Full text: Newspaper volume (1899, Bd. 2)

HägLich erscheinendes Wt'att. 
Aendsburger 
(Außer an Sonn- und Festtagen.) 
Bezugspreis: 
Vierteljährlich 2 Ji~, frei ins Haus geliefert 
2 Jf 15 Ķ 
für Auswärtige, durch die Post bezogen 
2 Ji 25 »> 
tocï. Postprovision re., jedoch ohne Bestellgeld. 
ZnsertionSpreiS: pro Petitzeile IL Ķ 
Arltestrs nnd gelegenstes Klatt im Kreise Kendsbnrg. 
Anzeigen für die Tagesnummer werden bis 12 Uhr Mittags erbeten. 
—^ 92 stev Jahrgang. 5^— 
. Bei Betriebsstöttmgcn 
irgend welcher Art ist die regelmäßige Lieferung 
dieses Blattes vorbehalten. 
Dem Rendsburger Wochenblatt wird 
„Der Landwirth" 
(Zeitichrist für die politischen u. socialen Interessen 
der Landwirthschaft) gratis beigegeben. 
M0. 196. 
Morgen-Berichte. 
Wildparkstation, 21. August. Die 
Kaiserin ist mit den kaiserlichen 
Kindern um 6 Uhr, mit Sonderzug von 
Wilhelmshöhe kommend, hier eingetroffen 
Berlin, 21. Aug. Heute Bormittag ist 
der. Kaiser zur Truppenbesichtigung in 
Mainz eingetroffen. — Nach den letzten 
Dispositionen trifft der Kaiser morgen 
Nachmittag b'/ 2 Uhr auf der Wildpark 
station ein. 
Frankfurt a. M., 21. August. Die 
„Franks. Ztg." meldet aus Mainz: Be 
der heutigen Tafel im großherzoglichen 
Schlosse benutzte der Bürgermeister Gassner 
die Gelegenheit, den Kaiser für das nächste 
Zahr zu der 500jährigen Gutenbergfeier 
einzuladen. Der Kaiser versprach, wenn 
es irgend möglich sei, zu erscheinen. Die 
Entfestungsangelegenheit und die Erwer 
bung militär-fiskalischer Gebäude durch 
die Stadt wurden ebenfalls erörtert. Man 
hegt die Hoffnung, daß vielleicht in Bälde 
eine befriedigende Lösung der Frage ein 
treten wird. — Nach der Tafel begaben 
sich der Kaiser und der Großherzog nach 
Wolfsgarten. Die Kaiserin Friedrich war 
bereits kurz nach 3 Uhr nach Eronberg 
zurückgekehrt. 
Berlin, 21. Aug. Der Chef des ©toil' 
kabinets v. Lucanus fuhr, wie ein Bericht 
erstatter meldet, heute Mittag 12 Uhr bei 
dem Reichskanzler vor und hatte mit dem 
selben eine halbstündige Konferenz. Als 
dann begab sich Herr v. Lucanus zum 
Minister v. Miguel, bei welchem er etwa 
eine Stunde verweilte. Für heute Nach 
mittag 4 Uhr sind sämmtliche Minister 
vom Fürsten Hohenlohe zu einer vertrau 
lichen Sitzung in seiner Amtswohnung ein 
geladen. 
Berlin, 21. Aug. Wie der „Reichsbote" 
hört, ist Herr v. Lucanus im Austrage des 
Kaisers heute bei dem Finanzminister v. 
Miguel gewesen, um ihn über seine Stet- 
lung zur Frage der Auflösung zu hören. 
Herr v. Miquel -steht der Sache noch 
zweifelhaft gegenüber, während der Mi 
nisterpräsident Fürst Hohenlohe entschieden 
für die Auflösung ist. Am Mittwoch 
findet ein Kronrath statt. Wenn die Auf 
lösung beschlossen wird, so wird der Mi 
nister des Innern zurücktreten. 
Berlin, 21. August. Aus Regierungs 
kreisen meldet ein Berichierstatter: Der 
Landtag soll jedenfalls spätestens am' 
Sonnabend, den 26. August, geschlossen 
werden. Es wird nur noch Werth ge- 
Mittwoch, öen 23. August 
1899. 
legt auf die Erledigung der Justizgesetze, 
welche bis dahin sehr wohl durchzuführen 
ist, daß das Plenum des Herrenhauses 
die von seiner Kommission empfohlenen 
Aenderungen genehmigt und das Ab 
geordnetenhaus diesem Beschluß am Freitag 
beitritt. Im Abgeordnetenhause ist aller 
dings noch für heute Abend von der 
Kommission für die Kommunalwahlreform 
eine Sitzung anberaumt, in welcher der 
Versuch gemacht werden soll, einem von 
konservativer Seite vorgeschlagenen Kom 
promiß zum Siege zu verhelfen; doch 
wird die Aussicht aus Erfolg für sehr 
gering gehalten. 
