Full text: Newspaper volume (1930, Bd. 3)

123. Jahrgang 
123. Jahrgang 
Sonntag» den 24. ZlnguM 
Sonntagsgedanken. 
Es sind mancherlei Gaben; aber 
-8 ist e i n Geist. (1. Kor. 12, V. 4.) 
Es ist merkwürdig, wie empfindlich wir 
sind, wenn andere von unserer Art abwei 
chen. Da sind etwa zwei Kollegen; der eine 
macht es so, der andere faßt die Sache anders 
an; nur zu leicht wird jeder urteilen, er selbst 
habe Recht und der andere sei rückständig 
oder überspannt oder sonst was, jedenfalls 
auf verkehrtem Wege. Diese immer wieder 
kehrende Art, daß man das eigene Ich zum 
einzigen Maßstab macht, treibt die Menschen 
auseinander und hindert sie, Hand in Hand 
zu gehen und gemeinsam zu schaffen. Wo gibt 
es nichtverschieöene „Richtungen", von denen 
eine die andere verketzert? Aus dieser Wur 
zel sprossen die Parteiungen und die immer 
neuen Absplitterungen dieser Parteien, wie 
wir es zu unserm Unglück ja gerade in der 
Gegenwart fortgesetzt neu erleben. Im reli 
giösen Leben findet man dieselbe Erscheinung. 
Denken wir nur an die Spaltungen der Kir 
chen und an die Sektenbildnngen! 
Wenn man sich doch sagen wollte, daß die 
Mannigfaltigkeit nicht ein Schaden, sondern 
ein Reichtum ist! Kein Blatt gleicht genau 
dem andern. Kein Mensch ist genau wie der 
andere. Jeder hat etwas, was gerade nur ihm 
eigentümlich ist. Darum kann aber auch jeder 
etwas, was der andere nicht kann, jedenfalls 
nicht s o kann, wie jener. Aber gerade darum 
macht die Verschiedenheit 
len Städten, im ganzen Land, ja in der Völ 
kerwelt, wie reich könnte die Menschheit wer 
den, wenn alle verschiedenen Gaben zur Ent 
faltung und zur Wirkung kämen! 
Freilich e i n Punkt müßte überwunden 
werden: die Eitelkeit des lieben Ich. Das 
ist nur möglich, wenn der einzelne sich an 
etwas Großes ganz hingibt, wenn er nicht 
mehr bloß sich selbst gelten läßt, sondern sich 
— demütig und stolz zugleich — als Glied am 
Leib weiß. Wie fein kann das eine begei 
sterte Jugend, die ganz in „ihrem" Verein, 
Wanderklub, oder was es denn sei, aufgeht! 
So sollte es sein in jedem Stand, bei jedem 
Werk, jedem Kreis. So sollte uns Heimat und 
Volksgefühl verbinden, daß alle Eigcnbrö- 
delei darüber ersticken muß. „E i n Geist" 
müsse die ganze Volksgemeinschaft durch 
wehen, und aus der Mannigfaltigkeit würden 
ungeahnte Kräfte erwachsen. 
Warum erleben wir das so wenig. Warum 
zeigt sich überall das Gegenteil von dieser 
Einheit? — Anfangen müssen wir da, wohin 
Paulus uns weist: mit dem Aufblick zu Gott. 
Wer unter Gottes Auge wandelt, der weiß 
sich verantwortlich für alles, was er an Ga 
ben empfangen: Gaben bedeuten Aufgaben. 
Der weiß sich aber auch berufen zum Dienst 
an den Mitmenschen. Wo man „Vater un- 
s e r" betet, fühlt man sich sozial verpflichtet. 
Fangen wir an, diesen Geist zu suchen und 
zu pflegen! Alle andern Versuche, unserm 
zerfallenden Geschlecht wieder Pflicht- und 
Verantwortungsbewußtsein zu verschaffen, 
sind gescheitert und werden scheitern trotz al 
ler großen Worte und schönen Reden. 
nisplatz erwählt und angekauft. In dieser 
Erde, die seine Vorfahren pflügten und be 
bauten, deren Bewohner spätere Generatio 
nen geistige Güter vermittelten als Pfarrer 
und Lehrer, will er mit seiner Familie ruhen, 
umgeben von Buchenwäldern, die den welt 
fern abgeschiedenen Platz in einem schönen 
Bogen umziehen. 
Der Ort Lippoldsberg trägt mehr städti 
schen als dörflichen Charakter, die Straßen 
sind gepflastert; ohne Vorgarten stehen die 
ziemlich hohen Häuser dicht aneinander ge 
drängt: Volk ohne Raum. 
