3. Blatt.
Sonntags-Ausgabe.
Nr. 283.
zum
Nendàŗger WoDenbLatt.
Diese Unterhaltungs-Beilage wird dem „Rendsburger
Wochenblatt" einmal wöchentlich (Sonntags) deigegeben.
Sonntag, den 3. December 1899.
Druck und Verlag von dem verantwortlichen Herausgeber
H. Möller (H. Gütlein Nachf.), Rendsburg, Mühlcnstr. IS.
Eine Neberruschiing.
Novellette von Sophie Heim.
Das Bahnhofsglöckchen zu L . . läutete
eben zum dritten Male, die Barritzren wur
den geschlossen und aus dem kleinen Perron
vor dem Stationsgebäude wurde es lebendig
Meist sind es sehr verschiedene Gefühle, die
ein solches Läuten am Bahnhof in den vcr
schiedenen Menschen wachruft, das Heran
nahen eines Zuges hat immer etwas Auf
regendes. Da sieht man strahlende erwartungs
volle Gesichter, die dem Zuge noch Flügel
dazu verleihen möchten, und da stehen zwei,
deren trostloses Schluchzen deutlich genug
zeigt: sie wünschten die wenigen Augenblicke
noch festhalten zu können, lange, lange! Aber
es Hilst nichts, trotz alledem; das brausende
Dampfroß kommt näher und näher, ein langer
Pfiff — und nun steht es da und zischt
und schnaubt, als wolle es alle Ausbrüche
menschlicher Gefühle mit Gewalt übertönen.
„Damencoupee zweiter nach Kassel", rief
eine junge Männerstimme dem vorbeilaufen
den Schaffner zu, und nachdem ihm dieser
ein solches aufgeriffen: „So, Magda, Sie
müffen sich eilen, der Zug hält nicht lange
an auf so kleinen Stationen." Die so Ge
rufene, ein junges, schlankes Mädchen, riß
sich bei dieser Mahnung schnell aus den
Armen ihrer Gefährtin los und lief herbei.
„Steigen Sie nur ein, ich reiche Ihnen
die Sachen schon herein", ließ sich die Stimme
ihres Begleiters wieder vernehmen, „so, und
nun —" er streckte die Hand aus und sah
zu ihr empor, mit seinen tiesdunkelblauen,
ernsten Augen, und sie war wieder auf das
erste Trittbrett herabgestiegen, aber sie sah
ihn nicht an; sic legte nur einen Augenblick
ihre Hand in die seine. „Leben Sie wohl",
sagte sie dann, „recht fröhliche Weihnachten,
die werden nicht fehlen und — grüßen Sie
mir Ihre Braut." Hier zuckte ein schelmisches
Lächeln über sein hübsches Gesicht, aber sie
merkte es nicht, denn sie sah an ihm vor
über, während sie das sagte und dann ganz
leise seufzte. „Danke schön, Magda, ich
will ihr's ausrichten, morgen Abend gleich."
Sie wollte noch etwas hinzufügen, allein
„einsteigen" drängte der Schaffner, und so
wandte sic sich rasch um und stieg ein. Noch
einmal tönte das Glöcklcin, wieder ein Pfiff,
und langsam setzte der Zug sich in Be
wegung. „Ein recht freudiges Weihnachts-
scst auch Ihnen", und: auf Wiedersehen
hörte sie noch rufen, sie sah noch einmal die
Mütze, die er schwenkte und das weiße
Tüchlein seiner Schwester wehen, dann aber
sah sie plötzlich gar nichts mehr, denn ihre
Augen füllten große, heiße Tropfen; sic
drehte sich um — außer ihr war Niemand
im Coupee, — da setzte sic sich hin und
schluchzte bitterlich.
Warum?
2a, Magda, warum hast Du dies treue,
liebcrciche Herz, das doch vor kaum zwei
Jahren Dir, und nur Dir allein, so warm
und innig schlug, warum hast Du's ver
schmäht? Oder vielmehr, warum hast Du
in kindischem Unverstand ein thöricht Spiel
mit ihm getrieben? Du liebtest ihn und
wußtest, daß auch er Dich so sehr liebte,
ein gutes Wort nur, ein freundlicher Blick
schon hätte ihn froh gemacht; warum also
das ewige Necken, die kindischen Launen,
das abstoßende Benehmen, warum nur? So
jung warst Du nicht mehr, daß Du nicht
hättest wiffcn können: Mit einem Herzen
spielt man nicht! Verdenken konntest Du's
ihm nicht, als er, des langen Spielens uiüde,
sich stumm und verletzt zurückzog. Da er-
schrackst Du freilich heftig, gingst in Dich,
sahst Deine Thorheit und Dein Unrecht ein
— da aber war es schon zu spät! Er ging
— und eh' Du noch recht zu Dir selber
kamst, hatt'st Du ein theures Kleinod, einen
reichen Schatz verloren, nur einzig und allein
durch Deine eigene Schuld.
