Full text: Newspaper volume (1899, Bd. 2)

HägLich erscheinendes H-Lcitt. 
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—Ģ2 stee Jahrgang. 
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irgend welcher Art ist die regelmäßige Lieferung 
dieses Blattes Vorbehalten. 
Druck und Verlag von dem verantwortlichen Herausgeber H. Möller (H. Gütlein Nächst.), Rendsburg, Mühlenstraße 18. 
Dem Rendsburger Wochenblatt wird 
„Der Landwirth" 
(Zeitschrift für die politischen u. socialen Interessen 
der Landwirthschast) gratis beigegeben. 
WO. 242. 
Sonntag, den 15. Hetober 
1899. 
Morgen-Berichte. 
W Berlin, 13. Oct. Die „Nordd. Allg. 
Ztg." bringt in Sperrdruck folgende 
Notiz: Wir haben bisher von der Zei> 
tungsfehde, welche sich zwischen politischen 
Blättern der verschiedensten Richtungen 
über eine angebliche Krisis innerhalb des 
Staatsministeriums entsponnen hat, keine 
Notiz genommen, aus dem einfachen 
Grunde, weil nach unseren zuverlässigen 
Informationen über die schwebenden Fra 
gen unserer inneren Politik Meinungs 
verschiedenheiten im Schooße des Staats 
ministeriums überhaupt nicht bestehen. 
Wenn einzelne Zeitungen so weit gehen, 
zu behaupten, der Direktor des Litterari 
schen Bureaus des Staatsministeriums, 
Geh. Regierungsrath Dr. v. Falk habe 
im Aufträge des Bicepräsidenten des 
Staatsministeriums allein oder in Gemein 
schaft mit einem Andern die Redaction der 
„Neuen Preußischen Zeitung" aufgesucht 
und daselbst irgend welche Erklärungen 
abgegeben, so scheint doch geboten, weiterer 
Legendenbildung entgegen zu treten. An 
der ganzen Nachricht, deren tendenziöse 
Unwahrheit übrigens von einigermaßen 
urtheilsfähigen Blättern leicht hätte erkannt 
werden können, ist selbstverständlich kein 
wahres Wort. 
Berlin, 13. Oct. In seiner heutigen 
Sitzung hat das Magistrats-Collegium 
beschlossen, gegen das Erkenntniß des 
Bezirksausschusses in der Angelegenheit 
des Friedhosspotals im Friedrichshain 
beim Oberverwaliungsgericht Berufung 
einzulegen. 
München, 13. Oct. Nach Bläitermel- 
dungen aus Augsburg stürzte dort heute 
Wittag kurz vor 12 Uhr bei dem Fabrik- 
Neubau der mechanischen Weberei von 
Kahn und Arnold die dreiStockwerk 
hohe, ganz in Eisen ausge- 
führteWollhalle in sich zu 
sammen. 3 Arbeiter wurden unter den 
Trümmern begraben, von denen 2 todt, 
der dritte schwer verletzt ist. 
Mannheim, 12, Oct. Bei einem Brande 
in Mundelfingen (Baden) sind 4 Kinder 
ums Leben gekommen. 
München, 13. Okt. Bei der „Fausts- 
Vorstellung im Hoftheater erlitt der Dar 
steller des Faust, Stury durch einen Sturz 
eine Gehirnerschütterung. Die Vorstellung 
wurde abgebrochen. 
Lübeck, 13. Okt. Die Polizei über 
raschte in einem hies. Hotel 10 Personen 
bei verbotenem Glücksspiel; eine 
wurde wegen'Falschspiels verhaftet. 
Prerau (Mähren), 13. Okt. Gestern 
Abend durchzogen mehrere hundert Personen 
lärmend und pfeifend und Spottlieder 
singend die Straßen nnd zertrümmerten 
mehrere Fensterscheiben durch Steinwürfe. 
Der Polizei und Gendarmerie gelang es, 
die Ruhe wiederherzustellen. 
M.-Gladbach, 12. Oct. Auf der Land 
straße bei Anrath wurde der hiesige 
Tischlermeister Oberem in der Nacht 
von drei Unbekannten überfallen und 
schwer verletzt. Heute früh ist er gestorben. 
