Kornelius Vanderbilt fun. hat w-iederum eine
andere Marotte. Er ist Schriftsteller, wohnt in
einem einfachen Jnnggesellenheim, besitzt ein kleines
Zimmer ohne Bedienung und lebt von den Hono
raren seiner Artikel. Diese werden natürlich, da
er ein Vanderbilt ist, sehr hoch bewertet, und so hat
er auch keinen Maßstab, ob er im Ernstfall von seiner
Arbeit leben könnte. -
Patrick Buttler, der Sohn des millionenreichen
Textilfabrikanten William, lebt tatsächlich von dem
Ertrag seiner Arbeit. Er ist Polizist in der Stadt
Nvuyork und steht bei brennender Hitze und eisiger
Kälte stundenlang auf seinem -Posten. Kürzlich, als
er schon ganze drei Monate in Stellung war, wurde
er interviewt. Man glaubte nämlich, d-aß dies nur
eine vorübergehende Laune von ihm sei. Er er
klärte aber allen Ernstes: „Sie irren. Ich habe mir
diese Beschäftigung gewählt, denn eben diese Arbeit,
als armer, einfacher Mann der Allgemeinheit zu
dienen, verschafft mir das für mich so notwendige
seelische Gleichgewicht." Allerdings ließ er nichts
darüber verlauten, ob zu diesem seelischen Gleich
gewicht auch d-ie väterlichen Millionen notwendig
sind, denn nach seinem anstrengenden Dienst kehrt
er wieder in das väterliche Palais zurück.
Berthe Smith, d-ie schöne und jungle Tochter
eines schwerreichen Petro-lc-ummagnaten, liebt wie
derum die häusliche Arbeit. Sie hatte sich in'ihr
Köpfchen gesetzt, ihren gesamten To-ile-ttenbedarf aus
eigenem verdienten Gelde zu -decken. Sie nmcht
Stickereien und diese werden dann an reiche Leute
verkauft. Und um der Bedauernswerten auf die
Beine zu helfen, ist es heutzutage in Kalifornien
geradezu Mode, solche Stickereien zu besitzen.
NMà tüdf.
Luftakrobat wider Willen.
Reichlich aufregend war das Abenteuer, das
kürzlich der amerikanische Flie-gerleutnant Ryan
über dem Flugplatz La Crosse erlebte. Unange-
chnallt begleitete er einen Kameraden bei einem
Schauflug als Beobachter. Im Angesicht von
Tausenden von Zuschauern sackte das Flugzeug
plötzlich in einer Lufttasche nach vorne ab. Der
Stoß warf Ryan aus seinem Sitz hinaus hoch in
die Luft. Da er sich nicht durch einen Fallschirm
-gesichert hatte, glaubte Ryan sein letztes Stünd-
lein gekommen. Doch sein Kamerad fing das Flug
zeug wieder auf, und Ryan landete durch Zufall
auf einem der Flügel. Der Luftdruck riß ihn aber
sfort zurück, und das Flugzeug glitt unter ihm
hinweg. Im letzten Augenblick konnte sich der
Leutnant an einer Verstrebung anklammern.
Gleichzeitig aber geriet fein Fuß in den Bereich
eines hinter dem Flügel angebrachten Druckpro
bellers, Der riß ihm die Sohle vom Schuh und
schnitt ihm eine Zehe ab. Inzwischen hatte der
Pilot die Steuerknüppel festgelegt, und nun klet
terte er auf den Flügel, um seinem Kameraden zu
helfen. Er konnte Ryan in die Kabine ziehen.
Dort preßte er ihm, um weiteren Blutverlust zu
verhindern, die Fußmuskeln mit einer Rohrzange
zusammen. Dann konnte ohne weiteren Unfall
die Landung ermöglicht werden.
Das verhängnisvolle Telephon.