Köln, 21. Aug. Abends 6 V 2 Uhr ist 
der Weihbischof Schmitz gestorben, der 
nach bekanntlich glücklich überstaudener 
Beinoperation gestern die erste Messe 
celebrirte. Nachts bekam der Bischof 
Schüttelfrost und heute nahm der Schwäche 
zustand zu. 
Königszelt, 21. Aug. Das neu erbaute 
Bahnhofsgebäude in Sakrau ist eingestürzt. 
Acht Arbeiter wurden schwer verletzt. 
Oporto, 19. August. Meldung des 
Reuter'schen Bureaus. Die Behörden 
veröffentlichen nunmehr amtliche Angaben 
über die Pest. Danach brach die Pest 
am 4. d. Mts. aus. Seitdem sind 3Z 
Erkrankungen und 13 Todesfälle vor 
gekommen. 
Madrid, 19. August. Wie nunmehr 
bekannt wird, ist die Pest i ņ O p o r t o 
durch ein Schiff aus Indien, das Reis 
brachte, eingeschleppt worden. Die nach 
Oporto entsandten Aerzte telegraphirten 
hierher, daß die Pest im Rückgang he 
griffen sei. Die Gesammtsumme der an 
der Pest Erkrankten betrögt 46. 
Prag, 21. Aug. In Graslitz fanden 
gestern Abend und während der Wacht 
blutige Demonstartionen seitens der Deutsch- 
Nationalen statt, wobei die Gendarmerie, 
da sie thätlich angegriffen wurde, von 
ihren Schußwaffen Gebrauch machen 
mußte. Auf beiden Seiten wurden zahl 
reiche Personen tödtlich verwundet; die 
Erregund dauert fort. In allen ÄMts» 
gebäuven wurden die Fenster eingeschlagen. 
Prag, 21. Aug. An den gegen den 
14 und gegen die Zuckersteuer verans 
talteten Demonstrationen nehmen auch die 
Sozialisten theil. Bis jetzt sind vier Tote 
und zehn Verwudete rekognoszirt. Heute 
Morgen traf ein Bataillon Jnsanterie ein 
um die Ruhe wiederherzustellen. 
Ncw-Aork, 21. Aug. Einer Depesche 
zufolge brach das gelbe Fieber in 
T uxp am (Mexiko) aus. Ueber; 50 
Todesfälle fanden täglich statt; neue Er 
krankungen werden fortwährend gemeldet. 
Der Dreyfus-ProzeH. 
Rennes, 21. Aug. Die Verhand 
lung des Kriegsgerichts begann heute, ivie 
stets um Vz7 Uhr. Erster Zeuge war Gene 
ral Fabre. Derselbe schildert Dreyfus als 
prätentiös und sei seinen Kameraden eben 
sowenig sympathisch gewesen wie seinen 
Vorgesetzten. Dreyfus habe anscheinend die 
ihm übertragenen Spezialaufgaben, zu de 
nen insbesondere die Einrichtung des 
Hauptconcentrations - Bahnhofes gehörte, 
nicht sonderlich ernst genommen. Er habe 
sich mehr für Arbeiten Anderer, als für 
seine eigenen interessirt. Dreyfus habe ost 
seinen Dienst vernachlässigt, um sich Nach 
richten 511 verschaffen. Die Art seiner Ar 
beiten habe ihn sehr wohl in den Stand 
gesetzt, dem Auslande Nachrichten zu lie 
fern. Als das Bordereau vorgelegt wurde, 
sei dem Zeugen die Schrift im ersten 
Augenblicke ganz unbekannt erschienen; aber 
aus dem Inhalte sei ans Dreyfus geschlos 
sen worden. Er, Zeuge, sei heute wie im 
Jahre 1894 fest überzeugt, daß Dreyfus 
der Urheber .des Bordereaus sei. (Bewe 
gung.) Gefragt, ob er etwas zu sagen habe, 
erwidert Dreyfus, es sei seine Pflicht ge 
wesen, sich über gewisse Fragen auf dem 
Laufenden zu . halten. Bon der Concentra- 
lion habe er diejenige des Westrayons ge 
kannt, mit der er zu thun gehabt habe. 
