Full text: Newspaper volume (1899, Bd. 2)

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Täglich erscheinenbes WLcltt. 
(Außer aņ Sonn- und Festtagen.) 
Hìeļîôsburger M Wochenblatt. 
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Arllestes nnd grleķenstrs Klatt im Kreise Nendsdnrg. 
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dieses Blattes vorbehalten. 
ZnsertilMSpreiS: pro Petitzelle 15 1. 
92 ster Jahrgang. 
Druck und Verlag von dem verantwortlichen Herausgeber H. Möller (H. Gütlein Nächst.), Rendsburg, Mühlenstraße 18. 
Dem Rendsburger Wochenblatt wird 
„Der Land mirth" 
(Zeitschrift für die politischen u. soeialen Jnteresseu 
der Landwirthschaft) gratis beigegeben. 
Wo. 240. 
Ireitclg, den 13. Hctober 
1899. 
Morgen-Berichte. 
London, IS. Oct. (Orig.-Dep. des 
Rendsb. Wochenbl.) Aus Prätoria wird 
gemeldet, dast der dortige britische 
Bgent Befehl erhalten hat, seine 
Papiere dem amerikanischen Vertreter 
zu übergeben. Letzterer sorgt für den 
Schutz der englischen Angehörigen 
während des Krieges. Der „Stan 
dard" meldet, dass bei Charlstown 
die Buren die Grenze des Orange- 
staates überschritten hätten. Die 
Grenze ist Meilen südlich von 
Newcaptow». In Kapstadt ver 
kündigte Milner den Kriegszustand 
für die ganze Kapkolonie. 
New-Iork, 11. Oct. In Venezuela hat 
die Waffenruhe aufgehört; die Entscheidungs 
schlacht wird ehestens erwartet. 
Paris, 10. Oct. Murawiew und Delcassö 
conferirten im Elysöe längere Zeitàt Loubet. 
Der Präsident wird mit Murawiew vor 
dessen Abreise mach wiederholt Besprechungen 
haben. 
Stettin, 10. Oct. Heute hat im städtischen 
Forst unweit ' Glambecksee ein Pistolenduell 
zwischen einem Leutnam des 38. Artillerie- 
Regiments und einem chilenischen Haupt 
mann, commandirt zum 2. Artillerie-Regiment 
Hierselbst, stattgefunden. Der Leutnant wurde 
durch einen Schuß in den Hals lebens 
gefährlich verwundet. 
Leipzig, 11. Oct. Die hier tagende 
Conşerenz deutscher Steinmetzgeschäfte 
beschloß, falls die Gehilfen bis Montag den 
neuen Lohntarif nicht anerkennen, eine 
Massenaussperrung sämmtlicher Stein 
metzen in Sachsen und Thüringen vorzu 
nehmen. Die Zahl der in Frage kommenden 
Steinmetzen wird über 20 000 betragen. 
Münster i. 23., 11. Oct. Die Piano - 
forte-Fabrik vonKnake stehtàFlammen. 
Die Werkstätten sind zerstört. Zahlreiche 
Arbeiter werden beschäftigungslos. Die Fabrik 
war erst kürzlich bedeutend erweitert worden. 
Der Anhaber befindet sich auf.-einer Reise 
in England. 
Nürnberg, eil. Oct. Der .evangelische 
Bund hielt gestern Vormittag eine ge 
schlossene Mitgliederversammlung ab, 
worin besonders über die evangelische Be 
wegung in Oesterreich berichtet wurde. 
Abends sand nach dem Gottesdienste in 
der Loremz.Kirche eine von etwa 3000 
Personen besuchte öffentliche Versammlung 
statt, worin Herr Pastor Buchwald aus 
Ļeipzig, Superintendent Truempelmann 
aus Magdeburg und Pastor Lutze aus 
Weißenfee Ansprachen hielten. 
Der Krieg. 
