Full text: Newspaper volume (1930, Bd. 2)

Nr. 117 
Zur Unterhaltung 
Beļlagr der Schl^swkg.Holsteknkschen Landeszeļkung (Nendsburger Tageblatt) 
Dienstag, den 20. Mai 
Wetterbericht. 
Das täglich« Minimum von Island. 
Von Island kommt ein Minimum. . . 
Kein Mensch in dieser Welt 
kommt um dies Minimum herum, 
weils Island so gefällt. 
Warum erlaubt der Völkerbund 
den Unfug jetzt im Mai, 
man friert ja wie ein nasser Hund 
und ärgert sich für zwei. 
Wer regelt denn auf Island jetzt 
den Kälte-Luft-Verkehr? 
Warum schickt Island denn zuletzt 
sein Minimum hierher? 
Warum schickt man das Minimum 
denn nicht dem Eskimo? 
Der nimmt das Minimum nicht krumm 
und ist der Kälte froh. 
Was nutzt uns Grog und Aspirin 
in diesem starren Lenz, 
wenn Minima von Island ziehn 
mit starrer Konsequenz! 
Man laß es treiben, wie es mag 
in dieser Zeiten Lauf . . 
Man wacht ja doch am nächsten Tag 
mit Influenza auf. P u ck. 
1 
Die Leistungen des deutschen 
Luftverkehrs. 
Die Gesamtleistungen des deutschen Luft 
verkehrs für das Jahr 1929 liegen jetzt vor. 
Sie bieten einen interessanten Einblick in 
den deutschen Luftverkehr ud sic geben, was 
zunächst wohl das Wichtigste ist, zu erkennen, 
daß Deutschland hinsichtlich der beförderten 
Fluggäste an erster Stelle aller luftfahrt 
treibenden Länder steht. 103 020 Fluggäste 
sind im verflossenen Jahre von den deutschen 
Verkehrsfluggesellschaften insgesamt beför 
dert worden, während nach vorsichtigen 
Schätzungen in Amerika höchstens 80 000 
Fluggäste befördert worden sind. Die ausge 
zeichnete Gesamtleistung des deutschen Luft 
verkehrs wird aber auch noch aus anderen 
Beispielen der Statistik belegt. So wurden 
insgesamt 10 637 966 Km. geflogen. Was dies 
bedeutet, kann man vielleicht daran erkennen, 
daß die deutschen Verkehrsflugzeuge ver 
gleichsweise rund 266 mal den Acquator hät 
ten umfliegen können. Die große Zahl der 
Fluggäste könnte gut eine deutsche Mittel 
stadt bevölkern. Was die beförderte Fracht 
angeht, so entspricht diese für das vergangene 
Jahr einer mittleren Schiffsladung, denn 
rund 1,4 Millionen Kg. sind an Fracht auf 
dem Luftwege befördert worden. Auch die be 
förderte Post nimmt im ganzen das respek 
table Gewicht von rund 390 000 Kg. ein. Alle 
diese Leistungen sind, wie gesagt, von allen 
Luftverkehrsgesellschaften zusammen durchge 
führt worden. Das Hauptkontingcnt trägt da 
bei freilich die Deutsche Lufthansa. An zwei 
ter Stelle steht die Deru-Luft, an dritter die 
Nordbayerische Verkehrsflug-A.-G. u. schließ 
lich folgt die Luftverkehrsgesellschaft Wil- 
helmshaven-Rüstringen, die als kleinste Ge 
sellschaft rund 8000 Passagiere beförderte, 
während die Nordbayerische 10,8, die Dern- 
Luft 2.7 und die Deutsche Lufthansa 87 Tausd. 
Fluggäste beförderte. Die bevorzugte Stelle 
der Deru-Luft und der Nordbayerischcn Ver 
kehrsfluggesellschaft resuticrt aus den größe 
ren Zahlen hinsichtlich der Gesamtkilometer, 
der beförderten Fracht und der beförderten 
Post. Besonders eindrucksvoll wird das von 
Deutschland hinsichtlich des Luftverkehrs Ge 
leistete, wenn man erfährt, daß das Deutsche 
Reich für seinen Luftverkehr höchstens 
16 Millionen RM. aufwendet, während z. B. 
im amerikanischen Lufthaushalt für das Ge 
schäftsjahr 1930/31 allein für den Luftverkehr 
116 Mill. RM. zur Verfügung stehen. 
Die Reichsbahn sorgt für Luxus. 