Ein eigenartiger Schadenersatz pvozeß wird
jetzt vor den Pariser Gerichten verhandelt. Der
Kläger ist ein Pariser Rechtsanwalt namens Der
nier, der gegen einen anderen Pariser namens Thi-
àlt Schadenersatzansprüche erhebt. Die beiden
'waren auf ungewöhnliche We-ise miteinander in
Konflikt gekommen. Sie sind nämlich beide Te-le-
phonte-ilnehmer nnd hatten -durch ein Versehen die
selbe Nummer erhalten. Natürlich gab -das zu den
unangenehmsten Mihverftändn-ifsen Anlaß, und die
Anklage behauptet nun, daß Dylvcmkt eines Tages,
als er wieder des öfteren angerufen und nach Ver
nier gefragt worden war, in feiner Wut erklärte,
Herr Vernier fei verrückt und in ein Irrenhn..
überführt worden. Die Folge dieser Mitteilung
war, -daß zahlreiche Freunde und Kunden des Rechts
anwalts aufgeregt in sein Büro kamen, um sich nach
seinem Ergehen zu erkundigen, und daß sich auch die
Kunde verbreite, Vernier sei wahnsinnig, was für
einen Rechtsanwalt immerhin recht peinlich ist. Er
verlangt nun von Thibault Schadenersatz, der aber
erklärt, die fragliche Aeußerung nicht getan zu
haben.
Eine phantastische Karriere.
Als der Weltkrieg ausbrach war Severin Ior-
govits ein einfacher Abiturient eines ungarischen
Gymnasiums. Er zog als Freiwilliger ins Feld und
wurde b-al>d Leutnant. Nach Beendigung des Krie
ges blieb er bei -der Nationalavmee, wo er bis zum
Hauptmann avancierte. Dann nahm er -den Ab-
fch-ied, weil ihm der Posten eines Generaldirektors
einer Budapester Schiffahrtsgesellschaft angeboten
wurde. Das gefiel ihm aber nicht, und als er
Geld genug verdient hatte, pachtete er mehrere
Hotels und Gasthäuser, darunter das berüchtigte
Vergnügungslükal „Casino de Paris" zu Budapest.
Schließlich wurde er aber auch dieses Lebens
überdrüssig, begab sich nach Wien und trat vom grie-
chifch-ka-tho-Iischen Glauben zur katholischen Kirche
über, um Priester zu werden. Nach Vollendung der
theologischen Studien erhielt er die Weihen und
wurde Priester in einem ungarischen Dorf. Do-ch
nur für wenige Jahre, denn jetzt ist er zum Bischof
-der altkotholischen ungarischen Kirche ernannt
worden. Severin-us, wie er sich nunmehr nennt, ist
ganze 4-0 Jahre alt und hat sich bisher zweimal
-mit Erfolg scheiden lassen.
Rekordzahlen brr der Reichspost.
Kaum macht sich die Oeffentlichkeit eine Vor
stellung von dem Umfang des Paket- und Wert
sendungsverkehrs, den die Reichspost im Laufe
eines Jahres zu bewältigen hat. Die Betriebs
ergebnisse, die die Reichspost für die Zeit vom 1.
April 1929 bis zum 30. März 1930 jetzt vorlegt,
sehen insgesamt 288,2 Millionen Pakete und Wert
sendungen vor, die einschließlich des Verkehrs von
und nach dem Auslands befördert worden sind.
Der weitaus größte Teil der Sendungen, 279,9
Millionen, waren gewöhnliche Pakete oder unver
siegelte Pakete mit Wertangabe. Es wurden außer
dem 3,7 Millionen versiegelte Wertpakete und 4,6
Millionen Wertbriefe in einem Gesamtwertbetrag
von 14,76 Milliarden Mark befördert und ihren
Empfängern zugestellt. Allein der Auslandsver-
kehr belief sich auf 4,4 Millionen, aus dem Aus
land kommende Sendungen, während an Pakel-
und Wertsendungen 12,13 Millionen von Deutsch
land in alle Teile der Welt gesandt wurden.
Heiler« «.ernste SàKsà
General von Löwenfeld besichtigte ein neu.
erbautes Offizierska-sino in Hannover, dessen Innen-
architektur ihm absolut nicht gefallen wollte.
Am Schluß der Inspektion verabschiedet er sich
von den Herren mit den Worten: „Wissen Sie,
woran mich die Bude hier erinnert? An den
Trompeter von Säckingen: Es ist alles so häßlich
eingerichtet!"