Jetzt zweifelt auch in England niemand 
mehr daran, daß der Krieg vor der Thür 
steht und der Ausbruch der Feindseligkeiten 
heute Nachmittag uni 5 Uhr zu erwarten 
ist. Das Kabinetsmitglied Lord James of 
Hereford hielt gestern in Merdeen eine 
Rede, in der er sagte, augenscheinlich habe 
die Diplomatie ihre Hilfsmittel erschöpft, 
und die Hoffnungen auf Frieden seien durch 
die Ueberreichung des Ultimatums seitens 
Transvaals thatsächlich zerstört. Nach! der 
Rede des Lords beschloß die Versammlung, 
der Regierung ihr Vertrauen auszudrücken. 
Lord James bemerkte darauf, das Kabinet 
werde am Freitag über die Erklärung 
Transvaals berathen, die den Krieg be 
schleunige und denselben unvermeidlich 
mache. Nach anderweiten Nachrichten soll 
àr der hier für Freitag avisirte Kabinets- 
rath schon gestern stattgefunden und den — 
allerdings selbstverständlichen — Beschluß 
gefaßt haben, die Forderungen Transvaals 
zurückzuweisen. Wie aus London tele, 
graphirt wird, erklären die konservativen 
Blätter, England sei genöthigt, den Krieg 
zu führen. Die Blätter verlangen von der 
Regierung, daß der Krieg mit der größten 
Schnelligkeit beendet werde. Die liberalen 
Blätter drückn die Meinung aus, daß der 
Krieg allein der von der englischen Regie 
rung befolgten Taktik zuzuschreiben sei. Die 
Times erfährt, die Antwort Großbritan 
niens ans das Ultimatum der südafÄkani- 
schen Republik werde ganz kurz das Be 
dauern darüber ausdrückn, daß Präsident 
Krüger einen so ernsten Schritt gethan, und 
ferner besagen, daß die britische Regierung 
zur Zeit dem Präsidenten Krüger Nichts' 
weiter mitzckheiten habe. 
Köln, 11. Okr. Die „Köln. Ztg." 
schreibt zn dem Ultimatum Transvaals: 
Nachdem Transvaal zuerst das verhängniß- 
volle Wort „Krieg" ausgesprochen, könne 
und dürfe England nicht nachgeben. Jedoch 
wir wünschen, so sagt das Blatt weiter, den 
Buren nickst das Schicksal der Spanier, den 
Verlust ihres rechtmäßigen Besitzes. Wie 
vor Jahresfrist in Amerika, so erheben sich, 
auch m England Stimmen, die zwar den 
Krieg als eine unabwendbare NotbweiMg- 
keit anerkennen, aber eine den: Rächte der 
Buren entsprechende Lösung wünschen, wenn 
es hoffentlich bald zum Frieden komme. 
Wenn cwglischerseits die Mothwendigķâ der 
Vorherrschaft Englands in Südafrika als 
das Leitmotiv des Kriegs hingestellt werde,, 
so werde jeder kühle Beobachter diese Noth- 
Wendigkeit zugeben müssen. Allein die.öf 
fentliche Meinung würde es als eine Harb 
und ungerechte Gewaltthat betrachten, wenn 
größere Einbuße zu machen hätten, als den 
Eintritt in einen südafrikanischen Staaten 
bund unter englischer Leitung, aber unter 
sorgfälUger Wahrung des Selbstbestim 
mungsrechtes für die einzelnen Glieder die 
ses Bundes. 
Nach einer Londoner Depesche der „Berl. 
Nennest. Nachr." wird m dortigen amtlichen 
Kreisen auf das baldige Eintreffen einer 
Kundgebung seitens des Orange-Freistaates 
gerechnet, die sich im Einllang mit dem 
Transvaalultimatum befindet. Militärische 
englische Kreise hegen angeblich in Bezug 
auf Natal keine Besorgnis;, da General 
White 15 000 Mann zur Verfügung habe. 
Dagegen glaubt man, daß der englisches 
Heerbefehlshaber an der englischen West-! 
grenze von Transvaal sich schwer wird hal 
ten und Mäfrking und Vribnrg vor der Ok 
kupation der Buren nicht wird schützen kön 
nen. Große Befürchtungen bestehen hin 
sichtlich eines eventuellen Burenaufstandes 
in der Kapkolonie. 