Verschiedene deutsche Reichsbahndirektionen 
verfügen, wie nur wenig bekannt sein dürfte, in 
ihrem Wagenpark über sehr bequem eingerichtete 
Salonwagen, die jeden Interessenten gegen Be 
zahlung von Tarifgebühren zu Fahrten überlassen 
werden. Aus einer Ankündigung der Reichsbahn 
geht hervor, daß für diese komfortablen Salon 
wagen keine besonders Gebühr erhoben wird. Sie 
werden auf Wunsch eingestellt bei Lösung von min 
destens 12 Karten 1. Klasse und der üblichen Zu- 
schlägs für den fahrplanmäßigen Schnell- oder 
Eilzug, in den der Wagen eingestellt werden soll. 
Von diesen besonderen Luxusmöglichkeiten wird 
allerdings außerordentlich selten Gebrauch gemacht 
und in der Hauptsache werden die Salonwagen für 
Regierungsdelegationen zur Verfügung gestellt, 
aber auch diese Delegationen machen von dieser 
Möglichkeit der Reichsbahn nur in den äußersten 
Fällen Gebrauch. 
Briefmarken als Plakate. 
Der Gedanke, die Briefmarken als Trägerin 
allgemein interessierender Mitteilungen zu be 
nutzen, ist nicht neu. Dabei blieb immerhin der 
Stil der Briefmarke gewahrt. Gänzlich neue Wege 
schlägt jetzt die Sowjetregierung ein, die aus den 
Briefmarken ein Miniaturplakat machen will. Die 
russischen Marken zu 5 Kopeken, die neu heraus 
kommen, tragen den Aufdruck: „Für Senkung der 
Herstellungskosten, für Steigerung der Qualität, 
für Arbeiterdisziplin!" und die Marken zu 10 Ko 
peken: „Die Ernte muß um 35 Prozent gesteigert 
werden!" 
Amerikanische Stndentenscherzc. 
Wenn die amerikanischen Studenten sich 
ihren Spaß machen wollen, geht es oft recht 
wild her. In jedem Frühling veranstalten 
die Studierenden der Universität Pennsyl- 
vanien einen kleinen Krieg. Es gibt eine 
Partei, die das Universitätsgebäude angreift, 
während eine andere es verteidigt. Als Ge 
schosse dienen in diesem Krieg Flaschen, 
Schachteln, Sardiuenbüchsen und alles Mög 
liche, was geworfen werden kann, wenn es 
nur keine Sprengmasse in sich hat. Im allge 
meinen ist es bisher bei diesem Krieg im 
Frieden leidlich abgegangen. In diesem 
Jahre scheint es aber, als ob eine besonders 
temperamentvolle Generation die Universität 
bezogen habe,' denn der Kampf nahm derart 
erbitterte Formen an, daß großer Schaden 
angerichtet wurde. Alle Fensterscheiben des 
Gebäudes wurden zerbrochen, die Türen ein 
geschlagen und die Möbel in Stücken ins 
Freie geworfen, als die Belagerer in dem 
Kampf den Sieg davongetragen hatten. Die 
aufgeregten Gemüter konnten nicht anders 
beschwichtigt werden als dadurch, daß man die 
Polizei zur Hilfe herbeirief und die Kämpfer 
verhaften ließ. 800 Studenten wanderten 
ins Gefängnis, wo man ihnen Gelegenheit 
gab, sich zu beruhigen. Der Friedenrichter 
schien geneigt, die aufgeregten jungen Herren 
bald wieder zu entlassen, aber das Haupt der 
Polizei weigerte sich energisch, sie sobald wie 
der in Freiheit zu setzen. 
Zum Lächeln und Lachen. 
Die „Sportkanone", 
„Ich habe in meiner Jugend auch ctsrlg 
Sport getrieben!" — „So, haben Sie denn da 
bei auch Erfolge zu verzeichnen gehabt?" — 
„Na, und ob. Im Jahre 1902 wurde ich Drit 
ter im Pfirsichzüchten am Staket. 
„Du bist heute allein ausgegangen, 
Erich?" 
„Ja, meine Frau hatte schlechte Laune!" 
„Und warum hatte deine Frau schlechte 
Laune?" 
„Weil ich allein ausgehen wollte!" 
* 
„Aber, gnädige Frau, Sie brauchen doch 
nicht immer selbst von Ihrem Zimmer herun 
terzukommen, wenn Sie etwas wünschen. 
Warum klingeln Sie nicht einfach?" 
„In meinem Zimmer ist ja gar keine 
Klingel." 
„Entschuldigen Sie", sagt der Hoteldircktor 
und geht in ihr Zimmer. „Hier ist ja der 
Klingelknopf. Sie brauchen nur zu drücken." 