Zeuge d'Mwville giebt eine Schilderung des 
Einganges des Bordereaus und der Art 
und Weise, -w-ie der erste Verdacht sich auf 
Dreyfus lenkte. Seine Aussagen decken sich 
so ziemlich mit denen des Zeugen Fabre. 
Weiter citirt Zeuge eine Geschichte, die Co 
lonel Sandherr ihm erzählt hat, und in 
der ein Offizier eine zweifelhafte Rolle 
spielt. Dreyfus bemerkt, die Geschichte 
könne sich nicht auf ihn beziehen, da Co 
lonel .Sandherr ihn gar nicht gekannt habe. 
Es folgt die Vernehmung des Sicherheits 
chefs Cochefert. Derselbe bemerkt, Ende 
.1894 sei er..vom General Mercier gerufen 
worden, der ihm -mitgetheilt, deß einer aus 
wärtigen Macht Schriftstücke .ausgeliefert 
worden seien. Der Verdacht lenke sich auf 
Dreyfus. Cochefert habe dann bei der Ver 
haftung des Angeklagten .mitgewirkt. 
Zeuge schildert.weiter.die Vorgänge im Ar 
beitszimmer Boisdeffres während der Dik- 
tirscene, bei welcher außer du Path de Clam 
und Dreyfus, Geibelin und er selbst an 
wesend gewesen seien. Dreyfus habe eine 
deutliche Aufregung gezeigt; aber er, Zeuge, 
erinnere sich, daß kurz vorher du Paty de 
Clam mit der Hand den Kragen des Drey 
fus gepackt und gesagt habe: „Im Namen 
des Kriegsministeriums verhafte ich Sie!" 
Die Aufregung Direyfus' sei also erklärlich- 
gewesen. Er, Zeuge, habe den Eindruck ge 
habt, daß Dreyfus schuldig sei. Heute aber 
erkenne, er, daß, wenn er damals Alles ge 
wußt hätte, was er heute wisse, wenn er 
z. B. die Schrift Esterhazy gekannt hätte, 
sein Eindruck nicht derselbe gewesen sein 
würde (Bewegung). Es hätte dann viel 
leicht eine Affäre Esterhazy und nicht eine 
Affäre Dreyfus gegeben. Als ehrlicher 
Mann halte er es für seine Pflicht, dies zu 
sagen. Dreyfus bemerkt, er erinnere sich 
dankbar des menschenfreundlichen Auftre 
tens Cocheferts ihm gegenüber im Jahre 
1894. Der nächste Zeuge ist der Archivist 
Gribelin. Es ist dies derselbe, der, verkleidet 
und mit einem falschen Barte angethan, du 
Patys nächtlichen Zusammenkünften mit 
Esterhazy beiwohnte. Zeuge schildert den 
Charakter Dreyfus'' in sehr abfälliger Weise. 
Dreyfus habe Beziehungen zu einer Dame 
in der Rue Bizet gehabt. Dreyfus habe 
viel mehr Geld ausgegeben, als es mit 
seinen Einkünften sich vereinbarte. Drey 
fus habe auch gespielt. Ten Esterhazy habe 
er niemals im Nachrichtenbureau gesehen, 
und er habe ihm auch- niemals Geld auszu 
zahlen gehabt. Im Kreuzverhör gesteht 
Zeuge, daß Picquart zur Ueberwachung 
Esterhazys 5000 Francs ausgegeben, wäh 
rend der Generalstab bisher immer von 
100 000 Francs gesprochen hatte. Picquart 
bittet ums Wort. Er erzählt, Gribelin sei 
der Einzige gewesen, der seine, Picqnarts, 
wechselnden Adressen gekannt habe. Er habe 
in Folge dessen in seiner Abwesenheit die 
für ihn eingehenden Briefe in Empfang ge- 
nommen. Zwei dieser Briefe seien geöff 
net worden, derjenige, der das Wort „De- 
midieu" enthalten habe, das später in dein 
peranzabrief verwendet worden sei, und 
zweitens dieser Speranzabrief selbst. Ge 
fragt, ob Gribelin beauftragt gewesen sei, 
alle Briese Picqnarts an einen Vorgesetzten 
abzuliefern, autivortet Gribelin verneinend. 
Picquart erklärt, er konstatire also, daß zivci 
seiner Briefe geöffnet worden seien. 