Die Ursache des lleberfalles 'ist noch un 
aufgeklärt. 
Zürich, 12. Oct. Nach viertägiger 
Verhandlung sprach heute unter allgemei 
nem Jubel einer großen Volksmenge 
das Schwurgericht den des Mordes an der 
Dirne Kleinhenne angeklagten Müller ein 
stimmig frei, unter Kosten- und Entschädi 
gungsübernahme an den Staat. Der 
Freispruch erfolgte, weil der Angeklagte 
sein Alibi fast bis zur Evidenz nachweisen 
konnte. 
Paris, 13. Oct. Ein Nachspiel der 
Dreyfus-Asfaire wird aus Bar 
le-Duc berichtet. Dort fand vorgestern 
ein Duell zwischen zwei Leut- 
n a n t s des in St. Mihiel in Garnison 
liegenden 25. Jäger-Bataillons zu Fuß 
statt. Leutnant Olivier wurde von seinen 
Kameraden des „Drcyfusismus" bezichtigt 
und seit acht Monaten deshalb gemieden. 
Daraus ergab sich kürzlich ein Streit mit 
dem Leutnant Oherne und eine Forderung 
auf Pistolen. Der Zweikampf wurde in 
dem Hohlweg von Verzeilles ausgesochten. 
Leutnant Olivier hielt das Feuer seines 
Gegners ruhig aus, ohne es zu erwidern 
und bot demselben zweimal die Hand zur 
Versöhnung, die zweimal von diesem aus 
geschlagen wurde. 
Tromsö, 13. Oct. Anfang dieser Woche 
hat es hier bei einer Kälte von mehreren 
Grad gefroren und sind in einer Nacht 
7—10 Zoll Schnee gefallen. 
Rom, 13. Oktober. Professor Ernst 
Haeckel hat sich durch einen Sturz vom 
Maulthier verletzt. 
Newyork, 12. Oct. Aus Washington 
liegt die offizielle Erklärung vor, daß die 
Union in dem Konflikt zwischen 
Transvaal und Engtand nicht vermittele 
Vom Kriegsschauplatz 
liegt noch nichts Wichtiges vor. Die Boeren 
sind zwar überall im Vorrücken; aber die 
Engländer haben sich ihnen noch nicht ge 
stellt und zu einem Kampfe ist es daher bis 
jetzt nicht gekommen. 
Aus Vryburg (Britisch-Betschuanaland) 
wird unter dem heutigen Datum gemeldet: 
Ein gepanzerter Eisenbahnzug ist zerstört 
worden. Mau befürchtet große Verluste an 
Menschenleben. Die Meldung wird offiziell 
bestätigt. 
Präsident Krüger lehnte es ab, Pretoria 
zu verlassen. Er erklärte, er werde wie ein 
braver Kapitän auf der Brücke bleiben, 
gleichviel, ob sein Schiff sicher in den Ha- 
fen einlaufe oder in die Tiefe hinabsinke. 
Der Präsident des Oranje-Freistaates, 
S t e i j n, erließ eine Proklamation, in 
der er die Bürger des Oranje-Freistaates 
auffordert, der Schwesterrepublik Hülfe zu 
leisten beim Widerstände gegen den Angriff 
eines skrupellosen Gegners, der schoir lange 
nach einem Vorwände suche, uni die 
Afrikander zu vernichten. Präsident Steijn 
giebt der Hoffnung Ausdruck, daß Gott den 
Bürgern beistehen werde. 
Die im Oranje-Freistaat liegende Station 
Albertina, welche Eigenthum der Natal- 
Staatseisenbahn ist, wurde von den Boeren 
genommen. — Aus Amsterdam wird te- 
legraphirt, daß dortigen Blättern zufolge 
die Engländer Negersoldaten aus Bedschua- 
naland rekrutiren, uni dieselben int Kriege 
gegen Transvaal zu verwenden. In Folge 
dessen wird die Transvaalregierung eben 
falls die Schwarzen bewaffnen. — In 
Laurenco Marquez eingetroffeue Züge ha 
ben 10 000 Kaffern hierher gebracht, die 
außerhalb der Stadt lagern. Dieselben sol 
len mit Dampfern nach> dem Limpopo ge 
schafft werden. 