•f
Der frühere Stadtsekretär Wolff tu Braun-
schweig war Poet und ein lustiger Bruder, beson
ders als Gelegenheitsdichter konnte er etwas leisten.
Als einmal zu Ehren des Herzogs illuminiert
werden sollte, übersandte er einem befreundeten
Kaufmann auf Ersuchen für ein Transparent fol-
gende Reime:
„Das Haus der Welfen soll grünen und blühn!
Hier ist ein großes Tuch-Magazin.
Durchlauchtigster Herzo-g! belohne die Treu!
Reiß alle Tag ein Paar Hosen entzwei."
Ķèàs Oper.
Mit einem E i n f ü h r u n g s a b e n d für
neue und alte Kräfte, die Dirigenten und das Or
chester hat die Intendanz d-e-r Sache der Oper und
Operette einen guten Dienst erwiesen. Man hörte,
im Rahmen eines auf der Bühne spielenden Kon
zerts, Sologesänge und ist gespannt aus weitere
Leistungen, die beim Hinzutritt des Lebensele-
ments des Bühnenkünstlers — des Theaters, des
Spiels, des Agierens — logischer Weise nur im
Sinns einer Ausweitung und Steigerung zu er
warten sind. Man hörte das Orchester und fing
Feuer; und man versuchte den Gedanken abzu
wehren, daß ungeheuer Notlage wirklich erzwingen
könnte, die vorsichtshalber für nächstes Jahr aus
gesprochene Kündigung dieses ausgezeichneten
Klangkörpers wahrzumachen. Man sah, wie drei
Dirigenten, Hans Eahlenbeck, Manfred K ö h-
l e r und der neue junge Otto Winkler, als
Führer durch die Partitur die stattliche Musiker-
schar beseelten und beschwingten.
Als neue Vertreter des „dunklen Parts" stell
ten sich mit Arien vor Mela Gilbert (Altistin)
und Josef Jmmendorf (Bassist), als neue Vertre
ter der „helleren Lags" Hendrik Appels (Helden-
tenor), Werner Hamann und Paul Schmidtmann
(Tenöre). Zu ihnen gesellten sich die bekannten
bewährten Kräfte: Käthe Traß, Helene Sommer-
eldt, Else Veith sowie Adolf Martini von der
Oper und Albert Stiller und Emmy Wöbbeking
von der Operette.
Freundlichste Empfindungen des gut besetzten
Hauses wandten sich allen Künstlern — Solisten,
Dirigenten und Orchester — zu, und es erstand,
einige wenige Heine Wünsche weit zurückdrängend,
d-is starke Gewißheit: Wohlan, das Spiel kann
beginnen! #
Gegen üblen Mundgeruch, nach längerer Mundruhe und
nach dem Rauchen benutze man zum Desodorieren und Aro
matisieren des Atems eine Spülung mit dem herrlich er
frischenden Chlorodont-Mundwasser. Flasche 1.— Mk.
Das Schickrfa!
im ŞftrîbKhtîMg.
Skizze von G u st a v Schüren.
Der Kunstgewerbelehrer Willm Broderfohu
war ein sehr liebenswerter, trefflich erzogener, nach
ollem Edlen strebender junger Mann. Leider sin
bißchen schüchtern. Er hatte sich mehr mit seinen
Büchern nnd den Dingen -der Kunst beschäftigt als
mit -dem blühenden Leben und war dabei ein wenig
einseitig geworden. .
Sein empfängliches Herz sehnte sich unbewußt
nach einem gleichgestimmten Herzen. Nur fehlte
-ihm jeglicher Mut, unter den jungen Mädchen und
Frauen, die in seinen Gesichtskreis traten, eine
Wahl zu treffen, ja, überhaupt eine zu finden, von
-der ein Strahlen ausgegangen wäre, das ihn er
wärmte und entzündete. So mußte er es mit Seuf
zen der Zukunft und dem Zufall überlassen, ihm
eines Tages doch vielleicht das Glück in -den Weg
zu werfen.
Er fuhr oft mit der Bahn zu einem nahen,
idyllisch gelegenen Städtlein, um sich an den krum
men Gaffen nn-d verschwiegenen alten Winkeln zu
erfreuen und sich sinnend in eine längst verschwun
dene, geruhsame Zeit zu versetzen.