„Ach, das ist die Klingel? Das Zimmer 
mädchen hat mir gesagt, das wäre der Feuer. 
Alarm. Den dürfte ich nur bei dringender 
Gefahr benutzen." 
* 
„Es ist also vor allen Dingen nötig, daß 
Sie sich unbedingt jeglicher Kopfarbeit für die 
nächsten Wochen enthalten." 
Patient: „Ja, aber, Herr Geheimrat, da 
von leb' ich ja!" 
Arzt: „So, so,' da sind Sie wohl Gelehr 
ter?" 
Patient: „Nee, das nich, aber Frisör bin 
ich!" 
* 
„Lieber Herr Doktor, Sie bitten um die 
Hand meiner Tochter — lassen Sie mich ganz 
offen sein, meine Antwort hängt vollkommen 
von Ihren finanziellen Verhältnissen ab." 
„Wie komisch! Sehen Sie, Herr Geheim 
rat, meine finanziellen Verhältnisse hängen 
wiederum vollkommen von Ihrer Antwort 
ab!" 
Wie man Manner fesselt. 
Auch Sie kennen wohl das Sprichwort: „Treue, 
die ein seidener Faden nicht hält, hält auch keine 
ei ferne Kette!" 
Dies Wort, angewandt auf Liebesdinge. besagt 
also, daß sich nichts gewaltsam zusammenhalten läßt. 
Aber zum Glück besagt das Sprichwort auch, daß Treue 
mit einem Faden zusammengehalten werden kann. 
Dafür zu sorgen, daß dieser Faden niemals reißt, 
gehört zur Lebenskunst, die jeder Mensch, besonders die 
lieb« Damenwelt, von Grund auf beherrschen soll. 
Mit welchen Augen betrachtet der Mann die 
Frauen, denen er begegnet? Wir alle wissen es! Und 
wodurch gewinnt die Frau in den Augen des Mannes? 
Durch ein anmutiges, fesselndes Aeußere! Dies 
Aeußere veranlaßt die meisten Männer, mit Damen 
anzuknüpfen. Aber wie oft, wenn das Aeußere nach 
läßt, reißt der Faden? Glücklicherweise aber hat es 
jede Dame, jede Frau in der Hand, den Faden nicht 
reißen zu lassen. Sie kann dem Gesicht neue, anmutige 
Seiten abgewinnen und durch einschmeichelndes Aeuße 
re s stets neue Fäden spinnen. 
Diese fesselnde, beglückende Anmut bekommen Sic 
durch das einzigartige Mittel: Marylan-Creme. 
Eine farbenzarte wohlige Gesichts-Schönheit wird 
Ihnen durch die aus wissenschaftlicher Basis zusammen 
gefügte Marylan-Creme verliehen und bleibt ständig 
erhalten! 
Selbst Damen, aus deren Gesicht die Jugend ge 
wichen war, schreiben lobend, daß Falten mit milder 
Hand weggewischt wurden und dem Antlitz beglückende 
Jugendblüte wiedevgeschenkt sei, durch Marylan-Creme. 
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Paul Enderling 
a Mi Ş 
Copyright 1929 by Karl Köhler u. Co., 
Berlin-Zehlendorf, Machnower Str. 24. 
10) (Nachdruck verboten.) 
8. 
Tag für Tag fand Georg Dollingen einen Brief 
von Hugo Krille im Brieflasten vor. Einer war wie 
abgeschrieben vom anderen. Alle schrien, wie die 
Plakate der Geschäftshäuser, von einer nie wieder 
kehrenden Gelegenheit. Das ewig Wiederkehrende 
darin war suggestiv wie die Sprüche Eoues. 
Dollingen las sie längst nicht mehr. Aber den 
letzten hatte er sich merken müssen, da er zur Ab- 
wechselung etwas Positives wußte: bei einer Hoch 
zeit in einem Arka>dia-Hotel wurde für den Nachmit 
tag ein Klavierspieler gebraucht, und Dollingen sei 
vorgemerkt. Der Himmel möchte wissen, woher Krille 
all diese Tips hatte, wie er sie gern nannte. Gleich 
viel, der Derdienst war mitzunehmen. 
Der Brief hatte ein bedenkliches Postflriptum 
gehabt: „Ich rechne heute bestimmt auf dich. Heute 
ist der letzte Termin. Sei nicht dumm: es ist nicht 
mehr Risiko dabei, als wenn du in Karlshorst oder 
auf der Avus setzest. Es sind Tausende zu verdienen 
— und wir machen Kippe. Wenn du mich heute im 
Stich läßt, bin ich für dich nicht mehr zu haben — 
Das sah wie eine Drohung aus, war aber für Dol 
lingen eher ein Versprechen. 