London, 13. Okt. In: auswärtigen 
Amte findet heute Mittag ein Ministerrath 
statt. Die seit vorgestern herrschende Be 
geisterung hat sich hier bedeutend gelegt, 
da man überzeugt ist, daß die englischen 
Truppen vor der Hand einige Niederlagen 
erleiden dürften und die Offensive nicht vor 
dem Ende des Monats Dezember ergriffen 
werden kann. Die ini Kriegsministeriunr 
eingelaufenen Meldungen schätzen die Zahl 
der kampfbereiten Boeren auf 25 000. Der 
englische Heerführer giebt zu, daß diese 
Truppen vortrefflich bewaffnet und ausge 
zeichnete Schützen sind, kritisirt dagegen die 
mangelhafte Organisation der Kavallerie 
und das ungenügende Feldartillerie-Mate 
rial. Der englische Generalstab Wird gegen 
die Zahl der Boeren eine doppelte Anzahl 
Engländer in's Feldstellen, so daß ein end- 
giltiger Sieg Englands unausbleiblich sein 
dürfte. Es sind augenblicklich 52 000 
zur Einschiffung bereit. Die Regierung be 
absichtigt außerdem noch die Mobilisation 
eines weiteren Armeecorps. 
Sozilàmàtischtt Parteitag, 
Hannover, 12. Oct. In der Fortsetzung 
der Debatte waren die Hauptredner gegen Bern 
stein auch Frau Klara Zetkin und Ledebour 
(Dresden). Frau Zetkin will von einer Aenderung 
des Programms nichts wissen. Reformen sind 
in ihren Augen nur Mittel, um das Proletariat 
kampffähiger zu machen. Von einer Republik 
der demokratischen Sammlung hält sie nichts. 
Es gebe keine starke bürgerliche Partei, mit der 
sich die Sozialdemokratie verbinden könne. Man 
müsse sich die Agitation so lebendig gestalten, 
als ob das Endziel morgen schon vor der Thür 
steht. Sie erklärt sich damit einverstanden, in 
der Bebelschen Resolution anstatt „Programm" 
Grundanschauungen" zu setzen. Die sozial 
demokratische Agitation sei niemals auf die 
Katastrophe gerichtet gewesen; die Sozial 
demokratie habe von jeher auch die kleinste 
Reform acceptirt, aber wir können dieselbe nicht 
als Ansatz zur Sozialisirung der Gesellschaft be 
trachten. Wenn es wahr wäre, daß jede Reform, 
wie David meinte, der Arbeiterklasse zu gute 
kommt und einen Schritt weiter zur Sozialisirung 
der Gesellschaft führt, dann kann man auch die 
Polizeiverordnung, daß jeder Hund einen 
Maulkorb tragen muß, als eine solche 
Reform betrachten. (Große Heiterkeit. Rufe: Au!) 
Das Endziel sei die Beseitigung allen Lohn 
systems. Auf dem Boden der Gewerkschaften 
oder auf dem Wege der Genossenschaften sei es 
nicht möglich, zur Sozialisirung der Gesellschaft 
zu gelangen. Die Genossenschaften in Belgien 
bilden allerdings das Rückgrat für die dortige 
politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung. 
Wenn es möglich wäre, in Deutschland ähnliche 
Einrichtungen zu treffen, dann würde ich be 
antragen, daß die Partei als solche Genossen 
schaften gründen solle. Wenn es möglich wäre, 
wie in Belgien die Parteibcträge von den Ge 
nossenschaften zu erhallen, dann wäre es nicht 
mehr nöthig, in der Parteikasse den fiskalischen 
Standpunkt so sehr in den Vordergrund zu 
stellen. Frau Zetkin bedauerte, daß es in der 
Partei eine Anzahl Elemente gebe, die eine 
Politik im demokratischen Sinne anstreben. Da 
durch laufe die Sozialdemokratie Gefahr, sich 
vom Boden des Klassenkampfes zu entfernen. 