London, 11. Okt. Das Ultimatum 
seitens Transvaals wird in hiesigen poli 
tischen und militärischen Kreisen als that 
sächliche Kriegserklärung betrachtet. Die 
Forderungen Transvaals haben nià die 
geringste Aussicht auf Erfolg. Tie kurze 
Zeit, welche Krüger zur Beantwortung ge 
geben, decket darauf hin, daß er überzeugt 
ist, keine'befriedigende Ackwort zu erhalten. 
Keine Regierung könne eine so wichtige? 
Frage in so kurzer Zeit erledigen. Allem 
Anscheine nach dürften die FerndMgkeiter 
checke bereits beginnen. 
London, 11. Okt. Das U tu mattn, 
'hat trotz - aller Vorbereitung die chiesige'L- 
plomatie doch überrascht. Ein starker No 
tenwechsel findet angeblich zwischen dein. Ko 
lonial- und dem Kriegsministerinm statt. 
Salisbury ist schnellstens von seinem Land 
aufenthalte nach London zurückgekehrt.und 
sandte kurz nach seiner Ankunft àen.Hand 
koffer mit wichtigen Schriftstücken nach dem 
Königlichen Palast. - . 
London, 11. Okt. In dem Minister- 
rath, welcher gestern Albend «inberufen wor 
den ist, wurde, wie verlautn, beschlossen, die 
Forderungen Transvaals vollMndig zu 
rückzuweisen. In Folge dessen wird der 
Krieg aus regelrechte Weise Herà Nachmit 
tag 5 Uhr beginnen. — Die konservativen 
Blatter erklären, England sei genöthigt, den 
Krieg zu führen. Die Blätter hängen, von 
der Regierung, daß der Krieg Ķ der.größ 
ten (SchnelliMit beendet werde. Sfe libera 
len Blätter drücken die Meinung aus, daß 
wenn jetzt der Krieg auslweche. dies allein 
der.von der onglifdjeit Regierung befolgten 
Taktik zuzuschreiben sei. — Moimingleadet 
: Die Herren Cecil Rhodes -und Eham 
Grrmà. 
Roman von Hermann Heiberg. 
(Nachdruck verboten.) 
Im Nu wußte er au der anderen Seite 
des Tisches das Gespräch an sich Jlt ziehen 
und entwickelte einen so anziehenden, von 
den Beifallsbezeugungen ßcner begleiteten 
Redefluß, daß auch Presto und Jmgjor zum 
Zuhören gezwungen wurden. 
Er erzählte mit packende« Humor von 
einer Jagd in der Lausitz und charakterisirte 
die Personen, die dabei zugeKen gewesen, 
mit solcher Meisterschaft, daß ihm Graf 
Lavard und Graf Knut unter lebhaftem 
Gelächter und mit sehr beifällige« Mienen 
zutranken. 
Aber Axel benutzte auch diese Gelegenheit, 
um dem Doktor Presto einen Denkzettel zu 
geben. 
Indem er Presto lediglich einen anderen 
Namen beilegte, entwarf er ein so sprechendes 
Bild von dessen äußeren Erscheinung, seinem 
Auftreten und Wesen und führte solche Kolben- 
schläge gegen dessen Ueberhebung und Er- 
îiehungsmangel, daß die Hausdame, Fräulein 
Dierville, die offenbar Axels Abneigung gegen 
Presto theilte, zunächst mit einem Ausdruck 
höchsten Erschreckens, dann aber mit einem 
wichen höchster Befriedigung die Lippen 
"°rzog. 
Nicht weniger schien die Gräfin durch 
"iese Abfertigung angemuthet. Nachdem sie 
Anfangs mit einer Miene des Zweifels, ob 
ì" Beschreibung nur zufällig auf Prestö 
"asse oder ob Axel jenen bewußt charakterisire, 
erschien in der Folge etwas in ihren Zügen, 
das Axel nicht nur über ihre Meinungen 
'chließlich die beiden Buretzfreistaaten Lin-elberlmn haben..nun ihren Zweck Weicht, 
stets gu gerechten, wenn a«ck nicht immer 
für den sie gearbeitet haben. Transvaal ist 
durch die Nadelstiche und die heuchlerischen 
Erklärtmgen, welche durch Thatsachen Lügen 
gestraft worden sind, wüthend geworden. 