Nun sitzest Du hier und weinst und klagst
und gäbest, oh, so viel darum, Geschehenes
wieder gut zu machen, — zu spät; er hat
ein ander Herz gefunden, das ihm seine
Liebe wohl besier zu lohnen weiß.
„Ich habe eine liebe Braut, Magda, was
sagen Sic dazu?" Das war das Wort,
das Dich heute morgen so furchtbar erschreckt,
das Dich so jäh erblassen ließ. Meinst Du,
er hätte cs nickt gemerkt! Wie er sich freute,
wie er triumphirte! Ach, daß Du Dich so
verrathen mußtest! Freilich, das thatest Du
schon Tags vorher, als er so Plötzlich in
das Zimmer trat, der Doktor, der doch am
heiligen Abend, also morgen, erst kommen
sollte, wenn der schon wieder von hier fort
reist. Ob er's wußte, daß Du hier auf
Besuch seist? Vielleicht hat Mutter oder
Schwester cs ihm „nur so nebenbei" ge
schrieben. Genug, er hatte sich eben zwei
Tage verfrüht, und der eine Tag, den ihr
zusammen verlebt, wie war er so schön! Du
warst still, aber doch so glückselig und froh.
Und er, er schien es auch; er war so gut
und freundlich, besonders, als er sah, daß
Du eine ganz andere geworden warst, fast
schien's, als sei das Leid, das Du ihm an
gethan, vergessen und vergeben. Der eine
Tag, er ließ Dir eine neue Welt, voll süßer,
lieblicher Träume aufgehen, bis diese ganze
Welt mit einem Ruck zusammenbrach.
„Ich habe eine liebe Braut, Magda, was
sagen Sie dazu?" Ja, was solltest Du da
zu sagen? Nicht eine Silbe brachtest Du
hervor. Das also war seine Rache, seine
Vergeltung! Kein Mensch hatte vorher etwas
davon gesagt, weder seine Eltern noch Ger
trud, seine einzige Schwester, die doch zu
gleich auch ihre beste Freundin und Ver
traute war, sie mußten es wohl selbst nickt
gewußt haben. Dies war ja sogar sehr
wahrscheinlich, denn er hatte ja noch gesagt:
„Sie sind die erste, die es erfährt, und
bitte, sprechen Sie noch zu Nieniand da
von. Denken Sie, welch ein Zufall, meine
Braut wohnt in Kassel, noch darf ich ihren
Namen aber nicht nennen. Morgen, am
heiligen Abend, gedenke ich sie zu überraschen."
So vollständig versunken in ihren Kummer
war Magda Sieler, daß sie gar nicht ein
mal merkte, wie's inzwischen draußen all
mählich ganz dunkel geworden war. Des
wegen erschrack sie sörmlick, als sie jetzt den
Blick hinauswandte. Ach! Schon so spät?
Sie sah auf die Uhr, — wahrhaftig, schon
sechs Uhr! Da mußte sie jeden Augenblick
in Kassel eintreffen. Zwei Stunden also
war sic so gefahren. Nun aber schnell die
letzten Thränenspuren getrocknet; ach, wie
fatal, nun würde man ihr's doch gleich an
sehen, daß sie geweint! Und da hielt auch
schon der Zug, und der Papa und Fritz
der Secundaner, standen auf dem Perron
und spähten in deui Gewühl uinher, bis sie
endlich des Töchterleins ansichtig wurden,
das noch am Coupee stand und durchaus
nicht zurechtkommen konnte mit seinem Ge
päck. Es war aber auch gar so geschwind
gegangen auf einmal! Und so gar nieder
geschlagen und verlegen stand es da, und
hatte so merkwürdig rothe Augen. „Aber
Kind", sprach der Papa nach der ersten Be
grüßung, „das hättest Du doch vorher alles
ordnen können. Hast Du geschlafen und
bist erst dicht vor Kassel erwacht?" „Ja",
log das Töchterlein mit kühner Stirn, denn
was konnte es sonst sagen? „Hast Dir
aber tüchtig die Augen gerieben, als Du
wach wurd'st, fast sieht cs aus, als hätt'st
Du geweint", bemerkte der naseweise Bruder,
worauf ihm ein ärgerliches: „Schweig still,
dummer Junge", zu Theil wurde. Der Papa
hörte Gott sei Dank von diesen Worten
nichts, denn er besorgte den Koffer. Der
dumme Junge" aber fand, daß sein
Schwesterlein durchaus nicht liebenswürdiger
geworden sei, während des vierwöchentlichen
Besuchs in L . ., und beschloß, sich empfind
lich an ihr zu rächen ; einem Obersecundaner
wirft man nicht ungestraft einen „dummen
Jungen" an den Kopf, besonders, wenn
dieser, wie hier, vollständig in seinem Recht ist.
