Full text: Newspaper volume (1899, Bd. 2)

3. Blatt. 
Sonntags-Ausgabe. 
Nr. 283. 
zum 
Nendàŗger WoDenbLatt. 
Diese Unterhaltungs-Beilage wird dem „Rendsburger 
Wochenblatt" einmal wöchentlich (Sonntags) deigegeben. 
Sonntag, den 3. December 1899. 
Druck und Verlag von dem verantwortlichen Herausgeber 
H. Möller (H. Gütlein Nachf.), Rendsburg, Mühlcnstr. IS. 
Eine Neberruschiing. 
Novellette von Sophie Heim. 
Das Bahnhofsglöckchen zu L . . läutete 
eben zum dritten Male, die Barritzren wur 
den geschlossen und aus dem kleinen Perron 
vor dem Stationsgebäude wurde es lebendig 
Meist sind es sehr verschiedene Gefühle, die 
ein solches Läuten am Bahnhof in den vcr 
schiedenen Menschen wachruft, das Heran 
nahen eines Zuges hat immer etwas Auf 
regendes. Da sieht man strahlende erwartungs 
volle Gesichter, die dem Zuge noch Flügel 
dazu verleihen möchten, und da stehen zwei, 
deren trostloses Schluchzen deutlich genug 
zeigt: sie wünschten die wenigen Augenblicke 
noch festhalten zu können, lange, lange! Aber 
es Hilst nichts, trotz alledem; das brausende 
Dampfroß kommt näher und näher, ein langer 
Pfiff — und nun steht es da und zischt 
und schnaubt, als wolle es alle Ausbrüche 
menschlicher Gefühle mit Gewalt übertönen. 
„Damencoupee zweiter nach Kassel", rief 
eine junge Männerstimme dem vorbeilaufen 
den Schaffner zu, und nachdem ihm dieser 
ein solches aufgeriffen: „So, Magda, Sie 
müffen sich eilen, der Zug hält nicht lange 
an auf so kleinen Stationen." Die so Ge 
rufene, ein junges, schlankes Mädchen, riß 
sich bei dieser Mahnung schnell aus den 
Armen ihrer Gefährtin los und lief herbei. 
„Steigen Sie nur ein, ich reiche Ihnen 
die Sachen schon herein", ließ sich die Stimme 
ihres Begleiters wieder vernehmen, „so, und 
nun —" er streckte die Hand aus und sah 
zu ihr empor, mit seinen tiesdunkelblauen, 
ernsten Augen, und sie war wieder auf das 
erste Trittbrett herabgestiegen, aber sie sah 
ihn nicht an; sic legte nur einen Augenblick 
ihre Hand in die seine. „Leben Sie wohl", 
sagte sie dann, „recht fröhliche Weihnachten, 
die werden nicht fehlen und — grüßen Sie 
mir Ihre Braut." Hier zuckte ein schelmisches 
Lächeln über sein hübsches Gesicht, aber sie 
merkte es nicht, denn sie sah an ihm vor 
über, während sie das sagte und dann ganz 
leise seufzte. „Danke schön, Magda, ich 
will ihr's ausrichten, morgen Abend gleich." 
Sie wollte noch etwas hinzufügen, allein 
„einsteigen" drängte der Schaffner, und so 
wandte sic sich rasch um und stieg ein. Noch 
einmal tönte das Glöcklcin, wieder ein Pfiff, 
und langsam setzte der Zug sich in Be 
wegung. „Ein recht freudiges Weihnachts- 
scst auch Ihnen", und: auf Wiedersehen 
hörte sie noch rufen, sie sah noch einmal die 
Mütze, die er schwenkte und das weiße 
Tüchlein seiner Schwester wehen, dann aber 
sah sie plötzlich gar nichts mehr, denn ihre 
Augen füllten große, heiße Tropfen; sic 
drehte sich um — außer ihr war Niemand 
im Coupee, — da setzte sic sich hin und 
schluchzte bitterlich. 
Warum? 
