^ 3. Blatt.
Şonrrtags-Attsgabe.
Nr. 272.
zum
Diese Unterhaltnnqs - Beilage wird dem „Rendsburger
Wochenblatt" einmal wöchentlich (Sonntags) bcigegeben.
Sonntag, den 19. November 1899.
Druck und Verlag von dem verantwortlichen Herausgeber
H. Möller (H. Gütlein Nachf.), Rendsburg, Mühlcnstr. 13.
Eine Unterredung mit
Bismarck. ^
— In der historischen Sektion des
Bremer Philologentages hat der bekannte
Schulmann und Historiker Prof. Jäger
aus Köln einen Vortrag gehalten, dessen
Thema lautete: Einige Bemerkungen zu
„Bismarck's Gedanken und Erinnerungen."
Diese Bemerkungen bestanden in der
Hauptsache in wesentlichen Ergänzungen,
die der Vortragende aus einer inhaltlich
bis jetzt noch nicht veröffentlichten Unter-
redung mit dem Altreichskanzler am 15.
Juni 1893 in Kissingen hernahm. Die
Unterredung hat in einem bescheidenen
Zimmer der oberen Saline in Kissingen
stattgefunden — nur die Fürstin und Dr.
Chrysander sind zugegen gewesen — und
hat lediglich historische Fragen betroffen.
Pros. Jäger theilte folgendes mit: Seine
erste Frage betraf die Thronrede, mit der
1866 nach den Siegen in Böhmen der
Preußische Landtag eingeleitet wurde, und
die Auffassung Bismarck's über die poli
tische Bedeutung des Jndemnitätsgesuches.
Redner bemerkte dem Fürsten, daß er
dieses Gesuch für Die größte staatsmännische
That des Kanzlers und des Königs halte:
sie werde aber als solche keineswegs hin
reichend erkannt, wie ihm noch vor kur-
zer Zeit die Aeußerungen politisch so
entgegengesetzte Standpunkte vertretender
Männer wie Virchow und Stöcker be
wiesen hätten.-' Der Fürst erwiderte zu-
stimmend und fällte dabei über Birchow
das Urtheil: „Das ist einer von den
Leuten, die niemals Unrecht gehabt haben
wollen." Besser kam Stöcker weg: „Er
paukt gut," sagte Bismarck, „und ich habe
mich, solange es irgend anging, gut mit
ihm zu stellen gesucht, weil es immer nütz
lich ist, so einen Mann zum Bundesge
nossen zu haben." (Denselben Ausspruch
berichtet John Booth in seinem jüngst
erwähnten Buche.) Was die Beweggründe
des Jndemnitätsgesuches anlangt, so be
tonte er mit Nachdruck, daß ihm damals
schon der französische Krieg unvermeidlich
erschienen, 7es ihm also vornehmlich darum
zu thun gewesen sei, durch einen derartigen,
dem Geiste der Verfassung entsprechenden
Schritt das Vertrauen der konstitutionellen
süddeutschen Staaten zu gewinnen. Der
König habe erst nicht seine Einwilligung
geben wollen, in der Meinung, er werde
damit eingestehen müssen, daß er im Un
recht gewesen sei; „ich bewies ihm aber,"
fuhr der Fürst fort, „er werde gerade
umgekehrt das Land auffordern, anzuer
kennen, daß er Recht gehabt habe." Das
Gespräch wandte sich dann der Situation
vor dem Kriege zu. Der Fürn bezeichnete
den 1866er Krieg als „unsern ersten
schlesischen Krieg", gab dann aber zu,
daß es genauer sein würde, mit diesem
den Krieg von 1864 in Parallele zu stellen.
Der König sei sehr gegen die Annexion
gewesen; noch mehr aber der Kronprinz.