Auf einer dieser Fahrten, die er, seinem etwas
mageren Geldbeutel entsprechend, in der Holzklaffe
Unternahm, erschrak er nicht wenig, als er ein jun
ges Mädchen sich gegenübersitzen sah, aus ^dessen
Antlitz ihm ein Zauber anstrahlte, wie er ihn noch
nie beim Anblick eines Weibes empfunden hatte.
Das Mädchen sah ihn gelegentlich an, wie sich
d«s in Eisenbahnwagen nicht immer ganz vermei
nn läßt. Vor allem gefiel es deut jungen Manne.
Nß die Kleine nicht nach „schüchterner" Mädchen
Art verschämt -die Blicke senkte. Sie hielt seinen
Augen stand, um erst nach einer Weile eine andere
Blickrichtung zu wählen.
Wie schade, daß man nicht ein Gespräch an-
«uipjen konnte! Wie dumm, baß der Zug bald
halten, daß jeder, sie und er, getrennte Wege gehen
würde, um sich vielleicht, ja sicher, nie im Leben
wiederzusehen! Willm hatte das traurige Gefühl,
daß hier das Schicksal, grausam, wie es fein kann,
einmal im Leben zwei Menschen aneinander vorbei
führte, die förmlich «ine innere Bestimmung fürein-
a-nder mit leiser Ahnung verspürten, ohne baß sie
Mut fanden, ihre Lebensbahnen zu kreuzen. Dann
mußte Willm innerlich lachen. Was biidcie er sich
denn ein? Beachtete ihn die Kleine überhaupt?
Machte er irgend einen Eindruck auf sie? War er
nicht einer von Tausenden, die ihr täglich begeg
neten?
Der Zug hielt. Willm zögerte etwas, als er
sah, daß sein Gegenüber Anstalten machte, auszu
steigen. Er folgte unauffällig. Um Himmels wil
len, daß die Kleine ja nicht etwa merkte, er steige
ihr nach, wie die Männer zu sagen pflegen. Er sah
sie über den Bahnsteig, durch die Bahnhofshalle und
die Hauptstraße des Städtchens gehen.
^ Sie verschwand in einem Hause. Willm ging
vorüber und merkte sich die Hausnummer. Diese
Zahl war alles, was ihm von dem Erlebnis außer
der lebendigen Erscheinung des Mädchens blieb.
Ein Sonnenstrahl hinter den Wolken des Alltags.
Unaufmerk>am pendelte er durch die altvertraulen.
Gassen. Er sah heute nicht viel. Seine Enttäu
schung war groß, als er das Mädchen bei der Rück
fahrt nicht traf. —
Oester als bisher fuhr Willm jetzt in die kleine,
alte Stadt. Er sah seine Bekanntschaft nicht wieder.
Er kannte sie eigentlich schon ganz gut, wirklich. In
Gedanken hatte er sich ihr vorgestellt, mit ihr ge
plaudert, ihr geheime Schönheiten des Städtchens
gezeigt, ihr seine Pläne und Hoffnungen verraten.
So kam cs. daß Willm Droberfohn das Mäd
chen,' als er es eines Tages wieder im gleichen
Zuge traf, freundlich grüßte und erst zu Tode er
schrak, als sein Gruß mit einem freundlichen Kopf
nicken beantwortet wurde. Willm bildete sich auf
diesen Fortschritt manches ein. Im Laufe der Wo
chen und Monate faßen sie nun öfter im gleichen
Wagen. Willm wußte es einzurichten, -daß er jedes
mal nach der Angebeteten den Wagen bestieg und
sich fo fttze-n konnte, -daß sie sich unauffälli-g beob
achten ließ.
Ob sie fein Tun s-cho-n bemerkt hatte? Ob er sie
ansprach? Eigentlich war es doch die harmloseste
Sache von der Welt, wenn man sich so oft sah.
Nein, dazu hatte Willm den Mut nicht. Wie, wenn
sie ihn aus ihren dunklen Augen fragend oder gar
mißtrauisch anblickte, nach einem Wort der Höflich
keit verstummte und ihm zu verstehen gab, daß sie
seine Annäherung nicht wünschte?