Wir begrüßen jede Reform, die geeignet ist, die 
Lebenshaltung der Arbeiter zu verbessern und 
letztere auf ein höheres geistiges Niveau zu 
führen. Aber wir wollen diese Reformen nur 
deshalb, weil die Arbeiter dadurch kampffähiger 
für den dereinstigen Befreiungskampf werden, 
weil wir misten, daß mit Sklaven vielleicht ein 
Putsch gemacht, aber nicht die Umwälzung der 
heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung, die 
Eroberung der politischen Macht erreicht werden 
kann. Wir wären Bauernfänger, wollten 
wir dies den Arbeitern nicht sagen. Partei 
genossen! Wir müssen den Arbeitern stets unser 
Endziel vor Augen halten, sie mit Begeisterung 
erfüllen für ihren Befreiungskampf, sie zum 
Kamps vorbereiten, als ob die Er 
reichung unseres Endziels schon 
m o r g e n m ö g l i ch wäre. (Stürmischer Bei 
fall., 
L ö s ch e-Altona wandte sich entschieden gegen 
Bernstein und besonders auch gegen David. 
Bernstein sei zum Ideologen geworden. 
Abg. Stolle erklärte, daß in der Textil 
industrie die Verelendung immer größer werde. 
Ebenso sei es auch in allen anderen Branchen 
und auch in der Landwirthschaft. Der Weg, den 
die Partei bisher gewandelt, habe dieselbe groß 
gemacht, er habe die Ueberzeugung, die Ge 
nossen werden von diesem Wege nicht abweichen, 
es sei dies zweifellos der Weg, auf dem das 
Proletariat zum Siege gelangen werde. (Leb 
hafter Beifall.) 
Ledebour war nicht so scharf, wie man 
nach seinen: früheren Auftreten hätte glauben 
können. Er erklärt, er wolle kein Ketzergericht 
veranstalten. Das Vorgehen Davids finde! er 
sympathischer als das Verhalten jener Leute, die 
in Volksversammlungen scharfe Reden gegen 
Bernstein gehalten, aber auf dem Parteitag sich 
seitwärts in die Büsche schlagen. In der Reso 
lution Bebel will Ledebour den Passus streichen, 
der von der Möglichkeit eines Zusammengehens 
mit den bürgerlichen Parteien handelt. Er tadelt 
die bayerischen Genossen, daß sie bei der Land 
tagswahl nicht wenigstens die Forderung der 
Prvportionalwahl zur Grundlage ihres Wahl 
bündnisses mit dem Centrum gemacht haben, 
Sehr stürmisch geht es bei der folgenden Rede 
zu. 
Redacteur Pens- Dessau beginnt nämlich 
seinen Vortrag mit den Worten: Bebel ist nicht 
der Idiot, als welcher er gestern von Kautsky 
hingestellt worden ist. Große Unruhe im Saale. 
Glocke des Präsidenten Singer: Ich mache 
den Redner darauf aufmerksam, daß das Niemand 
behauptet hat. P e u s fortfahrend: Kautsky hat 
gestern gesagt, Engels müßte ein Idiot sein, 
wenn er den Kladderadatsch für 1898 prophezeit 
hätte. Aus dem Parteitage 1891 sagte Bebel, er 
freue sich, daß sein Freund Engels den grund- 
legendm Umschwung der Verhältnisse um das 
Jahr 1898 vorhersage. Er sagte dann: Vollmar 
hat darüber gespöttest, ich habe aber Engels ge 
schrieben: „Älter, du und ich, wir beide sind die 
einzigen Jungen." Und er sagte weiter: Es 
giebt Konservative, welche sagen: „Gebt Acht, 
die Katastrophe kommt bald." (Unruhe.) Wenn 
Bebel den Standpunkt von 1891 heute ablehnt, 
so zeigt das, daß die Verhältnisse sich geändert 
haben. Vollmar ließ man 1891 nur so noch 
durchschlüpfen. Heute hat er gesiegt und seine 
Taktik beherrscht die Partei. 