Ein kleiner Marktflecken, abseits vom 
Wege und ganz unbekannt, wurde er durch 
„Volk ohne Raum" fast zum Wallfahrtsort: 
den ganzen Sommer lang wurde er täglich 
von Fremden durchwandert; wer sich nicht in 
das Klosterhaus hinauswagte, um dort mit 
dem Dichter, der mit seinem Buch einen 
Lebensnerv seines Volkes traf, einige Worte 
zu wechseln, ihm zu danken; wer nicht einge 
laden war, um 5 Uhr mit ihm Kaffee zu 
trinken, der ging gewiß am Klosterhaus vor 
über und sah zu der langen, weinumrankten 
Fensterreihe auf, trat wohl auch in die alte, 
feierliche Kirche ein, durchwanderte die Ort 
schaften, deren Namen jetzt bekannt sind: 
Bodenfelde, Gieselwerder, Gewissensruh und 
stieg dann zur Fähre hinunter, die über die 
Weser fährt..... 
Aus diesen Wanderern und tausend 
Briefen läßt sich ermessen, wie groß die Not 
wendigkeit war, daß dieses Buch geschrieben 
wurde. 
Hans Grimm faßt sein Leben als eine 
Sendung auf. Ein Ruf erging, dem er ge 
horchen muß. Ihm wurde geschenkt, etwas 
wirklich zu erleben: das Schicksal von Vater 
land und Volk, die ihm wichtiger sind, als 
jedes eigene Erleben. Der Berufung wird 
das Persönliche untergeordnet: „Seit wir den 
Krieg verloren", sagte er zu mir, „will ich 
vieles nicht mehr. Bewußt habe ich vieles 
aus meinem Leben gestrichen, was es früher 
bereicherte und erfreute." In grandioser Ein 
seitigkeit wird hier ein Leben aus einem 
Zentrum gelebt. Was seiner Dichtung das 
Einer freundlichen Einladung Hans 
Grimms folgend, war ich während des letzten 
Herbstes in Lippoldsberg an der Weser im 
Klosterhaus zu Besuch. 
Von Göttingen kommend, fährt die Lokal 
bahn durch ein sich immer anmutiger ver 
wandelndes Tal der Weser entgegen. Die 
Leute in ihr, von anderem Gesichtsschnitt und 
anders gekleidet, als in Süüüeutschland, schei 
nen meinem nun schon seit einem Jahrzehnt 
an die bayrische Mundart gewöhnten Ohr 
eine fremde Sprache, vielleicht holländisch, zu 
sprechen. Nicht ein Wort verstehe ich von 
den sie von jeher dort und dürften nie anders 
wo stehen. Weise verteilt — hier fühlt man 
die künstlerische Linie des Dichters, der kein 
Zuviel duldet — hängen alte Bilder an den 
Wänden: Erbstücke aus einer Sammlung, die 
Hans Grimms Vater anlegte. In das Ar 
beitszimmer des Dichters führen drei Stufen 
hinunter, es ist höher als die übrigen Räume; 
die großen, oben schön gerundeten Fenster 
reichen bis fast zum Fußboden, der Blick geht 
in den Garten. Helligkeit, Weite, Schönheit 
geben dem Raum das Gepräge. , Weder eit 
Bild noch irgend ein äußeres Symbol deutet 
darauf hin, daß hier der Dichter arbeitet, 
dem das Schicksal des Vaterlandes das eigene 
Schicksal bedeutet, der Deutschlands Erniedri 
gung als Schmach am eigenen Leibe empfin 
det und trägt. Letzte Verinnerlichung braucht 
keine äußere Form: Bücher, alte Bilder, Ro 
sen in einem schönen Kristallgefäß schmücken 
Hans Grimms Arbeitszimmer. 
Unter den Fenstern liegt der Garten. Zu 
beiden Seiten der Tür, die aus dem Eßzim 
mer ins Freie führt, stehen noch ans Kloster 
zeiten hohe Lebensbäume, eine Reihe phan 
tastisch geästeter Blutbuchen trennt den Blu 
mengarten vom Gemüseland. Ueber die Gar 
tenmauer sieht man in die schöne, gewellte 
Weserlandschaft hinaus: ruhevolle Hügel, die, 
mit Buchenwäldern bestanden, großzügig und 
still in die Weite zu wandern scheinen. 
Einen dieser Hügel, einen ansteigenden 
Hang, hat Hans Grimm zu seinem Begräb- 
, . , das Leben reich. 
Ist das nicht z. B. in der Ehe die wunder 
volle Ergänzung, daß nun zwar der Mann so 
ganz anders ist als das Weib, das Weib so 
ganz anders fühlt als der Mann, daß nun 
aber doch diese beiden so ganz verschiedenen 
Wesen alles, das Große wie das Kleine, ge 
meinsam ansehen und gemeinsam betreiben? 