Picquart fordert alsdann eine amtliche Be 
scheinigung des Kriegsamtes, das seine ge 
nauen Nachweise der Aussagen besitze, da 
mit die schändlichen Verleumdungen gegen 
ihn, betreffend seine Geldgebahrung, end 
lich verstummten. Zeuge Major Lauth, der 
zahlreiche Notizen vor sich ausgebreitet hat, 
spricht zuerst über die Entdeckung des Bor 
dereaus und wiederholt dann seine bekann 
ten Beschuldigungen gegen Picquart über 
den Rohrpostbrief und die Mittheilung der 
Geheimpapiere an Leblois. Zeuge bestrei 
tet alsdann energisch, daß er und Henry 
nicht ihr Möglichstes gethan hätten, um den 
Agenten Cuers in Basel zum Reden zu 
bringen, oder daß sie ihn am Reden ver 
hindert hätten. Cuers habe niemals Geld 
vom Generalstabe angenommen und sich 
nur einmal die Reisekosten zurückgeben las 
sen. Um 9 Uhr 40 Minuten tritt eine 
Pause ein. Nach Wiederaufnahme der 
Sitzung setzt Lauth seine Aussagen fort. 
Von Demange und vom Vorsitzenden wird 
er nach der Abschabung der Rohrpostbrief- 
adresse gefragt. Lauth antwortet sehr ver 
legen, er wisse nicht, wer sie abgeschabt 
habe; er habe es nicht gethan. Picquart 
sagt aus, die Adresse sei nicht abgeschabt ge 
wesen, als er den Dienst verlassen habe; 
jetzt aber sei sie abgeschabt. Ein Lichtbild 
sei vorhanden, das Lauth selbst angefertigt 
habe, und das den Rohrpostbrief im ur 
sprünglichen Zustande zeige. Lauth habe 
eine Anzahl Lichtbilder hergestellt, welche 
die Sache noch deutlicher gemacht hätten; 
von Lauth seien aber die Platten zerstört 
worden. Zeuge Lauth, der sehr verlegen 
ist und den Eindruck des personifizirten 
schlechten Gewissens macht, giebt die Zer 
störung der Platten zu, bleibt aber dabei, 
nicht zu wissen, wer die Abschabung vor 
genommen. Bezüglich des Ergebnisses der 
Baseler Reise, giebt Zeuge zu, daß Picquart 
mit seinem Bericht sehr unzufrieden lvar. 
Zeuge Major Zanok schildert den Charakter 
des Angeklagten auf das Abfälligste. Drey 
fus habe gespielt und Beziehungen zu An 
gehörigen der Halbwelt gehabt. Zeuge schil 
dert noch den Besuch Henrys im Kabinet 
Bertulus. Dreyfus widerlegt hierauf aus 
führlich mit lauter Stimme mehrere Punkte, 
welche von den letzten Zeugen vorgebracht 
wurden. Die Verhandlung wird sodann 
auf morgen vertagt. 
R e n n e s, 21. Aug. Das Gerücht er 
hält sich aufrecht, daß der wirkliche Atten 
täter aus Labori in der Nähe von Rennes 
aus einem Bauernhöfe versteckt gehalten 
wird. Die Aerzte haben Labori weitere 
Schonung auferlegt. Es ist daher wieder 
" Werlaildsomalß. 
Novelle von Lothar Brenken dors. 
(Nachdruck verboten 
IV. 
Es war an einem schneidend kalten, 
stürmischen Abend im Februar, als sich Gott- 
frieb Harmcning hustend und athemlos gegen 
den eisigen Wind vorwärts kämpfte, der ihn 
bis ins Mark hinein vor Frost erschauern 
machte. Er war recht all und hinfällig ge 
worden in dieser letzten Zeit. Der Wirths- 
hausbcsuch, dem er sich seit jener nächtlichen 
Unterredung mit seinem Sohne immer eifriger 
ergeben hatte, war seiner Gesundheit offen 
bar sehr wenig zuträglich, denn seine Wangen 
waren hager geworden und seine Augen 
lagen tief in ihren Höhlen. 
Er mußte es an diesem Abend ganz be 
sonders eilig haben; denn er mäßigte trotz 
bcs ungeberdigen Wetters seine Schritte 
nicht, und er kümmerte sich sehr wenig um 
die ärgerlichen Zurufe einiger Vorübergehen 
den, mit denen er in unsanfte Berührung 
gekommen war. 