2a, Magda, warum hast Du dies treue, 
liebcrciche Herz, das doch vor kaum zwei 
Jahren Dir, und nur Dir allein, so warm 
und innig schlug, warum hast Du's ver 
schmäht? Oder vielmehr, warum hast Du 
in kindischem Unverstand ein thöricht Spiel 
mit ihm getrieben? Du liebtest ihn und 
wußtest, daß auch er Dich so sehr liebte, 
ein gutes Wort nur, ein freundlicher Blick 
schon hätte ihn froh gemacht; warum also 
das ewige Necken, die kindischen Launen, 
das abstoßende Benehmen, warum nur? So 
jung warst Du nicht mehr, daß Du nicht 
hättest wiffcn können: Mit einem Herzen 
spielt man nicht! Verdenken konntest Du's 
ihm nicht, als er, des langen Spielens uiüde, 
sich stumm und verletzt zurückzog. Da er- 
schrackst Du freilich heftig, gingst in Dich, 
sahst Deine Thorheit und Dein Unrecht ein 
— da aber war es schon zu spät! Er ging 
— und eh' Du noch recht zu Dir selber 
kamst, hatt'st Du ein theures Kleinod, einen 
reichen Schatz verloren, nur einzig und allein 
durch Deine eigene Schuld. 
Nun sitzest Du hier und weinst und klagst 
und gäbest, oh, so viel darum, Geschehenes 
wieder gut zu machen, — zu spät; er hat 
ein ander Herz gefunden, das ihm seine 
Liebe wohl besier zu lohnen weiß. 
„Ich habe eine liebe Braut, Magda, was 
sagen Sic dazu?" Das war das Wort, 
das Dich heute morgen so furchtbar erschreckt, 
das Dich so jäh erblassen ließ. Meinst Du, 
er hätte cs nickt gemerkt! Wie er sich freute, 
wie er triumphirte! Ach, daß Du Dich so 
verrathen mußtest! Freilich, das thatest Du 
schon Tags vorher, als er so Plötzlich in 
das Zimmer trat, der Doktor, der doch am 
heiligen Abend, also morgen, erst kommen 
sollte, wenn der schon wieder von hier fort 
reist. Ob er's wußte, daß Du hier auf 
Besuch seist? Vielleicht hat Mutter oder 
Schwester cs ihm „nur so nebenbei" ge 
schrieben. Genug, er hatte sich eben zwei 
Tage verfrüht, und der eine Tag, den ihr 
zusammen verlebt, wie war er so schön! Du 
warst still, aber doch so glückselig und froh. 
Und er, er schien es auch; er war so gut 
und freundlich, besonders, als er sah, daß 
Du eine ganz andere geworden warst, fast 
schien's, als sei das Leid, das Du ihm an 
gethan, vergessen und vergeben. Der eine 
Tag, er ließ Dir eine neue Welt, voll süßer, 
lieblicher Träume aufgehen, bis diese ganze 
Welt mit einem Ruck zusammenbrach. 
„Ich habe eine liebe Braut, Magda, was 
sagen Sie dazu?" Ja, was solltest Du da 
zu sagen? Nicht eine Silbe brachtest Du 
hervor. Das also war seine Rache, seine 
Vergeltung! Kein Mensch hatte vorher etwas 
davon gesagt, weder seine Eltern noch Ger 
trud, seine einzige Schwester, die doch zu 
gleich auch ihre beste Freundin und Ver 
traute war, sie mußten es wohl selbst nickt 
gewußt haben. Dies war ja sogar sehr 
wahrscheinlich, denn er hatte ja noch gesagt: 
„Sie sind die erste, die es erfährt, und 
bitte, sprechen Sie noch zu Nieniand da 
von. Denken Sie, welch ein Zufall, meine 
Braut wohnt in Kassel, noch darf ich ihren 
Namen aber nicht nennen. Morgen, am 
heiligen Abend, gedenke ich sie zu überraschen." 