Besonders interessant war die heutige Rede des 
Abg. A net, der in ironischer und humoristischer 
Welse die in der Debatte hervorgetretenen Gegen 
sätze behandelte. Gegenüber dem Abg. Stadthagen, 
der die stete Betonung des Endziels der Partei 
für unerläßlich erklärte, führte Auer aus: 
Wenn man dem Vorredner folgt, hängt der 
Wahlerfolg davon ab, ob man das Endziel scharf 
genug betont. Ja, wie erklärt er sich die Durch 
fälle. Den Gen. Bebel und Liebknecht wird Gen. 
Stadthagen zutrauen, daß sie vom Endziellauch 
etwas verstehen. Liebknecht war 1881 in Mainz 
gewählt — natürlich mit dem Endziel — und 
konnte wegen einer Doppelwahl nicht annehmen. 
Und mm wurde Bebel, der in Berlin durchgefallen 
war, natürlich auch mit dem Endziel — nicht 
gewählt. (Heiterkeit.) Ich glaube dem Genossen 
Heine nicht unrecht zu thun, wenn ich annehme, 
daß Gen. Stadthagen meint, daß es bei ihn: mit 
dem Endziel nicht alles in Ordnung ist. 
(Stürmische Heiterkeit.) Und Gen. Heine ist in 
denrselben Aufmarsch mit Stadthagen gewählt 
worden. Gen. Stadthagen stellt die Behauptung 
auf, daß es zwei Richtungen von Genossen giebt. 
So lange Sie mir den Schlafmützen-Agitator 
nicht auf den Tisch des Hauses legen, (Heiterkeit) 
der verzichtet, die Masten zu gewinnen und sich 
mit der Gründung eines Lesezirkels begnügt, 
muß ich annehmen, daß Sie etwas behauptet 
haben, was Sie nicht beweisen können. Ich bin 
ebensowenig Bernsteinianer wie ich Marxist bin, 
in dem Sinne wie unsere marxistischen Kirchen 
blätter den Marxismus ausgebildet haben. Wissen 
Sie, was ich Bernstein geschrieben habe? "Ich 
schrieb ihm: „Lieber Ede! Du bist ein Esel. 
So etwas sagt man nicht, so etwas thut inan 
nur!" (Stürmische Heiterkeit.) Also Bernsteinianer 
bin ich nicht, wie mir nachgesagt wirdpj und 
Marxist, wie man es sein soll, bin ich auch nicht 
s Grevisde. 
Roman von Hermann Heiberg. 
(Nachdruck verboten.) 
Comtesse Lucile Lavard war eine unge 
mein schlanke Dame mit einer außerordent 
lich vornehmen Haltung. Ihr Gesicht be 
saß eine vollendete Regelmäßigkeit; sie glich 
einer edlen Römerin, die den Schönheits 
preis davongetragen. Die Nase war leicht 
gebogen, die schwarzen Augen glühten in 
einem dunklen Feuer, die Lippen waren fein 
geschnitten. Gleich der Abendröthe Anhauch 
lagen sanfte Farben auf den weichen Wan 
gen, und ihre Zähne blitzten in dem Weiß 
der Fischgräte. 
Die Gräfin hatte Recht, sie war blendend 
schön und zugleich von einer Liebenswürdig 
keit, die etwas wahrhaft Bestrickendes be 
saß. — 
Als man das Schloß erreicht hatte, zog 
sich Axel absichtlich zurück und wanderte ins 
Dorf. 
Mitten in diesem lag, zurückgelehnt, der 
Besitz des Grafen Knut, ein zweistöckiges, 
schneeweiß angestrichenes Haus mitten unter 
Grün und Tannen. 
Er fand den Besitzer in seinem Garten 
bei den Blumen, und nachdem ein im Hause 
eingenommenes Glas Wein und eine Cigarre 
bereits die Gemüthlichkeit erhöht hatten, 
unternahmen sie zusammen einen Spazier 
gang durch den sehr ausgedehnten, mit statt 
lichen Gehöften und Baucrhäusern, aber auch 
mit vielen ärmlichen Kathen besetzten Ort. 