Wir bedauern, daß sich Transvaal entschlos 
sen hat, ein Ultimatum abzusenden. —Die 
Thatsache wundert uns nicht besonders — 
das Gegentheil hätte uns mehr gewundert. 
Die Buren saßen wie eine Maus in der 
Falle und es ist bewundernswerth, daß sie 
nicht schon früher ihre Zähne gezeigt haben. 
Ihre bisherige Zurückhaltung liefert den 
Beweis, daß sie bis zum letzten Augenblicke 
den Ausbruch der Feindseligkeiten zu ver 
hüten bedacht waren. -— Daily Chronikle 
drück sich in demselben Sinne aus und sagt, 
die Buren hätten deswegen so gehandelt, 
da sie überzeugt waren, daß sie nicht gleich 
zeitig den Frieden und ihre Unabhängig 
keit erhalten koirnten. 
Pretoria, 11. Okt. Nahezu alle hier 
ansässigen Angehörigen fremder Nationa 
litäten sind zur Front abgerückt, um für die 
Unabhängigkeit Transvaals zu kämpfen. 
Gegen hundert britische Unterthanen schwo 
ren der Republik Treue. In Transvaal 
nnd in dem Oranje-Freistaat herrscht die 
größte Begeisterung in Folge der festen 
Haltung der Regierung. Aus allen Lagern 
-Treffen Telegramme ein, die siegesfreudige 
Zuversicht ausdrücken. 
In Johannesburg begehen die 
Kaffern zahlreiche Eiudruchsdiebstähle, sie 
plündern Läden und haben in einzelnen 
Fällen auch! die Ladonbesitzer ermordet. — 
Nicht weniger als 45 000 Flüchtlinge haben 
das Randgebiet, seit Beginn der Krisis der- 
lassen. 
T«Mtt«àŞn Ptkļàz. 
Hannover, 10. Oct. Ten ersten Gegenstand 
der heutigen Tagesordnung bildete: Die An 
griffe aus Ae G-rundanschauungen und die 
taktische Stellungnahme der Partei. 
Abg. Bebe l äuHertesich ungefähr folgender 
maßen!: Eine Debatte, wie die. in die wir so 
eben eirctrctuE, ist für die Partei nichts Neues. 
Diskussionen -über das Programm der Partei 
hat es stets gegeben und wird es Lets in der 
Partei geben. Ich habe einmal gesagt: „Die 
Partei befindet sich in einer beständigen geistigen 
Msuserung." Dieser Ausspruch hat nicht nur 
den Gegnern, sondern auch den Parteigenossen 
zu vielfachen Angriffen Anlaß gegeben. Und doch 
ist es so. Die Partei hat >ja bekanntlich in den 
letzten drei Jahrzehnten mehrfach ihr Programm 
geändert. sind Grumdanschcmungen, die für 
absolut nsthMndig gehalten wurden, preis 
gegeben worden. Es ist selbstverständlich, daß 
eine Partei Wie die unsere, die von der heutigen 
Staats- und Gesellschaftsordnung die freieste 
MeinungsäuHseung verlangt, -auch ihren eigenen 
Genossen die freieste Meinungsäußerung ge 
statten muß. In der Sozialdemokratie hat stets 
die freieste Kritik geherrscht, sie ist die Luft, der 
Lebensodem der Partei. Ich habe es daher sehr 
bedauert, daß aus der badischen Landeskonferenz 
in Karlsruhe ein Beschluß gefaßt wurde, „der 
Parteitag solle seine Würde nicht vergessen". 