Dieser sei (noch vor dem Gasteiner Ver
trag) einmal in einem Ministerrath so
weit gekommen, daß er nach einer Aeuße
rung Bismarck's mit dem Finger auf die
Stirn gedeutet habe, um seinen Zweifel
an dem gesunden Verstände des Fürsten
auszudrücken. Ueber die Monarchenzu
sammenkunft in Gastein (August 1865)
erzählt der Fürst, er habe dabei zuerst die
Lage in. .der Weise auseinandergesetzt, daß
er es sür- Oesterreichs Vortheil erklärt
habe, Preußen in Schleswig-Holstein ge-
währen zu lassen; er habe dabei haupt
sächlich durchblicken lassen, daß Preußen
Oesterreich in gleichem Falle denselben
Gefallen zu thun bereit sei. Kaiser Franz
Joseph habe sich daraus ganz unvermittelt
an König Wilhelm mit der Frage gewen
det: „Ja, willst Du den» viele Länder
haben?" waSĢņvck König sehr frappirt
habe; er hgbe driyii eine ausweichende
Antwort gegèbeÄî-Bon Gastein kam die
Rede auf die Kaiserin Augusta. Der
Fürst gab sich nicht die Mühe, die Abnei
gung, die er gegen diese hegte, zn ver
bergen, wie sie sich ja auch in den „Ge
danken und Erinnerungen" deutlich genug
ausspricht. — Im Anschluß an diese Mit
theilungen schildert Prof. Jäger noch den
Gesammteindruck, den die Persönlichkeit
Bismarck's auf ihn gemacht habe. Vom
Standpunkt des Historikers aus nahm
Bismarck eine Mittelstellung zwischen
Cromwell und Richelieu ein; diesem gleiche
er durch seine Fähigkeit, die Dinge aus
schließlich aus ihren politischen Gehalt hin
zu beurtheilen, ohne sich den Blick durch
Rücksichten auf nebensächliche Erwägung
trüben zu lassen; mit Cromwell habe er
das hohe Vertrauen auf eine sichere Füh
rung gemein, das seinen Ausdruck in dem
Worte gesunden hat: „Der kommt am
weitesten, der nicht weiß, wohin er geht."
Ins êļhk» D|st Sinsen.
In der neuesten Nummer der „Revue
des Revues“ macht Dr. L. Caze eingehende
Mittheilungen über die Erfindung des
russischen, seit längerer Zeit in London
ansässigen Professors Peter Sticns, der
behauptet, er könne die Blinden sehen
lassen, auch wenn sie beide Augen voll
ständig verloren oder nie besessen haben.
Die bisherige Heilung der Blindheit,
wenn sie überhaupt heilbar war, bestand
darin, daß die geschädigte Sehkraft des
Auges und der Sehnerven wieder herge
stellt wurde. Professor Stiens dagegen
braucht gar keine Augen mehr, sondern
er erzeugt das Sehen dadurch, daß er
durch einen künstlichen Apparat ein Seh-
bild ohne Vermittelung der Augen direkt
ins Gehirn befördert. Er hat bis jetzt
keine Einzelheiten über fein System ver
öffentlicht, doch hat er sich dazu verstanden,
dem Dr. L. Caze einen Einblick in den
jetzigen Stand seiner Experimente und
Forschungen zu gewähren. Dr. Caze be
richtet darüber: „Nachdem Professor Stiens
mich in eine dunkle Kammer geführt
hatte, band er mir fest die Augen zu, so
daß ich absolut nichts mehr sehen konnte.
Dann hörte ich ihn hin- und hergehen,
Zündhölzchen streichen, eine Lampe an
zünden u. s. w., aber ich konnte nicht
den mindesten Schimmer eines Lichtes
wahrnehmen. Dann fühlte ich, wie er
mir einen Apparat an die Schläfe setzte
und sofort merkte ich ein schwaches Licht,
das die Gegenstände in meiner unmittel
baren Nachbarschaft erhellte. Ich sah
eine Hand vor meinen Augen und konnte die
Finger zählen, die sich mir entgegenstreckten ;
es waren drei. Allmählich wurde es noch
heller und ich konnte die Möbel in dem Zim
mer unterscheiden; es waren zwei Tische und
acht Stühle, die ich mit Leichtigkeit
zählte. Ich hatte auch das Gefühl, daß
ich bei längerer Dauer des Experiments
meine gewöhnliche Sehsähigkeit erhalten
würde; den Schläfen entlang fühlte ich
etwas wie einen elektrischen Strom.
Plötzlich wurde das Apparat weggenommen
und sofort war um mich her wieder die
tiefste Finsterniß. Das Experiment war
zu Ende." Professor Stiens weigerte sich
auch jetzt noch, seinen Besucher mit dem
Apparate vollständig bekannt zu machen,
weil derselbe, wie er sagte noch mancher
Verbesserungen bedürfe; doch gab er ihm
wenigstens einige Andeutungen über die
Prinzipien, auf die er sich gründet. Der
Mensch sieht bekanntlich nicht mit den
Augen, sondern mit dem Gehirn; die
Augen nehmen nur die Sehbilder auf
und der Sehnerv leitet sie zum Gehirn,
wo die Wahrnehmung stattfindet. Die
Blinden machen sich durch Betasten ein
genaues Bild von der äußeren Form der
Gegenstände. Wenn die Augen verloren
sind, treten andere Sinne in die Lücke.