Ablr es war nicht seine vertraute Stamm 
kneipe, der er zustrebte. Er ging an ihren 
hell erleuchteten Fenstern vorüber, ohne in 
seinem raschen Laufe inne zu halten, und erst 
vor einem recht elegant aussehenden Hause 
in einer stillen Seitenstraße blieb er nach 
langer Wanderung Athem schöpfend stehend 
Es hatte fast den Anschein, als ob ihm mit 
einem Mal ver Muth abhanden gekommen 
sei, weiter zu gehen. Ein Ausdruck eigen 
thümlicher hochgradiger Spannung war auf 
seinem Gesicht, und trotz der grimmigen 
Winterkälte mußte er sich ein paar Schweiß 
tropfen von der Stirne trocknen, als er 
endlich langsam die mit einem Tcppichläufcr 
belegte Treppe emporstieg. 
An einer Thür im zweiten Stockwerk 
stand auf einem Mcssingschild der Name 
„Frau Agnes Berger". Hier zog Gottfried 
Harmcning die Glocke, und während der 
zwei oder drei Minuten, welche vergingen, 
bevor man ihm öffnete, trat er von einem 
Fuß auf den anderen wie Jemand, der sich 
in großer Verlegenheit oder Aufregung be 
findet. Ein Dienstmädchen war eS, das 
den Einlaß Begehrenden mit neugierigen 
Blicken musterte. Obwohl er Zeit genug 
gehabt hatte, sich auf die unvermeidliche 
Anrede vorzubereiten, gerieth der alte Mann 
doch bedenklich ins Stottern, während er 
sagte: 
„Mein Name ist Müller, und ich möchte 
Şie bitten, mich bei Herrn Eugen Valero 
anzumelden — vorausgesetzt natürlich, daß 
ich ihn gerade zu Hause treffe." 
„Klopfen Sic nur dort an jene Thür", 
erwiderte das Mädchen, indem es den Ein 
gang freigab. „Ich glaube, Sie werden 
von Herrn Valero bereits erwartet." 
Gottfried Harmcning that, wie sie ihm 
geheißen, und eine wohltönendc Männer- 
timme rief „Herrcin!" Im nächsten Augen 
blick stand er dem Bewohner des Zimmers 
gegenüber, der sich bei seinem Eintritt ge 
mächlich aus recht bequemer Lage auf einem 
Ruhebett erhob. Es war ein schlanker nach 
neuester Mode gekleideter Herr, den man 
wohl auf ein Alter von etwa dreißig Jahren 
chätzen mochte. Sein schönes intelligentes 
Gesicht war von einem dunklen Vollbart 
umrahmt, der an den Wangen ziemlich kurz 
gehalten, am Kinn aber zugespitzt war, wie 
es eben jetzt in der eleganten Welt die Sitte 
gebot. Kluge, -scharf blickende, ungemein be 
wegliche Augen blitzten durch die Gläser 
des goldenen Kneifers, und auf den Lippen 
des jungen Mannes lag ein anscheinend 
stereotypes, halb ironisches und halb ver 
bindliches Lächeln. 
Gottfried Harmcning war an der Thür 
stehen geblieben, und in seinem alten Ge 
sicht zuckte es, während er, ohne ein Wort 
hervorzubringen, auf den Anderen starrte 
Der aber kam auf ihn zu und streckte ihm 
vertraulich beide Hände entgegen. 
„Willkommen, Vater!" sagte er in einem 
so leichten und gemüthlichen Ton, als wären 
sie nur wenige Tage oder Wochen von ein 
ander getrennt gewesen. „Jcb freue mich 
herzlich, Dich endlich einmal wiederzusehen 
Der ehemalige Gerichtskanzlist antwortete 
nicht sogleich. Seine Brust arbeitete ungestüm 
und es war, als ob widerstreitende Em 
pfindungen in ihm um die Herrschaft kämpften. 
Er schlug auch nicht in die vargcboiene Rechte 
seines Sohnes ein, sondern zerdrückte statt 
dessen, wohl ohne es zu wissen, die Krämpe 
seines alten Filzhutcs zwischen den Fingern 
Der angebliche Valero wartete ein paar 
Sekunden lang, dann fuhr er, ohne irgend 
welche Gekränktheit zu zeigen, in seiner 
unbefangenen heiteren Weise fort: 
„Ist es das Erstaunen über die Ver 
änderung meines äußeren Menschen, welches 
Dich so stumm macht? Hoffentlich findest 
Du, daß sie mir nicht zum Nachtheil ge 
reicht. Ich wäre untröstlich, wenn Du den 
gegentheiligen Eindruck hättest." 