Als er die Rolle mit seinem Dillen-Entwurf im 
Postamt abgegeben hatte, war es noch viel zu früh, 
um im Arkadia-Hotel, das da irgend wo am Alcx- 
anderplatz war, zu erscheinen. Er konnte gut eine 
Weile Johanna Reichert ablauern, die ja versprochen 
hatte — „mit dem großen Ehrenwort" — das Paket 
bis drei Uhr abzuholen. Ja, er wollte sie überlisten, 
überraschen, überfallen. Sie würde errötend lachen 
und wunderschön sein . . . und ein Blick in ihre 
strahlenden Augen würde ihm Kraft geben und 
Glauben dazu. 
Er ging vom Postamt schnellen Schrittes bis 
zur Kirche, machte kehrt, um nun langsamer zurück 
zugehen, den Eingang zur Post im Augen behagend. 
Um diese frühe Nachmittagsstunde waren nicht allzu 
viele Passanten, aber sie war nicht darunter. 
Kurz vor drei te ein elegantes rotlackiertes 
Auto die Lindenstvaße herauf und hielt vor dem 
Postamt. Eine junge, elegant gekleidete Dame ent 
stieg ihm und eilte in das Gebäude. 
Sie hatte Johannas Wuchs und auch ihren fe 
dernden Gang. Aber ein Vergleich mit der kurzen 
Rehfelljacke und dem weinroten Straßenkleid der 
Unbekannten und der bescheidenen Kleidung seines 
Mädels ans Tegelort inachte ihn lachen: er sah wohl 
schon Helenen in jedem Weibe? Dennoch harrte er 
aus, bis sie mit einem Paket zurückkam, aber das tief 
ins Gesicht gedrückte Hütchen gestattete nicht einmal 
die Möglichkeit, sestzustellep, daß die kleine Johanna 
viel schöner war als diese vornehme junge Dame, 
die da in ihrem Privatauto angekommen war. 
Er gab es auf, ging zum Dönhofplatz und fuhr 
in einem Autobus bis zu dem Platz mit der dicken 
Berolina. Da er das Hotel nicht vor Beginn der 
Hochzeit betreten wollte, ging er in die Konditorei 
an der Ecke und bestellte einen Kaffee. 
Aus Langeweile griff er zu den Zeitschriften 
eines Lesezirkels. Er überflog die Witze und Bilder. 
Landschaften. Jockeis mit dicken Lorbeerkränzen um 
die dürren Leiber. Flieger, die von Herren im 'Zy 
linder begrüßt wurden. Sowjetgrößen, die Truppen 
paraden abnahmen. Damen aus Hollywood, kaum 
angezogen, in gestellter Ahnungslosigkeit und sacha 
rinsüßen Gcsichtchen. Eine Wohnkolonie in Stutt 
gart mit flachen Orientdächern. Dann Sportbilder 
voller wilder Bewegungen. Männer, die den letzten 
Atemzug beim Sprung hergaben. Wettrennen. 
Fußballamazonen. Eine amerikanische Baseball- 
spielerin. Eine Ruderregatta. Die Siegerin im 
französischen 24-Stund«nrennen für Damen. Eine 
Taucherin. 
Plötzlich fiel die Zeitschrift auf den Tisch, als 
wäre sie mit einem Male zu schwer für seine Hände 
geworden. 
Betäubt sah er auf zwei Bilder: eine junge 
Dame im Sportdreß auf einem Motorrad — dieselbe 
Dame im Tenniskostüm beim „weißen Sport" und 
beide Male war es Johanna Reichert. Aber dar 
unter stand deutlich: Jutta Reinhagen, die Tochter 
des bekannten Sammlers, beim Sport. 
Eine Doppelgängerin? Eine Weile klammerte 
er sich an diesen Ausweg. Er war lächerlich, albern 
und frevelhaft. Rur sie konnte so lächeln. Rur sie 
hatte solche Augen. 
Jutta Reinhagen . . . Johanna Reichert . . . 
Das mußte ein Traum sein. Er würde gleich 
erwachen und sich ans dem alten Sofa augenreibend 
erheben und lächeln .. . Llber er wachte. Dort saßen 
die kauenden und schlürfenden Menschen. Da war 
das Büfett mit der. dicken Brünette, die feierlich 
wie eine Somimerkönigin thronte. Da war draußen 
der Platz mit den durcheinander brodelnden Men 
schen vor der langgestreckten Fassade des Waren 
hauses. Es gab kein gnädiges Erwachen. 