Biele niedere Thiere haben kein besonderes
Sehorgan, aber sie sehen sozusagen mit
dem ganzen Körper. Wenn also ein
Bild ohne Mitwirkung der Augen dem
Gehirn zugeführt werden kann, dann kann
ein Blinder ebenso gut sehen wie ein
Mensch mit gesunden Augen. Das ist
die Grundidee ves Stien'schen Apparats.
Statt durch die Netzhaut des Auges wird
das Bild eines Gegenstandes durch ein
Blättchen aufgenommen und durch einen
elektrischen Strom ins Gehirn geleitet.
Das Prinzip ist also daffelbe wie beim
Telephon, das die menschliche Stimme
aufnimmt, fortpflanzt und sie wieder von
sich giebt. Der Apparat giebt also nicht
blos den Blinden das Gesicht, sondern
er dient auch zur telegraphischen Ueber-
mittelung von Bildern; er ist für das
Gesicht, was das Telephon für das
Gehör ist. Daraus kann man schließen,
daß der Apparat des Professors Stiens
auch eine neue Anwendung des Tele
phons mit sich bringt; der Professor
will den Tauben das Gehör verschaffen,
wie ven Blinden das Gesicht. Wir träumen
ja auch in vollster Dunkelheit mit ge
schloffenen Augen die hellsten Bilder; das
beweist, daß das Auge zum Sehen nicht
unumgänglich nöthig ist und daß das
Gehirn allein sieht. So erklärt sich der
Apparat des Professors Stiens in ganz
einfacher Weife. Dr. Caze schließt seinen
Bericht mit folgenden Sätzen: „Professor
Stiens hat vollständig Recht, wenn er
sich weigert jetzt schon die Einzelheiten
einer Erfindung zu veröffentlichen, die
ihn noch zu wichtigen Aenderungen und
Verbesserungen nöthigt. Bezüglich der
Leistungen seines Apparats müssen wir
uns also noch großer Zurückhaltung be
fleißigen. Es wäre ebenso unvernünftig,
einen Triumphgesang anzustimmen, wie
sich einem Skeptizismus hinzugeben, der
durch nichts gerechtfertigt ist. Die Schluß
folgerung des Professors Stiens bietet
im Ganzen nichts, daß unserer Erkennt
niß widerspricht. Wird die Praxis mit
der Theorie übereinstimmen? Das wird
uns eine baldige Zukunft lehren. Ader
wenn Professor Stiens Recht behält,
wird man ihn zu den größten Wohl
thätern der Menschheit zählen."
TsnzgeseWsteil bei den Mut
Die Gewohnheiten des gegenwärtig im
Vordergrund des allgemeinen Interesses
stehenden Burenvolkes schildert eine eng
lische Zeitschrift in einem fesselnden und
— wie von der Redaktion des Journals
ausdrücklich bemerkt wird — unparteiischen
Artikel aus der Feder eines Uitlanders.
Da heißt es unter anderem, daß die
Buren eine ganz außerordentliche Leiden
schaft für das Tanzen hegen. Obwohl
sie im allgemeinen recht einsam leben
und gar nicht weit genug von einander
entfernt wohnen können, veranstalten sie
doch sehr häufig Tanzgesellschaften. Die
„Maisjes" (jungen Mädchen) und jungen
Männer kommen dann schon am frühen
Nachmittag von allen benachbarten Farmen
in einem Umkreise von 30 engl. Meilen
im Hause des Festgebers zusammen. Die
Mehrzahl legt den Weg in sogenannten
Kapwagen zurück, viele fahren in Ochsen
fuhrwerken vor, die Männer kommen
größtentheils zu Pserde. Ein Buren-
sarmhaus besteht in der Regel aus drei
Räumen, einem großen und zwei kleineren.
Das große Zimmer wird anläßlich eines
„Balles" stets bis aus zwei oder drei
Holzbänke ausgeräumt. Zwei reflektnende
Petroleumlampen, die an der Wand
hängen, bilden die primitive Beleuchtung
des kleinen Saales Nach der Musik
einer von einem halbsarbigeu jungen
Menschen gespielten Harmonika beginnt
gegen 5 Uhr der Tanz. Mädchen wie
Männer erscheinen in ihrer Alltags-
lleidung, die nach unseren Begriffen ziem
lich unordentlich und keineswegs über
trieben sauber ist Die Frauen tragen
fast immer Schwarz; der einzige Ausputz
ist ebenfalls ein wenig sarbiges Band.