(Heiterkeit.) Die Genossen, die diesen Beschluß 
gefaßt haben, müssen entweder noch sehr junge 
Genossen sein, oder sie haben sich um das 
Wesen der Partei sehr wenig gekümmert. Als 
ob der Parteitag nicht stets seine Würde gewahrt 
hätte. Dem Karlsruher Delegirten aus dem 
vorjährigen Parteitage wurde allerdings gesagt, 
daß er ein „Rauhbein" sei. Vielleicht wollen 
die Karlsruher Genossen mit ihrem Beschluß 
sagen, daß ihr Delegirter kein „Rauhbein" ist. 
Ich habe gesagt, solange die Partei besteht haben 
wir Debatten über das Parteiprogramm gehabt, 
allein ick bemerke, keine ist von solcher Be 
deutung gewesen wie die heutige, und zwar 
ganz besonders, weil es sich um die Schrift eines 
Mannes handelt, der sich insbesondere unter der 
Zeit des Sozialisten-Gesetzes große Verdienste 
um die Partei erworben hat und der nicht unter 
uns sein kann, da er Gefahr läuft, sobald er den 
deutschen Boden betritt, verhaftet und schwer 
prozessirt zu werden. 
Es ist bekannt, daß die von B e r n st e i n auf 
gestellten Theorien schon auf dem vorjährigen 
Parteitage in Stuttgart zu sehr lebhaften De 
batten Anlaß gegeben gaben. Nach Beendigung 
des Parteitages beschwerte sich Bernstein, daß er 
mißverstanden worden sei. Ich habe deshalb 
Bernstein geschrieben: Wenn Du mißverstanden 
worden bist, dann schreibe eine Broschüre, aber 
so klar und verständlich als möglich. Obwohl 
Bernstein das gerade Gegentheil von dieser 
meiner Bitte gethan hat, so ist es trotzdem 
nothwendig, daß der Parteitag dazu Stellung 
nimmt. Bernstein sagt u. a.: Wir sind soweit 
gekommen, daß wir mit Marx und Engels heute 
alles beweisen können. Das heißt also mit. 
anderen Worten: Alles, was Marx und Engels-, 
gesagt haben, taugt nichts. Wie ein so klarer 
Kops wie Bernstein zu einer solchen Aeußerung 
kommen kann, ist mir absolut unerklärlich. 
Bernstein sagt weiter in seiner Broschüre: Marx 
und Engels haben sich zu dem Blanquismus 
bekannt, d. h. also mit anderen Worten: Marx 
und Engels wollten ebenso wie Blanqui die 
heutige Gesellschaft plötzlich durch eine Revolution 
überrumpeln und so für die Arbeiter die politische 
und ökonomische Macht erobern. Es kann keinem 
Zweifel unterliegen: Was Darwin für die Natur 
wissenschaft, das ist Marx für die nationalökono 
mische Wissenschaft. Und einem solchen Manne 
traut man zu: er wollte eine Gesellschassphase 
überspringen und durch eine künstliche Revolution 
die heutige Staats- und Gesellschaftsordnung 
stürzen. Bernstein sagt: die Prophezeiung des 
kommunistischen Manifestes, daß die Zahl der 
Besitzenden imnier mehr abnehmen wird, ist nicht 
eingetroffen. Bernstein hat nur das Wesen der 
Statistik verkannt. Es ist richtig, die Zahl der 
Kleinbetriebe ist um 61 pCt. gewachsen, die 
größte Zahl der Kleinarbeiter sind Proletarier 
im vollsten Sinne des Wortes und sind noch 
viel schlechter gestellt als die Lohnarbeiter. 
Bernstein behauptet, auch die Zahl der mittleren 
Betriebe, d. h. derjenigen, die bis fünf Leute 
beschäftigen, hat zugenommen. Auch dies ist 
richtig. Bernstein vergißt nur, daß diese Leute 
ihre Selbständigkeit nur aufrechterhalten können 
durch die größte Ausnutzung des Lehrlingswesens, 
er vergißt ferner, daß in der Statistik unter 
den selbständigen Betrieben, die bis fünf Leute 
beschäftigen, eine große Zahl Hausindustriellen 
sind, die gar nicht selbständig genannt werden 
können. Es ist aber auch bekannt, daß eine 
bezüglich Prestos belehrte, soņdern die auch 
sagten, daß sie ihm deshalb durchaus nicht 
gram sei. 