So vollständig versunken in ihren Kummer 
war Magda Sieler, daß sie gar nicht ein 
mal merkte, wie's inzwischen draußen all 
mählich ganz dunkel geworden war. Des 
wegen erschrack sie sörmlick, als sie jetzt den 
Blick hinauswandte. Ach! Schon so spät? 
Sie sah auf die Uhr, — wahrhaftig, schon 
sechs Uhr! Da mußte sie jeden Augenblick 
in Kassel eintreffen. Zwei Stunden also 
war sic so gefahren. Nun aber schnell die 
letzten Thränenspuren getrocknet; ach, wie 
fatal, nun würde man ihr's doch gleich an 
sehen, daß sie geweint! Und da hielt auch 
schon der Zug, und der Papa und Fritz 
der Secundaner, standen auf dem Perron 
und spähten in deui Gewühl uinher, bis sie 
endlich des Töchterleins ansichtig wurden, 
das noch am Coupee stand und durchaus 
nicht zurechtkommen konnte mit seinem Ge 
päck. Es war aber auch gar so geschwind 
gegangen auf einmal! Und so gar nieder 
geschlagen und verlegen stand es da, und 
hatte so merkwürdig rothe Augen. „Aber 
Kind", sprach der Papa nach der ersten Be 
grüßung, „das hättest Du doch vorher alles 
ordnen können. Hast Du geschlafen und 
bist erst dicht vor Kassel erwacht?" „Ja", 
log das Töchterlein mit kühner Stirn, denn 
was konnte es sonst sagen? „Hast Dir 
aber tüchtig die Augen gerieben, als Du 
wach wurd'st, fast sieht cs aus, als hätt'st 
Du geweint", bemerkte der naseweise Bruder, 
worauf ihm ein ärgerliches: „Schweig still, 
dummer Junge", zu Theil wurde. Der Papa 
hörte Gott sei Dank von diesen Worten 
nichts, denn er besorgte den Koffer. Der 
dumme Junge" aber fand, daß sein 
Schwesterlein durchaus nicht liebenswürdiger 
geworden sei, während des vierwöchentlichen 
Besuchs in L . ., und beschloß, sich empfind 
lich an ihr zu rächen ; einem Obersecundaner 
wirft man nicht ungestraft einen „dummen 
Jungen" an den Kopf, besonders, wenn 
dieser, wie hier, vollständig in seinem Recht ist. 
Und dasselbe, wie er, fanden Alle: Magda 
sah keineswegs aus wie Jemand, der ver 
gnügte vier Wochen in einer eng befreundeten 
Familie auf dem Lande zugebracht und nun, 
einen Tag vor'm heiligen Abend, wieder 
nach Haus kam zu Eltern und Geschwister, 
um so vereint das fröhliche Fest der Weih 
nacht zu feiern. Sie war still und meist 
in sich gekehrt, aß wenig oder gar nichts 
und sehnte sich nach weiter nichts, als vor 
den prüfenden Blicken des Papas, den vielen 
Fragen der Mama und den höhnischen 
Randbemerkungen des gekränkten Bruders 
entfliehen zu können in die Ruhe ihres 
Stübchens. Aber die Frau Mania war 
gar neugierig, die wollte erst genau wisien, 
wie's der Frau Doktor gehe, seitdem sie 
von hier fortgezogen, ob sie sich auch gut 
eingewöhnt in dem kleinen Städtchen, ob 
der Herr Doktor jetzt recht viel zu thun 
und ob Emilie, die Tochter, auch schon netten 
Verkehr gefunden habe. Magda beantwortete 
gewissenhaft jede Frage, als aber die Rede 
auch einmal auf den jungen Doktor kam, den 
Sohn, ob sie nicht auch von diesem mal 
was gehört, da konnte fie's doch nicht ver 
hindern, daß langsam eine glühende Röthe 
ihr feines Gefichtchen überzog. Der Doktor 
Ernst Haller war immer ein heikler Punkt 
in der Unterhaltung gewesen, seitdeui damals 
das vorgekommen war, seit die Eltern ihren 
liebsten Wunsch zu Wasser werden sahen. 