Und dasselbe, wie er, fanden Alle: Magda
sah keineswegs aus wie Jemand, der ver
gnügte vier Wochen in einer eng befreundeten
Familie auf dem Lande zugebracht und nun,
einen Tag vor'm heiligen Abend, wieder
nach Haus kam zu Eltern und Geschwister,
um so vereint das fröhliche Fest der Weih
nacht zu feiern. Sie war still und meist
in sich gekehrt, aß wenig oder gar nichts
und sehnte sich nach weiter nichts, als vor
den prüfenden Blicken des Papas, den vielen
Fragen der Mama und den höhnischen
Randbemerkungen des gekränkten Bruders
entfliehen zu können in die Ruhe ihres
Stübchens. Aber die Frau Mania war
gar neugierig, die wollte erst genau wisien,
wie's der Frau Doktor gehe, seitdem sie
von hier fortgezogen, ob sie sich auch gut
eingewöhnt in dem kleinen Städtchen, ob
der Herr Doktor jetzt recht viel zu thun
und ob Emilie, die Tochter, auch schon netten
Verkehr gefunden habe. Magda beantwortete
gewissenhaft jede Frage, als aber die Rede
auch einmal auf den jungen Doktor kam, den
Sohn, ob sie nicht auch von diesem mal
was gehört, da konnte fie's doch nicht ver
hindern, daß langsam eine glühende Röthe
ihr feines Gefichtchen überzog. Der Doktor
Ernst Haller war immer ein heikler Punkt
in der Unterhaltung gewesen, seitdeui damals
das vorgekommen war, seit die Eltern ihren
liebsten Wunsch zu Wasser werden sahen.
Eigentlich hatte man gar nichts wieder von
ihm gehört, nur, daß er seinen Doktor ge
macht und sich in einem Städtchen bei Berlin
niedergelassen habe. Als also jetzt begreif
licher Weise die Mutter nach ihm fragte,
mußte sic sich mit dem kurzen, aber inhalts
schweren Bescheid begnügen: er ist verlobt!
Nein, so hätte Magda sich die Wirkung
dieser lakonischen Antwort nicht gedacht. Die
kleine Frau fuhr ordentlich von ihrem Sitze
auf. „Verlobt? Mit wem?" „Mit einem
Fräulein von hier, das er in Berlin kennen
gelernt. Den Namen hat er mir nicht genannt,
morgen Abend soll die Verlobung öffentlich
werden." Das junge Mädchen schluckte mühsam
an ihren Thränen; jetzt hätte sie gar nichts
mehr beantworten können. Das brauchte sie
aber auch nicht, denn, merkwürdig, die Mutter
wollte auf einmal gar nichts mehr wissen,
und sah nur traumverloren vor sich hin,
von Zeit zu Zeit mit dem Kopf schüttelnd.
Eine drückende Schwüle lagerte auf der
Atmosphäre, und alles war dem Vater
innerlich von Herzen dankbar, als er der
Sache ein Ende machte, indem er sich er
hob und zum Schlafengehen mahnte. „Du
hast noch nicht einmal nach den Kindern ge
fragt, Magda", sagte die Mutter noch. „Ach
ja, die Kmder, sie sind doch aber längst zu
Bett?" „Natürlich, Kind. Sie waren so
aufgeregt vor lauter Freude auf morgen,
daß ich sie beide schon um sechs Uhr ins
Bett steckte. Du kannst ja noch 'mal hin
über gehen ins Schlafzimmer."