Anders aber Jmgjor, in per es sichtlich 
vor Aufregung kochte. 
Ganz abweichend von ihrer bisherige« 
stummen Gleichgültigkeit gegen die Vorgänge 
ihrer Umgebung, brach sie das Schweigen 
und mischte sich in das Gespräch, .indem sie 
nicht nur spöttisch Zweifel an der Wahr 
scheinlichkeit der von Axel erzählte« Vor 
gänge äußerte, sondern auch zum .effenen 
Angriff vorging. 
„Die Personen, die Sie uns schilderten, 
Herr Graf, sind, wie ich es gar nicht be 
zweifle, wirklich lebende Menschen, und Sie 
erreichen Ihren Zweck, zu beweisen, daß 
Sir scharf zu beobachten verstehen. Aber 
Sie beweisen auch, daß Sie besser in fremde 
Spiegel zu schauen vermögen, als in den 
eigenen. Letzterer schafft nacksichtige Urtheile. 
Diejenigen, die sich anmaßen, über andere 
den Stab zu brechen, vergeffen allzu oft bei 
ihren Borträgen, daß sick den Zuhörern 
eine nicht zu^ ihrem Vortheil ausfallende 
Betrachtung über ihre EinseiLigkeit auf 
drängt —" 
„Sie haben vollkommen Recht, gnädigste 
Comtesse —" entgegnete Axel auf die her 
ausfordernde Rede mit vollendeter Höflich 
keit. „Nur glaube ich, daß ich diese Un 
vollkommenheit, oder, wie Sie liebenswürdig 
äußern, diese Einseitigkeit, mit fast allen 
nieincn Mitbrüdern und Mitschwestern theile. 
— Nur eine Ausnahme giebt's — ich spreche 
nicht, um Komplimente zu sagen, gnädigste 
Comteffe — und diese fand ich hier auf 
Schloß Rankholm. Sie stub's! Sie geben 
jedem, waS ihm zukommt und gelangen sicher 
völlig milde klingenden RichterspvücheN!" 
Der Eindruck cdieser Rede war ein sehr 
verschiedener. 
Jmgzors Wangen bedeckten sich mit der 
BAffe des Zorns. Die schwarze« Augen 
in ihrem bleiche« Angesicht mit dem braun- 
röthlichem Haar funkelten unheimlich. Der 
Doktor .aber, zugleich erregt an einem Brot 
kügelchen cknetend, riß den Mund jähzornig 
zur Seite. Die anderen standen vorläufig 
noch unter dem Eindruck, daß es sich viel- 
mehr um eine scharf zugespitzte Neckeroi 
handelte, als daß jene -sich bekämpfen wollten. 
Der Graf äußerte -sich auch in diesem 
Sinne, indem er hinwarf: 
„So, Jmgjor! Nun weißt Du, aus 
welchen Himmelshöhen Du zu uns hinabge 
stiegen bist. Werde noch.etwas milder und 
Du kannst einst als Heilige verehrt werden!" 
Und die Gräfin warf Axel einen ihrer 
forschenden Blicke zu, einen jener, durch den 
fie zugleich verrieth, daß ihr Interesse für 
Axel sich immer mehr steigerte. 
Wie sehr übrigens diese Zurückweisung 
Jmgjor getroffen hatte, bewies ihr ferneres 
Verhalten bei Tisch. Sie hörte zwar auch 
erner dem zu, was ihr der Doktor vortrug, 
aber ihre Gedanken waren offenbar nur halb 
oder gar nicht bei der Sache. Sie sann 
ichtlich über einen Racheakt nach und mußte 
doch ihren heißen Drang bezähmen, weil sie 
Axel auf diese höfliche Abfertigung nicht 
beizukommen vermochte. 