Bei dieser Gelegenheit ließ sich Axel möglichst 
viel von Lavards und auch von Lucile er 
zählen. 
Graf Knut berichtete, daß Lucile vor 
anderthalb Jahren mit einem französischen 
Gesandtschaftsattachö in Kopenhagen, dem 
jungen Marquis von Rebullion, verlobt ge 
wesen sei und diese Verbindung wieder ge 
löst habe. 
Deni wäre es zuzuschreiben, daß sie seit 
her keine Ehe eingegangen sei. 
Er bezeichnete sie als ein vollendetes 
Mädchen, sie besitze aber einen unbeugsamen 
Standesstolz. 
Während sie noch sprachen, kam Doktor 
Presto vorüber, machte eine Bewegung, als 
ob er stehen bleiben wolle, besann sich aber 
und grüßte den Grafen mit großer Artig 
keit, Axel aber mit steifer Gemeffenheit. Es 
geschah, obschon Presto Axels Besuch noch 
nicht erwidert hatte. 
»Ein recht unangenebmer Mensch!" warf 
Axel hin. 
Graf Knut bewegte stumm die Schultern. 
„Sie scheinen meine Auffassung nicht zu 
theilen?" 
„Man muß den Zusammenhang der Dinge 
kennen, um ein gerechtes Urtheil zu fällen - 
entgcgnete Graf Knut. „Prestos Eltern 
standen unter dem Druck eines maßlos hoch 
mütigen und gegen seine Untergebenen 
rücksichtslos harten Gutsherrn, des Grafen 
Vedelsborg auf Bornholm. Prestos Vater 
war dort Guts-Inspektor. So sog der 
Sohn den Haß gegen den tyrannischen 
Gutsherrn seit seiner Kindheit in sich ein. 
Prestö ist völlig mittellos; die unvermögen 
den Eltern sind lange gestorben; nur durch 
eisernen Fleiß, Stipendien und Stunden 
geben hat er sein Studium ermöglicht. Durch 
solche Thaten, durch solches Ringen um die 
Existenz bilden sich Charaktere, allerdings 
selten liebenswürdige, eher einseitige und 
selbstsüchtige. Als unser alter Doktor vor 
sechs Monaten starb, gab ich die Veran 
lassung, daß sich Prestö hier niederließ. Ich 
interessirte mich von jeher für die Eltern. 
Gewiß, seine Manieren lassen recht sehr zu 
wünschen übrig, ich gestehe das zu. Auch 
gährcn in ihm die Ideen der neuen Zeit. 
Ich bedauere diese Richtung. Aber — was 
will man machen? Wechsel regiert die Welt, 
und mit ihm treten neue Anschauungen und 
Erscheinungen zu Tage. Wir — die Guts 
herren — haben die gute Zeit gehabt, nun 
wollen auch die Bauern einmal leben!" 
„Ah, nun verstehe ich! Deshalb Jmgjors 
Eintreten für ihn! Sie begegnen sich in 
ihren Anschauungen. Jetzt ist mir alles 
klar. Nun weiß ich, wer meinem Werben 
um sie entgegensteht." 
„Sie interessiren sich für die Comteffe 
Jmgjor, Herr Graf?" 
„Ich gestehe es — außerordentlich! Ich 
habe auch des Grafen und der Gräfin 
Beifall für meine Pläne. Bisher glaubte 
ich nur gegen Vorurtheile zu kämpfen. Nun 
bin ich üherzeugt, daß ich in Prestö meinen 
eigentlichen Widersacher zu suchen habe. 
Gewiß, sie lieben sich!" 