Und Magda ging. Da lagen Hans und
Lotti in ihren Bettchen, die kleinen Wangen
glühten und sie lächelten beide noch im
Schlafe; wahrscheinlich führten bunte, lieb
liche Träume sie schon unter den strahlen
den WcihnachtSbaum, zu den ersehnten Herr
lichkeiten. Ach! Wie waren die Kleinen
doch so rührend in ihrer unschuldigen Freude.
Magda kniete neben den Geschwistern nieder
und weinte sich recht von Herzen aus; für
sie gab's diesmal keine Freude, wenn doch
„morgen" nur erst vorüber wäre! —
Seit Jahren war es in der Familie so
Brauch, daß gleich am Morgen des vier
undzwanzigsten Dezember die Kinder zur
Großmutter, die in derselben Stadt wohnte,
gebracht wurden, denn zu Hause lungerten
sie doch nur müssig und gelangweilt herum.
Die Kleinen wußten es gar nicht anders:
Nach dem Frühstück ging'S zur Großmama,
die ihnen die schönsten Märchen erzählte und
bei der sie den ganzen Tag über blieben,
bis am Abend Jemand kam und sie holte,
und dann ging der Jubel erst los.
Es war Magda sehr willkommen, daß die
Mutter das Amt des Hin- und Herführens
diesmal ihr übertrug, die rechte Freude am
Schaffen daheim fehlte ihr heute doch, und
die Mutter war gutmüthig genug, das ein
zusehen und sie „an die Luft" zu schicken.
Kannst Dich noch ein bischen bei der Groß-
Mama aufhalten, Kind", fügte sie noch hin
zu, „sie hat Dich doch jetzt lange nicht ge-
ehen." Und Magda blieb und kehrte erst
am Mittag zurück. Da aber war sie er-
launt, die Mutter urplötzlich ganz umge
wandelt zu finden. Während dieselbe am
Morgen ein ziemlich ernstes, bedrücktes Wesen
zur Schau getragen, leuchteten ihre Augen
jetzt förmlich, glühte sie in fröhlichem Eifer.
hätte nicht viel gefehlt, so wäre sie der
Tochter bei ihrer Heimkehr um den Hals
gefallen.
Mazdas Befremden stieg aber auf einen
noch höheren Grad, als mit Anbruch der
Dämmerung die Mutter darauf bestand, daß
u und Fritz die Kleinen nun wieder ab
holen sollten. „Aber Mama, ich könnte Dir
doch noch helfen", wagte Magda noch
chüchtern einzuwenden. „Ach was, helfen,
hier giebt's für Dich gar nichts mehr zu
helfen, mach' nur, daß Du jetzt fortkommst,
Kind", und mit diesen Worten schob die
Mutter sie zur Thür hinaus. „Es ist schon
ünf Uhr, eil Dich, Magda", rief sie ihr
noch nach.
Und nun endlich ist die ersehnte Stunde
gekommen. Noch ist die große Flügelthür
geschlossen, die den Eingang bildet zu dem
erträumten Paradies, und vor der Pforte
stehen die Kleinen in freudiger Erwartung
und unterhalten sich im Flüsterton, denn
mehr läßt das Gcheimnißvolle der Stunde
nicht zu. Es ist schwer zu entscheiden, was
eigentlich schöner, reizvoller ist: der Eintritt
in dieses Paradies der Kindheit oder die
ungeduldige und doch so selige Stunde
vorher.
Am Fenster stand Magda; sie hatte die
Stirn an die Scheiben gedrückt und schaute
mit trüben Augen hinaus auf die Straße.
Ganz still und menschenleer war's draußen;
der Schnee fiel in dichten Flocken langsam zur
Erde herab, von ferne läuteten die Glocken die
heilige Weihnacht ein, überall Ruhe und
Frieden! Ach, und inmitten dieser himm
lischen Ruhe, warum konnte nur ihr Herz
keinen Frieden finden und klopfte so laut,
warum konnten nur ihre Gedanken sich nicht
beruhigen und wogten so stürmisch? Sie
biß sich auf die Zähne; nein, nur jetzt
nichts sich merken lassen. Sie sah sich nach
den Geschwistern um, die standen Hand in
Hand vor der Thür und sie trat zu ihnen.