Welche Fülle von Leben bietet ein größerer 
Geschwisterkreis, wo die Kinder, obwohl alle 
von einem Stamm, doch jeder seine eigene 
Art hat, jedes sich am andern abschleift, jedes 
dem andern hilft! Warum bilden sich Freund 
schaften gerade unter gegensätzlich veranlag 
ten Menschen? Da sollten wir doch auch im 
Beruf, auch im öffentlichen Leben lernen, den, 
der anders ist als wir, nicht äußerlich zurück 
zustoßen, sondern ihn gerade daraufhin an 
zusehen, ob wir ihn nicht gegen unsere Ein 
seitigkeit notwendig als eine Ergänzung ge 
brauchen. Wenn wir nun bedenken, was für 
verschiedene Menschen es gibt, in allen Stän 
den, in allen Berufen, in jedem Dorfe, in al- 
sondern das des Volkes. Freundliche Fäden 
Zypressen Ehrenwache vor dem wundervollen 
Palast. 
Aus der Ferne ertönte das Ritornell 
einer Gitarre und ein alter Bettler näherte 
sich uns. Graue Haare, ein struppiger weißer 
Bart und ein seltsam junges Feuer in den 
Augen . . . Eine Stimme, die wie gesprunge 
nes Metall klang, begann zu singen. Jemand 
lachte sinnlos auf. 
„Ruhe, Ruhe!" — rief ungehalten der 
beim alten Riccoröi seinem bekannten ita 
lienischen Musikverleger) zu Besuch weilende, 
selbst bereits bejahrte Giuseppe Verdi. Und 
sich darauf zum Bettler wendend: „Enrico, sei 
tu? (bist du es?)" - „Jawohl, Maestro, ich 
bin glücklich, Sie gesund und blühend zu tref 
fen." — „Nun, wie geht es dir? Immer noch 
nicht besser?" — „Wie sollte es? Alles, was 
ich besaß, ist verzehrt." — „Warum gibst du 
Ausländern keinen Unterricht, wie deine Kol 
legen in Mailand," — „O illustrissimo, Ich 
sang ja aus der Bühne wie ein Vogel im 
Walde. Die Stimme war da, — das Talent . . 
Weder das eine noch das andere läßt sich den 
Schülern beibringen. Ich will die zugereisten 
farestieri nicht betrügen, wie diese Schwind 
ler. Sie versprechen ja jedem erkälteten Gok- 
kel, aus ihm einen Mario oder einen Cal- 
zolari zu machen, wenn er nur zahlt." 
«Ja, ja, alter Grankopf, du hast recht. Du 
warst nicht nur ein vortrefflicher Künstler, 
sondern bist auch ein ehrlicher Mensch. Leider 
pflegt dies heutzutage selten vereinigt zu 
sein. Weißt du. wer das ist? — lVerdi duzte 
alle, die er gern mochte) wandte sich der Mae 
stro an eine bekannte russische Opernsängerin, 
die in Italien und Spanien auftrat. 
„Nein." 
Einstmals war er eine Berühmtheit! Ar- 
naldi . . . Im Theater weinte man, wenn er 
Abendgewölk. 
Weithin Gewölk wie schwebende Wipfel 
Weißer Birken, sehr fern und spät, 
Unter deren kaum sichtbaren Schäften 
Die Dünung der Winde müde verweht. 
Winde, die schon zum Schlummer fahren, 
Kaum noch die letzte Sonne spüren. 
Deren Lichter sich zwischen den breiten 
Wachsenden Schatten ins Dunkel verlieren, 
Hans Friedrich ©tuncf, 
der Bäume. Auf den Balkons erschienen 
weiße Gestalten. Aus dem Schatten der 
Platanen und Zypressen traten, wie undeut 
liche Phantome, Liebespaare hervor. 
Die Russin sang in jener Nacht hin 
reißend, und ich kann mich nicht eines ähn 
lichen Beifalls entsinnen, wie er ihr damals 
von den Zuhörern zuteil wurde. 
„Ihren Hut, Signor Arnalöi! Meine 
Herrschaften, — wandte sie sich an das Publi 
kum in englischer Sprache — eine Kollekte 
zugunsten eines ehemals großen Künstlers, 
der heute vor Hunger stirbt." 
In den glühendsten Farben schilderte sie 
das traurige Schicksal Arnalöis und näherte 
sich als erstem ihrem Gatten. 
„Gib mehr, damit die anderen sich nicht 
mit einer Lappalie loskaufen." 