„Vielleicht doch nicht —" betonte der 
Graf, auf das Gespräch ohne Umschweife 
eigehend. „Daß Jmgjor Jntcreffe für ihn 
besitzt, will mich wohl auch bedünken. Aber 
er für sie? Er war schon als Student 
verlobt und ist es, so viel ich weiß, noch —" 
„Ah, welch' eine gute Nachricht! Erzählen 
Sie, ich bitte!" fiel Axel lebhaft ein und 
zog den alten Herrn über das Dorfgebiet 
hinaus. — 
Am folgenden Tage, nach dem zweiten 
Frühstück, wußte cs Axel so einzurichten, daß 
er mit Lucile im Garten auf- und ab 
wandelte. Der Graf hatte wegen seiner 
Geschäfte auf eins der Vorwerke fahren 
müssen, und die Gräfin — eine selten vor 
kommende Erscheinung — mußte wegen 
einer Migräne das Zimmer hüten. 
Lucile war, in Vertretung ihrer Mama, 
beim Frühstück sehr liebenswürdig um Axel 
bemüht gewesen. Sie besaß ähnliche Eigen 
schaften wie ihre Mutter. Mit Verstand 
und Geist verband sie große Lebhaftigkeit. 
Wie sie sonst zu beurtheilen sei, mußte er 
erst ergründen. 
Es giebt Frauen, die bei aller sonstigen 
Beweglichkeit eine stolze Prüderei hervor 
kehren, sobald ein Mann eine über das 
Conventionelle hinausgehende Annäherung 
wagt. 
Zu einer engeren Berührung im ersteren 
Sinne gehört nach ihrer Auffassung die 
Prüfung eines halben Menschenalters, und 
Artigkeiten, die ein Interesse verrathen, 
weisen sie mit einer verletzenden Schroffheit 
zurück. 
Der Graf hatte Recht: zu diesen schien 
Lucile zu gehören. 
Lucile sprach mit Vorliebe über ihren 
Aufenthalt in den großen Städten und 
ihren Verkehr mit den Personen der bevor 
zugten Stände. Es geschah das aber in 
einer Weise, die keinerlei Absichtlichkeit durch 
schimmern ließ; sie behandelte die Dinge als 
etwas naturgemäß zu ihr gehöriges. Aber 
es ging aus allem hervor, daß sie Umgang 
und Beziehungen zu solchen Personen über 
alles stellte, daß das Leben in diesen Kreisen 
mit dem Interesse für Toilette, Korsos, 
Jagden, Pferde und geräuschvolle Gesellig 
keiten ihr Eldorado war. Und dieses Hervor 
kehren und dieses Werthlegen auf Dinge, 
die Axel als minderwerthige ansah, reizte 
ihn und verführte ihn zu starkem Wider 
spruch. 
„Was Sie besonders anzuziehen scheint, 
Comtesse, stößt mich geradezu ab —“ warf 
er, herabsetzend im Tone, hin. 
Und mit einem „So, so! Ja, der Ge 
schmack ist eben ein verschiedener —" ant 
wortete sie darauf. 
Statt daß Lucile, wie Axel s erwartet 
hatte, ein Erstaunen darüber an den Tag 
legte, daß er, der doch zu diesem Kreise 
gehörte, einen solchen abweichenden Ge 
schmack bekundete, schien sie das hinzunehmen, 
wie das Zwitschern eines Vögelchens, das 
über ihnen in den Zweigen huschte. 
Sie rechnete mit dem, was einmal vor 
handen war; sie entwickelte keinen Eifer 
darüber, daß er mit ihren Neigungen nicht 
übereinstimmte. 
Während sie sich eben wieder dem Schloß 
näherten, in dem sie ein Waffenzimmer be 
sichtigen wollten, von dem beim Frühstück 
die Rede gewesen war, sagte erst. 
„Sie ziehen also wohl jedenfalls die 
Stadt dem Lande vor. Sie finden wahr 
scheinlich gar keinen Geschmack an dem ein 
förmig-stillen Leben auf Rankholm, Com 
tesse?" 
Statt einzutreten — eben hatten sie eine 
Pforte im Souterrain erreicht, durch die man 
von hinten ins Schloß gelangen konnte — 
blieb fie stehen, richtete den Blick geradeaus 
und sagte, zunächst durch eine Kopfbewegung 
seinen Worten begegnend: 
„Nein, ich bin hier sehrS gern. Im 
Sommer ist mir die Stadt nichts. Abc 
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