Aus billigem Corduroy, einem gerippten
baumwollenen Stoff, sind die Anzüge der
Männer gefertigt. Mit den Hüten aus
dem Kopf stampfen die Tänzer in ihren
schweren Schuhen umher. Tourentänze
kennen die Buren nicht. Ihre Rund
tänze, die sich alle gleichen sind ein
Mittelding zwischen einem schwerfälligen
Walzer und einer nichts weniger als
flotten Polka. Die Mädchen legen beim
Tanzen meistens ihre Hände auf die
Schultern der Männer, nnd diese um
fassen die Taillen ihrer Partnerinnen,
indem sie die beiden Daumen vorne und
die übrigen acht Finger nach hinten
halten. Nachdem man 2 bis 3 Stunden
herumgesprungen ist, begiebt man sich auf
die Veranda oder ganz ins Freie und
nimmt Erfrischungen in Form „Dop"
(Burenbranntwein), Limonade, Kuchen
und Naschwerk zu sich. Während der
Zeit wird der „Tanzsaal" in dem die At
mosphäre durch den von dem Lehmfuß-
boden aufgewirbelten Staub unerträglich
dick geworden ist, gelüftet, gefegt und —■
mit Ochsenblut aufgewischt. Dieses Mittel
hält den sich immer von neuem ent
wickelnden Staub etwas nieder und macht
den Boden recht glatt. Dann wird wei<
tergetanzt, und nach ferneren drei Stunden
wiederholt sich dieselbe Sache, sodaß
Tanzen, wirbelnde Staubwolken, Restau-
riren auf der Veranda und Fegen nebst
Ochsenblntschmieren in bestimmten Zwischen
räumen auf einander folgen. Dieser
Art Vergnügen giebt man sich bis acht
Uhr Morgens hin. Um diese Zeit fangen
alle an, sich schläfrig zu fühlen, und
eine allgemeinere längere Ruhepause
tritt ein. Die Frauen ziehen sich in eins
der beiden Nebenzimmer zurück und ver
suchen etwas zu schlafen, während die
Männer sich unter ihre im Schuppen
stehende Wagen legen und dort rauchen
und ausruhen. Um zwölf Uhr wird ein
solides Mahl eingenommen; gleich darauf
sängt die Hüpferei noch einmal an und
dauert bis in den späten Nachmittag.
Dann endlich brechen alle Gäste aus und
streben ihrem mehr oder weniger fernen
Heim zu.
Allerlei.
— Achtundzwanzig Jahre in der
Wiege. Eine erschütternde Tragödie der
Mutterliebe wird aus Wien berichtet.
Ein unglückliches Geschöpf, welches stets
nur das Mitleid der Welt oder da? In
teresse der Physiologen und Aerzte crcegt
har, aber im übrigen eine Last für das
schwergeprüfte Herz seiner Mutter war,
ist in Stockerau bei Wien aus dem Leben
geschieden. In demselben dürftigen Wiegen-
forb, in dem es als Säugling gebettet
wurde, ist das arme Wesen zur Jungfrau
gereift und nach dem schnellen Verfall in
den Armen seiaer Mutter, der Eisenbahn
portiers Wittwe Anna Schumann, im
achtundzwanzigsten Lebensjahre gestorben,
Die Aerzte hatten dem Kinde in seiner
Jugend ganz die Lebensfähigkeit abge
sprochen, doch die sorgsam? Pflege der
Mutter hat Wunder gewirkt. Marie
Schumann wurde im Januar 1872 ge
boren. Damals stand der Donaueisstoß
vor Wien Als die Mutter mit dem
Täufling aus der Kirche heimkehrte, wurde
die bescheidene Wohnung von der Hoch-
fluth durchwogt. Der Schrecken lähmte
der armen Mutter die Glieder, sie mußte
flüchten mit dem Kinde, und heute schreibt
sie dem Schrecken das Leiden des Kindes
zu, welches in seinen 28 Jahren fast in dem
selben hilflosen Säuglingszustand, wie es
damals war, zurückgeblieben ist Das
Kind lernte nicht stehen, nicht gehen,
nicht sprechen nicht selbstständig essen,
nicht denken nnd blieb in allen geistigen
Functionen verkümmert. Es konnte nur
kriechen oder rutschen, die zurückgebliebenen
Beinchen konnten den schweren Oberkörper
nicht tragen, es mußte bei jeder Be
wegung getragen werden. Es vermochte
nur zu lallen oder unarliknlirte Laute
vernehmen zu lassen, um seine Bedürsniffe
anzudeuten Es mußte durch die ganze,
lange Zeit mit flüssiger, weicher Speise
genährt werden, denn es konnte das gut
entwickelte Gebiß nicht zum Beißen be
nützen. Der Oberkörper entwickelte sjch
scheinbar normal, so daß das Mädchen.