Eigentlich hatte man gar nichts wieder von 
ihm gehört, nur, daß er seinen Doktor ge 
macht und sich in einem Städtchen bei Berlin 
niedergelassen habe. Als also jetzt begreif 
licher Weise die Mutter nach ihm fragte, 
mußte sic sich mit dem kurzen, aber inhalts 
schweren Bescheid begnügen: er ist verlobt! 
Nein, so hätte Magda sich die Wirkung 
dieser lakonischen Antwort nicht gedacht. Die 
kleine Frau fuhr ordentlich von ihrem Sitze 
auf. „Verlobt? Mit wem?" „Mit einem 
Fräulein von hier, das er in Berlin kennen 
gelernt. Den Namen hat er mir nicht genannt, 
morgen Abend soll die Verlobung öffentlich 
werden." Das junge Mädchen schluckte mühsam 
an ihren Thränen; jetzt hätte sie gar nichts 
mehr beantworten können. Das brauchte sie 
aber auch nicht, denn, merkwürdig, die Mutter 
wollte auf einmal gar nichts mehr wissen, 
und sah nur traumverloren vor sich hin, 
von Zeit zu Zeit mit dem Kopf schüttelnd. 
Eine drückende Schwüle lagerte auf der 
Atmosphäre, und alles war dem Vater 
innerlich von Herzen dankbar, als er der 
Sache ein Ende machte, indem er sich er 
hob und zum Schlafengehen mahnte. „Du 
hast noch nicht einmal nach den Kindern ge 
fragt, Magda", sagte die Mutter noch. „Ach 
ja, die Kmder, sie sind doch aber längst zu 
Bett?" „Natürlich, Kind. Sie waren so 
aufgeregt vor lauter Freude auf morgen, 
daß ich sie beide schon um sechs Uhr ins 
Bett steckte. Du kannst ja noch 'mal hin 
über gehen ins Schlafzimmer." 
Und Magda ging. Da lagen Hans und 
Lotti in ihren Bettchen, die kleinen Wangen 
glühten und sie lächelten beide noch im 
Schlafe; wahrscheinlich führten bunte, lieb 
liche Träume sie schon unter den strahlen 
den WcihnachtSbaum, zu den ersehnten Herr 
lichkeiten. Ach! Wie waren die Kleinen 
doch so rührend in ihrer unschuldigen Freude. 
Magda kniete neben den Geschwistern nieder 
und weinte sich recht von Herzen aus; für 
sie gab's diesmal keine Freude, wenn doch 
„morgen" nur erst vorüber wäre! — 
Seit Jahren war es in der Familie so 
Brauch, daß gleich am Morgen des vier 
undzwanzigsten Dezember die Kinder zur 
Großmutter, die in derselben Stadt wohnte, 
gebracht wurden, denn zu Hause lungerten 
sie doch nur müssig und gelangweilt herum. 
Die Kleinen wußten es gar nicht anders: 
Nach dem Frühstück ging'S zur Großmama, 
die ihnen die schönsten Märchen erzählte und 
bei der sie den ganzen Tag über blieben, 
bis am Abend Jemand kam und sie holte, 
und dann ging der Jubel erst los. 
Es war Magda sehr willkommen, daß die 
Mutter das Amt des Hin- und Herführens 
diesmal ihr übertrug, die rechte Freude am 
Schaffen daheim fehlte ihr heute doch, und 
die Mutter war gutmüthig genug, das ein 
zusehen und sie „an die Luft" zu schicken. 
Kannst Dich noch ein bischen bei der Groß- 
Mama aufhalten, Kind", fügte sie noch hin 
zu, „sie hat Dich doch jetzt lange nicht ge- 
ehen." Und Magda blieb und kehrte erst 
am Mittag zurück. Da aber war sie er- 
launt, die Mutter urplötzlich ganz umge 
wandelt zu finden. Während dieselbe am 
Morgen ein ziemlich ernstes, bedrücktes Wesen 
zur Schau getragen, leuchteten ihre Augen 
jetzt förmlich, glühte sie in fröhlichem Eifer. 
hätte nicht viel gefehlt, so wäre sie der 
Tochter bei ihrer Heimkehr um den Hals 
gefallen. 