Er legte 10g Lire in den Hut. Worauf sie, 
laut, damit es alle hörten: 
„Zu wenig! Du bist geizig. Vergiß nicht, 
daß du der Mann einer Künstlerin bist." 
Ringsum erscholl Gelächter. — „Wiviel willst 
du?" — „Feilsche nicht. Noch einmal so viel!" 
Dann begann sie von rechts zu sammeln, 
wo die reichen Amerikaner saßen, die stets 
einen kleinen Kreis für sich bildeten. Diese 
Stelle wurde scherzhaft „die Ecke der ameri 
kanischen Millionäre" genannt. Dollarnoten 
und gelbe Hundert-Lire-Scheine flozen in den 
Hut. Die Engländer warfen Pfunds und 
Sovereigns, die Italiener begnügten sich mit 
geringeren Spenden. Arrigo Boito gab aller 
dings mehr. Der alte Riccordi schrieb etwas 
auf ein Blatt aus seinem Notizbuch, faltete 
es vierfach zusammen und versenkte es in 
Arnaldis alten Filz. Als die Reihe an Verdi 
kam, küßte dieser die Sängerin auf die Stirne 
— „Baccio il tuo cuore generoso! sich küsse 
dein großzügiges Herz!)" 
Und....gab nichts. v 
(Schlutz folgt.) 
seufzte der Bettler — jetzt weine ich, da ich 
vor Hunger sterbe . .." 
„Das darf nicht so bleiben — erregte sich 
die Russin. — Arnaldi? Arnaldi? ... Ich 
hab von ihm gehört. Er sang mit der Bosio, 
der Viardot. . ." 
„Schicksal! Man lebt auf Lorbeeren, man 
krepiert auf Stroh." 
„Ja, aber wir . . . wir dürfen es nicht 
zulassen." 
„Finde doch etwas, Carina!" — ermun 
terte sie Verdi. 
„Ich habe es schon gefunden und die Idee 
stammt nicht einmal von mir. Die Malibran 
hat vor mir das gleiche getan, und die Bosio 
. . . Heute sind hier reiche Engländer einge 
troffen. Hilf du mir, Maestro." 
* Sie erhob sich und trat an den Bettler 
heran: „Caro Arnaldi, können Sie mich auf 
der Gitarre zu der Arie der Gilda begleiten? 
Im zweiten Akt?" 
„O ja, ich habe einst im Rigoletto mit 
der berühmten Gualdiani gesungen. Die 
Gitarre ist mein gefügiges Instrument, ge 
genwärtig ernähren mich diese Saiten. Aller 
dings nur kümmerlich, jedoch hat man mich 
noch nicht, wie den armen Lombardi, von 
den Stufen des marmornen Leonardo (Denk- 
mal Leonardo da Vincis in Mailand) leblos 
aufgehoben. — direkt gegenüber der Scala, 
wo er, mein Freund, in früheren Zeiten so 
begeistert gefeiert wurde . . ." 
Und plötzlich ertönten vor den mit sich 
selbst und der Welt zufriedenen Touristen, im 
würzigen Duft der italienischen Nacht die 
traurigen Klänge der Verdi-Oper. Alles 
ringsum verstummte. Nur der See wogte 
kaum hörbar gegen den steinernen Landungs 
platz und im Garten rauschten die Kronen 
Verdi und der alte Sänger. 
Der greise W. I. Nemirowitsch-Dank- 
schenko, Senior aller im Exil lebenden 
russischen Schriftsteller, veröffentlicht in 
der Pariser russischen Zeitung „Dernie- 
res Nouvelles" folgende ergreifende 
Verdi-Episode: 
Es war am L> 
ago di Como . . . Im Gar 
ten der „Villa d' Este" pflegten sich allabend 
lich diejenigen zu versammeln, die in diesem 
Luxushotel — dem einstmaligen Palast der 
Beherrscher der Lombardei — und in den be 
nachbarten Villen lebten. Hier traf sich alles, 
blas Mailand und die Lombardei an Promi 
nenten zählte — der Stolz der Weltbühne, 
Zurrst und -literatur, die Aristokratie des 
Geistes und des Talents . . . 
^ Wie ein silberner Panzer funkelte der 
^ee in der herrlichen Mondnacht. Aus dem 
Dunkel der Alleen hörte man flüstern. Un 
deutlich. als wollte es sich vor fremden Ohren 
Herbergen, klang von dort Lachen herüber. 
Fernand in der Nähe seufzte: „O Jugend, 
Fugend!" Er beneidete wohl die Verliebten, 
o>e Finsternis und Einsamkeit suchten. Die 
Laternen waren ausgelöscht, um die Sym 
phonie des Mondes nicht zu stören. Wie müch- 
"ge düstere Märchenriesen standen die alten
	        
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