Aber nicht ein einziges Mal richtete fie 
das Antlitz ihm zu, und ebenso verharrte 
der Doktor in einer feindselig stummen Ab 
wehr. Axel wußte sich auch in der Folge 
lediglich den übrigen zuzuwenden, blieb bis 
zum Tafclschluß in einer lebhaften Eon 
versation mit jenen und -entging dadurch 
der Pflicht, Höfiichkeitsakte gegen Jmgjor zu 
üben. und irgend welche Notiz von seinem 
Gegenüber zu nehmen. 
Nach Tisch empfahl sich der Doktor, in 
dem er Krankenbesuche vorschützte, und auch 
Jmgjor verschwand. Erst beim Thee, den 
sie zu bereiten hatte, erschien fie wieder. 
Sie hatte aus irgend einer Laune nun 
mehr Wieder ein schwarzes Kleid angelegt 
und sah in diesem mit ihrem bleichen, kalt- 
stummen Gesicht wie eine trotzige Büßerin 
aus. 
„Wo warst Du, Jmgjor?" forschte die 
Gräfin, bie mit den drei Herren nach Tisch 
einen Spaziergang im Park unternommen, 
päter eine Partie Boston gespielt und diese 
jetzt eben beendigt hatte. 
„Ich bin nach Mönkegjor durch den Wald 
^.ritten —" gab Jmgjor kurz zurück. 
Als sich Axel noch vor dem Schlafen 
gehen und allgemeinen Aufbruch Jmgjor 
näherte — sie saß mit einem Buch für sich 
in einer durch eine Hängelampe erleuchteten 
Ecke des Cabinetts — und fie fragte, welche 
Lektüre fie so sehr beschäftigte, entgegnete 
re tonlos und ohne seinen auf das Buch 
gerichteten Bewegungen zu entsprechen und 
cs ihm zur Prüfung anzubieten: 
„Ich lese Geist in der Natur von Oer- 
ked —" 
„Und eine so schwere Lektüre fesselt Sie?" 
„Mich fesselt olles, was mich über die 
einseitige Enge des Daseins zu erheben ver 
mag!" 
„Sie betonen Ihre Worte so stark! Haben 
Sie bereits so unerfreuliche Erfahrungen 
gemacht, Comtesse?" 
Aber sie gab auf diese Frage keine Ant 
wort. Sie zuckte nur die Achseln. — Aber 
deshalb trieb's ihn, die Schranke gewaltsam 
zu durchbrechen, die sie trennte. 
Sanft sprechend, sagte er: 
„Ich würde gern Ihre Freundschaft er 
ringen, Comtesse! Aber Sie weichen mir 
schroff aus. Sie gebrauchen sogar Waffen gegen 
mich. Ich sinne über die Gründe nach, 
die Sie so handeln lassen. Giebt's keinen 
Weg, der uns zusammenführen könnte?" 
Indem sie ihn kalt und unbeugsam an 
blickte. sagte fie kurz und hart im Ton: 
„Nein, keinen, Graf Dehn!" 
Nach diesen Worten benutzte fie einen 
Anruf von Fräulein Merville, machte eine 
kühl entschuldigende Geste, stand auf und 
entfernte sich rasch. 
Er aber schaute ihr nach, umfing mit 
einen Blicken die Psychegestalt, seufzte auf 
und trat zu den übrigen zurück. 
Die Herren waren eben im Nebenzimmer 
beschäftigt, die Gräfin aber, die zu einer 
Handarbeit gegriffen, erhob bei seiner An 
näherung den Kopf und sagte mit liebens 
würdiger Milde: 
„Ja, leicht ist, lieber Graf, diese Festung 
nicht zu nehmen. Wären wird beide in 
gleichem Alter, wäre cs Ihnen bequemer 
geworden!" 
„Ich besitze also Ihr Wohlwollen, ver 
ehrteste Frau Gräfin? Darf ich Ihre Worte 
o deuten?" stieß Axel heraus. 
„Ja,Ş Graf Dehn!" Sie sprachs und 
treckte ihm gütig die Hand entgegen. 
Und Axel ergriff sie und drückte einen 
esten Kuß auf die weiße, weiche Fläche, die 
unter der Berührung seiner Lippen leicht zu 
beben schien. (Forts, folgt.)
	        
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