Mazdas Befremden stieg aber auf einen 
noch höheren Grad, als mit Anbruch der 
Dämmerung die Mutter darauf bestand, daß 
u und Fritz die Kleinen nun wieder ab 
holen sollten. „Aber Mama, ich könnte Dir 
doch noch helfen", wagte Magda noch 
chüchtern einzuwenden. „Ach was, helfen, 
hier giebt's für Dich gar nichts mehr zu 
helfen, mach' nur, daß Du jetzt fortkommst, 
Kind", und mit diesen Worten schob die 
Mutter sie zur Thür hinaus. „Es ist schon 
ünf Uhr, eil Dich, Magda", rief sie ihr 
noch nach. 
Und nun endlich ist die ersehnte Stunde 
gekommen. Noch ist die große Flügelthür 
geschlossen, die den Eingang bildet zu dem 
erträumten Paradies, und vor der Pforte 
stehen die Kleinen in freudiger Erwartung 
und unterhalten sich im Flüsterton, denn 
mehr läßt das Gcheimnißvolle der Stunde 
nicht zu. Es ist schwer zu entscheiden, was 
eigentlich schöner, reizvoller ist: der Eintritt 
in dieses Paradies der Kindheit oder die 
ungeduldige und doch so selige Stunde 
vorher. 
Am Fenster stand Magda; sie hatte die 
Stirn an die Scheiben gedrückt und schaute 
mit trüben Augen hinaus auf die Straße. 
Ganz still und menschenleer war's draußen; 
der Schnee fiel in dichten Flocken langsam zur 
Erde herab, von ferne läuteten die Glocken die 
heilige Weihnacht ein, überall Ruhe und 
Frieden! Ach, und inmitten dieser himm 
lischen Ruhe, warum konnte nur ihr Herz 
keinen Frieden finden und klopfte so laut, 
warum konnten nur ihre Gedanken sich nicht 
beruhigen und wogten so stürmisch? Sie 
biß sich auf die Zähne; nein, nur jetzt 
nichts sich merken lassen. Sie sah sich nach 
den Geschwistern um, die standen Hand in 
Hand vor der Thür und sie trat zu ihnen. 
Drinnen hörte man den Papa nach dem 
Wachsstock rufen, und die Mama stellte die 
Klingel zurecht; durch die Ritzen der Thür 
drang ein Lichtschimmer verheißend in das 
dunkle Zimmer. „So würde sie, das un 
bekannte, gottbegnadete Wesen nun auch wohl 
stehen und warten, ahnungslos, was drinnen 
für ein unendliches Glück seiner warte, ach, 
und unter dem Christbaum —“ horch! Ein 
silberheller Klingelton von drinnen, weitaus 
fliegen die beiden hohen Flügel der Thür, 
das ganze, volle, strahlende Lichtmeer strömt 
ihr entgegen; ach, und unter dem Christ 
bäum — — einen kurzen Augenblick stockt 
ihr Fuß auf der Schwelle, nur einen ein 
zigen Augenblick — im nächsten schon steht 
sie dort, unter dem Tannenbaum, wo zwei 
Arme sich voll Verlangen ihr entgegenstrecken, 
und sie fliegt geradewegs hinein, in diese 
Arme, und läßt sich willig von ihnen um 
schlingen, oh, so fest, so innig und fest! 
Und sie läßt es ruhig geschehen, daß zwei 
Lippen sich auf die ihren drücken, immer und 
immer wieder, so stürmisch und heiß. 
Sie läßt es nur still geschehn und schließt 
die Augen. — — — 
Und als der erste, selige Jubelrausch ver 
flogen, und sie Hand in Hand mit ihm nun 
auch die übrigen Geschenke bewundert und 
dabei den würzigen Tannenduft athmet, da 
meint sie, ein glücklicheres Menschenkind als 
sie sei heute Abend schwerlich wohl zu finden. 