„Johanna Reichert", sagte er leise, als könne 
der Name noch alles beschwören und wieder gur ma 
chen. Aber die Buchstaben dort redeten lauter. Sie 
überschrien ihn mit ihrem „Jutta Reinhagen, die 
Tochter .des bekannten Sammlers, bei mSport". 
Die wirbelnde Rotation der aufgestörten Ge 
baren ballte sich langsam, unendlich langsam, zu 
der engen Tatsache zusammen: Johanna Reichert 
war Jutta Reinhagen, eine Fremde. Wie konnte 
das sein? Wie durfte das sein, ohne daß die Let 
tern die Seite mit den Bildern versengten und zu 
Asche brannten? 
Eine erbitterte Traurigkeit überkam ihn. Run 
wußte er schon: eine reiche junge Dame hatte mit 
ihm gespielt, wie man mit einem Neufundländer 
spielt — ans dem Snobismus gelangweilter Stun 
den heraus, aus übermütgier Laune, wer konnte 
wissen weshalb. 
Alles war nun klar: ihre ungewöhnliche Bil 
dung, ihr Sportverständnis, ihre sichere, beherrschte 
Haltung. In schmerzvoller Klarheit sah er Szene 
für Szene ihres Zusammenseins sich entrollen. Er 
fühlte sich betrogen und gedemütigt. 
Sonderbarerweise — er empfand selbst den 
Widerspruch — kränkte ihn weniger dies Verschwei 
gen ihrer Umgebung, ihres wahren Seins, als dies 
Vertauschen des Namens. Das geschah hier rings 
um wohl alltäglich, daß man seinen Namen verbarg, 
bis man einander genauer kannte. Aber was sollte 
man dazu sagen, daß auch sie es tat? 
Nun hatte er die ganze Zeit im Wachen und 
Träumen an Johanna gedacht — und plötzlich sollte 
er sich auf eine Jutta umstellen. „Umstellen" — 
wie oft war dies Wort in den letzten Jahren als 
Forderung zu ihm gekommen! „Sie müssen sich eben 
umstellen" Alle seine über das Reich wie Spreu 
verwehten Landsleute aus dem Baltikum hatten es 
zu hören bekommen. Aber er hatte sich nicht unigc- , 
stellt, er hätte es in seiner Schwerfälligkeit gar 
nicht können. Und er würde es auch jetzt nicht ver 
mögen. 
Die Kränkung saß im Blut und verbreitete sich 
wie ein bösartiges Geschwür. Und, je mehr er sich 
klarmachte, daß d'escr Ramenstansch das Unwesent 
liche war, desto eifriger verbiß sich sein Gefühl darin, 
daß hier, gerade hier der Schwerpunkt lag. 
Johanna und Jutta — eine Welt lag dazwi 
schen. Es war nur gut, daß er kein Lyriker war„ 
der sie mit jener heiligen Johanna verglichen hatte, 
die ins Feuer gehen mußte! Johanna im Sportdreß 
— nein, das ging wahrhaftig nicht. Also: Jutta . . 
Es war, als löste sie sich damit von ihm. Er 
hatte eine Johanna geliebt. Was ging ihn eine 
Jutta an? 
. In dieser letzten schlaflosen und doch so glück 
lichen Nacht hotte nur ein Gedanke gelebt: die kleine, 
süße Johanna mit seinem Leben zu verbinden. Er 
hätte sie dem Schicksal abgerungen —■ on Intia 
Reinhagen zu denken, uwr Wahnsinn. 
Es war nur gut. daß die Zeit zum Ausbruch 
drängte. Seme übernommene Pflicht mußte er tun. 
Die kleinen Bürgersleute dadrüben sollten nicht um 
ihre Hochzeitsmusik komnien, weil eine Johanna 
plötzlich eine fremde Jutta geworden war. 
Der Kellner, dem er zahlte, sah in sein blasses, 
zerfurchtes Gesicht. „Ist Ihnen nicht wohl, mein 
Herr?" 
„Es wird schon vorübergehen", sagte Dollingen 
leise. Und er wiederholte, während er den Platz 
überquerte, ein paarmal gedankenlos: „Es wird 
schon vorübergehen . . 
Aber er wußte, daß das nur seine Lippen spra- 
chen und nicht sein Herz: es würde nie vorüber 
gehen . . . nie . . . (Fortsetzung folgt.) 
Biido 
LWS 
das siMiŞlô
	        
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