Drinnen hörte man den Papa nach dem
Wachsstock rufen, und die Mama stellte die
Klingel zurecht; durch die Ritzen der Thür
drang ein Lichtschimmer verheißend in das
dunkle Zimmer. „So würde sie, das un
bekannte, gottbegnadete Wesen nun auch wohl
stehen und warten, ahnungslos, was drinnen
für ein unendliches Glück seiner warte, ach,
und unter dem Christbaum —“ horch! Ein
silberheller Klingelton von drinnen, weitaus
fliegen die beiden hohen Flügel der Thür,
das ganze, volle, strahlende Lichtmeer strömt
ihr entgegen; ach, und unter dem Christ
bäum — — einen kurzen Augenblick stockt
ihr Fuß auf der Schwelle, nur einen ein
zigen Augenblick — im nächsten schon steht
sie dort, unter dem Tannenbaum, wo zwei
Arme sich voll Verlangen ihr entgegenstrecken,
und sie fliegt geradewegs hinein, in diese
Arme, und läßt sich willig von ihnen um
schlingen, oh, so fest, so innig und fest!
Und sie läßt es ruhig geschehen, daß zwei
Lippen sich auf die ihren drücken, immer und
immer wieder, so stürmisch und heiß.
Sie läßt es nur still geschehn und schließt
die Augen. — — —
Und als der erste, selige Jubelrausch ver
flogen, und sie Hand in Hand mit ihm nun
auch die übrigen Geschenke bewundert und
dabei den würzigen Tannenduft athmet, da
meint sie, ein glücklicheres Menschenkind als
sie sei heute Abend schwerlich wohl zu finden.
Und als später noch der Kerzenschimmer
erloschen, der Jubel ringsum verstummt und
sie noch wachend auf ihrem Lager liegt, da
lebt sie im Geiste noch einmal alle die ver
schiedenen Stunden dieses Tages durch. Halb
wachend noch, halb schon im Traume, ziehen
die bunten Bilder an ihr vorüber.
„Ach! Und unter dem Christbaum" —
Ende.
Kaiser Friedrich über Bismarck's
Konflikts-Politik.
Im ersten Bande von Fürst „Bismarcks
Gedanken und Erinnerungen" ist bei der
Schilderung der sogenannten Danziger
Episode auch das Schreiben kurz erwähnt,
welcher der damalige Kronprinz am
30. Juni 1863 an den Ministerpräsidenten
richtete und das die Politik des letzteren
„in starken Ausdrücken verurtheilte." In
dem demnächst bei Richard Schröder in
Berlin erscheinenden zweiten Band des
von Margaretha v. Poschinger heraus-
gegebenen Werkes: „Kaiser Friedrich in
neuer quellenmäßiger Darstellung" ist
dieser Brief seinem Wortlaut nach mit
getheilt. Das Schreiben wurde seiner
Zeit in der „Times" veröffentlicht. Es
lautet dadurch vollständig in wortgetreuer
Verdeutschung aus englischer Quelle:
„Stettin, den 30. Juni 1863.
Ich ersehe aus Ihrem Schreiben vom
10. d. Mt., daß Sie auf Befehl Seiner-
Majestät unterlassen haben, meinen Protest
gegen die Verordnung, betreffend die
Beschränkung der Freiheit der Presse,
welche ich Ihnen aus Graudenz unter
dem 3. Juni übersandt habe, dem Staats
ministerium offiziell mitzutheilen. ' Ich
kann leicht verstehen, daß die Gelegenheit,
als persönliche Sache einen Fall zu be
handeln, welcher, wie Sie selbst eingestanden
haben, in seinen Folgen eine weit ausge-
dehnte Bedeutung erlangen kann, Ihnen
nicht unwillkommen war. Es würde für
mich zwecklos sein, darauf zu bestehen,
daß diese Mittheilung erfolge, da ich mit
Recht aus Ihren eigenen Worten entnehmen
zu können glaube, daß diese Mittheilung
in nichtamtlicher Weise stattgefunden hat.
Es ist für mich eine Nothwendigkeit,
mit Ihnen offen über die Alternative zu
sprechen, die Sie mir gestellt haben:
nämlich die Ausgabe des Ministeriums zu
erleichtern, oder zu erschweren. Ich kann
diese Ausgabe nicht erleichtern, da ich mich
in einem grundsätzlichen Gegenstände zu
ihm befinde. Eine loyale Handhabung
der Gesetze und der Verfassung, Achtung
und guter Wille für ein leicht zu behan
delndes, intelligentes und fähiges Volk,
— das sind nach meiner Meinung die
Grundsätze, welche jede Regierung bei der
Behandlung ihres Landes leiten sollten.