Und als später noch der Kerzenschimmer 
erloschen, der Jubel ringsum verstummt und 
sie noch wachend auf ihrem Lager liegt, da 
lebt sie im Geiste noch einmal alle die ver 
schiedenen Stunden dieses Tages durch. Halb 
wachend noch, halb schon im Traume, ziehen 
die bunten Bilder an ihr vorüber. 
„Ach! Und unter dem Christbaum" — 
Ende. 
Kaiser Friedrich über Bismarck's 
Konflikts-Politik. 
Im ersten Bande von Fürst „Bismarcks 
Gedanken und Erinnerungen" ist bei der 
Schilderung der sogenannten Danziger 
Episode auch das Schreiben kurz erwähnt, 
welcher der damalige Kronprinz am 
30. Juni 1863 an den Ministerpräsidenten 
richtete und das die Politik des letzteren 
„in starken Ausdrücken verurtheilte." In 
dem demnächst bei Richard Schröder in 
Berlin erscheinenden zweiten Band des 
von Margaretha v. Poschinger heraus- 
gegebenen Werkes: „Kaiser Friedrich in 
neuer quellenmäßiger Darstellung" ist 
dieser Brief seinem Wortlaut nach mit 
getheilt. Das Schreiben wurde seiner 
Zeit in der „Times" veröffentlicht. Es 
lautet dadurch vollständig in wortgetreuer 
Verdeutschung aus englischer Quelle: 
„Stettin, den 30. Juni 1863. 
Ich ersehe aus Ihrem Schreiben vom 
10. d. Mt., daß Sie auf Befehl Seiner- 
Majestät unterlassen haben, meinen Protest 
gegen die Verordnung, betreffend die 
Beschränkung der Freiheit der Presse, 
welche ich Ihnen aus Graudenz unter 
dem 3. Juni übersandt habe, dem Staats 
ministerium offiziell mitzutheilen. ' Ich 
kann leicht verstehen, daß die Gelegenheit, 
als persönliche Sache einen Fall zu be 
handeln, welcher, wie Sie selbst eingestanden 
haben, in seinen Folgen eine weit ausge- 
dehnte Bedeutung erlangen kann, Ihnen 
nicht unwillkommen war. Es würde für 
mich zwecklos sein, darauf zu bestehen, 
daß diese Mittheilung erfolge, da ich mit 
Recht aus Ihren eigenen Worten entnehmen 
zu können glaube, daß diese Mittheilung 
in nichtamtlicher Weise stattgefunden hat. 
Es ist für mich eine Nothwendigkeit, 
mit Ihnen offen über die Alternative zu 
sprechen, die Sie mir gestellt haben: 
nämlich die Ausgabe des Ministeriums zu 
erleichtern, oder zu erschweren. Ich kann 
diese Ausgabe nicht erleichtern, da ich mich 
in einem grundsätzlichen Gegenstände zu 
ihm befinde. Eine loyale Handhabung 
der Gesetze und der Verfassung, Achtung 
und guter Wille für ein leicht zu behan 
delndes, intelligentes und fähiges Volk, 
— das sind nach meiner Meinung die 
Grundsätze, welche jede Regierung bei der 
Behandlung ihres Landes leiten sollten. 
Ich kann die Politik, welche ihren Aus 
druck in der Ordonnanz vom 1. Juni 
findet, mit diesen Grundsätzen nicht in 
Einklang bringen. 
Sie suchen zwar mir den verfassungs 
mäßigen Charakter jener Verordnung zu 
beweisen und versichern mir, daß Sie 
und Ihre Kollegen Ihres Eides eingedenk 
seien. Ich meine indessen, daß die Re 
gierung einer stärkern Basis benöthigt, 
als sehr zweifelhafter Auslegungen, 
welche sich nicht an den gesunden Menschen 
verstand des Volkes wenden. Sie selbst 
beweisen auf den Umstand, daß sogar 
Ihre Gegner die Ehrlichkeit Ihrer Ueber 
zeugung achten. Ich will diese Behaup 
tung nicht untersuchen, aber wenn Sie 
den Meinungen Ihrer Gegner irgend wel 
chen Werth beilegen, so muß der Umstand, 
daß die große Mehrheit der gebildeten 
Klassen unseres Volkes den verfassungs 
mäßigen Charakter der Ordonnanz leugnet, 
in Ihrem Geiste nothwendig Zweifel 
erregen. 