Da gab es Willm auf. Es sollte wohl nicht
fein. Das Schicksal hatte offenbar nicht die Ab
sicht, sie miteinander in Berührung zu bringen.
Um nicht lästig zu erscheinen, entschloß er sich, nicht
m«hr in das gleiche Abteil zu gehen. Es war besser,
wenn er sie nicht mehr so eingehend bettachtete.
Eines Tages wollte es der Zufall — wirklich
nur der Zufall? —, daß er doch wieder dem ver
trauten Mädchen gegenüber saß. Es war in einem
Abteil für Fahrgäste mit Traglasten. Urplötzlich
bekam der Wagen einen entsetzlichen Ruck, schwankte
einen Augenblick fürchterlich. Dann erscholl lau
tes Krachen und Splittern.
Willm wollte aufspringen. Da wurde mit
voller Wucht ein Körper gegen ihn geschleudert.
Eine Wagenwand zersplitterte. Bretter preßten
sich an ihn, und als ihm im brausenden Schreck zum
Bewußtsein kam, daß sich ein Eisenbahnunglück er
eignet hatte, sah er in seinen Armen das Mädchen
liegen, das ihm bisher so schmerzlich unerreichbar
gewesen war.
Sie lag gegen seine Brust gedrückt und hielt
-die Arme, die sie abwehrend ausgestreckt haben
mochte, um seinen Leib geschlungen. Willm konnte
sich nicht rühren. Er verspürte auch keinerlei
Schmerz, dagegen etwas wie ein nie gekanntes
Wonnegefühl.
Deutlich Hörle er in der Nähe furchtbare
Schreie. Wenn er nur los könnte, um zu helfen, zu
retten! Aber irgend eine höhere Macht hatte ihm
ja -das Mädchen in den Arm gelegt und ihn hier
eingeklemmt.
Das Mädchen hielt die Augen geschlossen. War
es tot? Er versuchte, es zu rütteln. Er sprach in
heftiger Erregung zärtliche Worte. Die Schultern
der Geliebten leuchteten ihn in ihrer Weiße wie
frische Wa-lnußkerne an.
Sein Herz fühlte eine unnennbare Freude: das
Mädchen schlu-g die Augen auf, blickte ihn gar nicht
erschreckt an, sondern überstrahlte ihn mit einem
za-ubervollen Lächeln. Und dann hörte er die
Worte: „Sind Sie auch nicht verletzt? Entsetzlich,
wenn Ihnen etwas geschehen wäre!"
„Mir ist nichts geschehen, Fräulein. Aber wie
ist es mit Ihnen? Spüren Si-e Schmerzen?" Da
lächelte sie wieder, kuschelte ihren Kopf ganz fest
gegen seine Brust und sagte nur: „Mir ist sehr
wohl."
Willm fragte sich später immer wieder, woher
er in jenem Augenblick den unerhörten Mut nahm,
des Mädchens Kopf empor zu richten und -die blü
henden Lippen zu küssen.
Retter kamen und sägten die beiden aus den
Trümmern heraus. Es war, als hätte die halbe
Stunde -die beiden aneinander geschmiegt. Ver
schämt lösten sie sich aus der unfreiwilligen Um
armung. Willm brachte d-ie Angebetete in das
Haus, dessen Nummer ihm so vertraut war.
Ihre Verwandten bewirteten den Junglehrer,
und auf der Heimfahrt schlossen die beiden ein enges
Herzensbündnis, -das ohne die Mithilfe der Eisen
bahn nie zustande gekommen wäre.
Wenn Willm gelegentlich feiner kleinen Frau
mit früher nie besessenem Selbstbewußtsein vor
hält, -daß er sie sich in -den Trümmern -des Eisenbahn
wagens -durch seinen Kuß erworben h-abe, wie es
sich für einen Mann gehört, pflegt sie ihm zu ant
worten: „Du bist im Irrtum, Du He-Id. Ich bin
aus freien Stücken in Deinen Arm geflogen. Du
hast gar kein Verdienst an der Sache. Gibst D>:
es zu?"