Ich kann die Politik, welche ihren Aus
druck in der Ordonnanz vom 1. Juni
findet, mit diesen Grundsätzen nicht in
Einklang bringen.
Sie suchen zwar mir den verfassungs
mäßigen Charakter jener Verordnung zu
beweisen und versichern mir, daß Sie
und Ihre Kollegen Ihres Eides eingedenk
seien. Ich meine indessen, daß die Re
gierung einer stärkern Basis benöthigt,
als sehr zweifelhafter Auslegungen,
welche sich nicht an den gesunden Menschen
verstand des Volkes wenden. Sie selbst
beweisen auf den Umstand, daß sogar
Ihre Gegner die Ehrlichkeit Ihrer Ueber
zeugung achten. Ich will diese Behaup
tung nicht untersuchen, aber wenn Sie
den Meinungen Ihrer Gegner irgend wel
chen Werth beilegen, so muß der Umstand,
daß die große Mehrheit der gebildeten
Klassen unseres Volkes den verfassungs
mäßigen Charakter der Ordonnanz leugnet,
in Ihrem Geiste nothwendig Zweifel
erregen.
Das Ministerium wußte im Voraus,
daß dies der Fall sein würde. Es war
sich auch im Voraus bewußt, daß der
Landtag niemals die Bestimmungen jener
Verordnung angenommen haben würde,
und legte deshalb dem Landtage keinen
Entwurf vor, sondern erließ wenige Tage
später die Ordonnanz aus Grund des
Artikels 63 der Verfassung. Wenn das
Land in dieser Handlungsweise keine
loyale Handhabung der Verfassung er
kennt, so möchte ich fragen, was das
Ministerium gethan hat, um die öffentliche
Meinung zu seiner Ansicht zu bekehren.
Es fand kein anderes Mittel, um zu
einem Einverständniß mit der öffentlichen
Meinung zu gelangen, als ihr Still
schweigen aufzuerlegen. Es wäre nichtig,
auch nur ein Wort darüber zu verlieren,
inwieweit diese Verordnung sich in Ein
klang befindet, mit der Achtung und dem
guten Willen, welchem man einem willigen
und loyalen Volke schuldet, das zum
Schweigen verurtheilt worden ist, weil
die Regierung seine Stimme nicht hören
will.
Und welchen Erfolg erwarten Sie von
dieser Politik? Die Beruhigung der
öffentlichen Meinung und die Wieder
herstellung des Friedens ? Glauben Sie,
daß Sie die öffentliche Meinung beruhigen
können, wenn Sie ihr Rechtsgefühl neuer
lich beleidigen? Es erscheint mir der
menschlichen Natur zuwider, einen Wechsel
zu erwarten, wenn das bestehende Gefühl
durch die Handlungsweise der Regierung
beständig gestärkt und verschärft wird.
Ich will Ihnen sagen, welche Ereignisse
ich von Ihrer Politik befürchte. Sie
werden an der Verfassung so lange herum
deuteln, bis sie in den Augen des Volkes
jeden Werth verliert. Auf diesem Wege
werden Sie einerseits anarchistische Be
wegungen erregen, welche über die
Grenzen der Verfassung hinausgehen,
während Sie andrerseits, ob Sie es
beabsichtigen oder nicht, von einer ge
wagten Auslegung zur andern gelangen
werden, bis Sie schließlich zu einem
offenen Bruch mit der Verfassung gedrängt
werden. Ich betrachte diejenigen, welche
Seine Majestät den König, meinen aller
gnädigsten Vater, in solche Bahnen leiten,
als die gesährlichsten Rathgeber für
Krone und Land.
Nachschrift. Schon vor dem 1. Juni
d. Js. machte ich nur selten von meinem
Rechte Gebrauch, den Sitzungen des
Staatsministeriums beizuwohnen. Nach
der vorstehenden Darlegung meiner Ueber
zeugungen werden Sie meine Bitte an
Seine Majestät den König begreiflich
rüden, daß ich mir erlaube, mich der
Theilnahme an oiesen Sitzungen gegen
wärtig gänzlich zu enthalten. Eine fort
gesetzte öffentliche und persönliche Bekun
dung der Gegensätze zwischen mir nnd
dem Ministerium würde weder meiner
Stellung noch meiner Neigung entsprechen.
In jeder anderen Hinsicht jedoch werde
ich mir in dem Ausdruck meiner An
sichten keinerlei Beschränkungen auferlegen;
und das Ministerium möge versichert sein,
daß es von ihm und seinem künftigen