Das Ministerium wußte im Voraus, 
daß dies der Fall sein würde. Es war 
sich auch im Voraus bewußt, daß der 
Landtag niemals die Bestimmungen jener 
Verordnung angenommen haben würde, 
und legte deshalb dem Landtage keinen 
Entwurf vor, sondern erließ wenige Tage 
später die Ordonnanz aus Grund des 
Artikels 63 der Verfassung. Wenn das 
Land in dieser Handlungsweise keine 
loyale Handhabung der Verfassung er 
kennt, so möchte ich fragen, was das 
Ministerium gethan hat, um die öffentliche 
Meinung zu seiner Ansicht zu bekehren. 
Es fand kein anderes Mittel, um zu 
einem Einverständniß mit der öffentlichen 
Meinung zu gelangen, als ihr Still 
schweigen aufzuerlegen. Es wäre nichtig, 
auch nur ein Wort darüber zu verlieren, 
inwieweit diese Verordnung sich in Ein 
klang befindet, mit der Achtung und dem 
guten Willen, welchem man einem willigen 
und loyalen Volke schuldet, das zum 
Schweigen verurtheilt worden ist, weil 
die Regierung seine Stimme nicht hören 
will. 
Und welchen Erfolg erwarten Sie von 
dieser Politik? Die Beruhigung der 
öffentlichen Meinung und die Wieder 
herstellung des Friedens ? Glauben Sie, 
daß Sie die öffentliche Meinung beruhigen 
können, wenn Sie ihr Rechtsgefühl neuer 
lich beleidigen? Es erscheint mir der 
menschlichen Natur zuwider, einen Wechsel 
zu erwarten, wenn das bestehende Gefühl 
durch die Handlungsweise der Regierung 
beständig gestärkt und verschärft wird. 
Ich will Ihnen sagen, welche Ereignisse 
ich von Ihrer Politik befürchte. Sie 
werden an der Verfassung so lange herum 
deuteln, bis sie in den Augen des Volkes 
jeden Werth verliert. Auf diesem Wege 
werden Sie einerseits anarchistische Be 
wegungen erregen, welche über die 
Grenzen der Verfassung hinausgehen, 
während Sie andrerseits, ob Sie es 
beabsichtigen oder nicht, von einer ge 
wagten Auslegung zur andern gelangen 
werden, bis Sie schließlich zu einem 
offenen Bruch mit der Verfassung gedrängt 
werden. Ich betrachte diejenigen, welche 
Seine Majestät den König, meinen aller 
gnädigsten Vater, in solche Bahnen leiten, 
als die gesährlichsten Rathgeber für 
Krone und Land. 
Nachschrift. Schon vor dem 1. Juni 
d. Js. machte ich nur selten von meinem 
Rechte Gebrauch, den Sitzungen des 
Staatsministeriums beizuwohnen. Nach 
der vorstehenden Darlegung meiner Ueber 
zeugungen werden Sie meine Bitte an 
Seine Majestät den König begreiflich 
rüden, daß ich mir erlaube, mich der 
Theilnahme an oiesen Sitzungen gegen 
wärtig gänzlich zu enthalten. Eine fort 
gesetzte öffentliche und persönliche Bekun 
dung der Gegensätze zwischen mir nnd 
dem Ministerium würde weder meiner 
Stellung noch meiner Neigung entsprechen. 
In jeder anderen Hinsicht jedoch werde 
ich mir in dem Ausdruck meiner An 
sichten keinerlei Beschränkungen auferlegen; 
und das Ministerium möge versichert sein, 
daß es von ihm und seinem künftigen
	        
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