Gottfried Harmening schüttelte den Kopf. 
„Wohl uns, wenn ich in diesem Augen 
blick an nichts anderes zu denken brauchte 
als an Dein Aussehen! Wollte Gott, Ludolf, 
daß cs um Dein Inneres nicht schlechter be 
stellt wäre als um Dein Gesicht!" 
„Um's Himmelswillen, liebster Vater — 
nur keine Moralpredigten! Du wirst hoffent 
lich nicht hierher gekommen sein, um mir 
eine Scene zu machen, denn ich würde es 
sonst wahrhaftig bereuen müssen, Dich in 
einem unwiderstehlichem Antrieb kindlicher 
Liebe von meiner Rückkehr nach Deutschland 
benachrichtigt zu haben." 
Der Ton, in welchem er das gesagt hatte, 
war nicht einmal besonders zärtlich gewesen 
aber cs schien, daß selbst eine so flüchtige 
Berufung auf seine kindliche Liebe hinreichend 
sei, die mühsam erzwungene Strenge des 
alten Mannes in eitel Weichheit und Rüh 
rung zu verwandeln. Denn plötzlich ließ 
Gottfried Harmcning seinen Hut zu Boden 
fallen, daß er weit in das Zimmer hinein 
kollerte, und mit lauteni Schluchzen breitete 
er beide Arme aus, um sich an die Brust 
des verlorenen Sohnes zu werfen. 
Wieviel Kummer hast Du mir bereitet! 
Was habe ich um Deinetwillen ertragen 
muffen in dieser schrecklichen Zeit!" 
„Ich bitte Dich, nicht so laut!" mahnte 
Ludolf, den die plötzlich hervorbrechende Zärt 
lichkeit seines Vaters mehr zu geniren als 
zu erfreuen schien. „Die Wände haben zu 
weilen Ohren, und ich wohne, wie Du siehst, 
bei fremden Leuten, die nicht gerade zu 
wissen brauchen, welch' ein rührendes Wieder 
ehen hier gefeiert wird." 
Schmerzlich berührt ließ Gottfried Harme- 
mening die Arme sinken. Ludolf aber faßte 
ihn an der Hand und nöthigte ihn mit 
reundlicber Gewalt aus das Sopha nieder. 
„Du mußt darum nicht etwa glauben, daß 
meine Freude eine geringere sei", plauderte 
er begütigend weiter. „Aber meine Lage ist 
leider noch keine derartige, daß ich mich aller 
Vorsicht cntschlagen und rückhaltlos den 
Impulsen meines Herzens folgen dürfte. 
Jene fatale Geschichte ist noch nicht verjährt, 
und ich habe niemals weniger Lust gehabt 
als gerade jetzt, mich mit dem Staatsanwalt 
darüber zu unterhalten." 
„Und doch bist Du wieder nach Deutsch 
land gekommen! Wäre es denn nicht bester 
gewesen, wenn Du in Paris geblieben wärest, 
wo Du doch vor aller Verfolgung sicher 
wärest?" 
„BesondereUmstände, über die ich mich vor 
läufig noch nicht näher aussprechen kann, 
machten diese Reise nothwendig, lieber Vater! 
Und dann hatte vielleicht auch das Heim 
weh seinen Antheil an meinem Entschluffe. 
Ich war nicht darauf gefaßt, daß gerade 
Du mir aus meiner Rückkehr einen Vor 
wurf machen würdest." 
Er hatte sich an der Seite Gottfried 
Harmening's nicdcrgelaffen, und der schmei 
chelnde Klang seiner wohllautenden Stimme 
hatte den alten Mann schon wieder voll- 
'tändig versöhnt. 
„Du mußt mick nicht mißverstehen, mein 
Sohn! Ich bin ja unbeschreiblich glücklich, 
daß es mir vor meinem Tode noch einmal 
vergönnt gewesen ist. Dich wiederzusehen. 
war die höchste Zeit; denn es geht mit 
Riesenschritten zu Ende, das fühle ich alle 
Tage deutlicher. Und ich hätte doch so gerne 
noch erlebt, daß es Dir recht gut geht, mein 
Junge!" 
„Nun, wir wollen hoffen, daß Dir dieser 
Wunsch erfüllt wird. Augenblicklich aller 
dings lasten meine äußeren Glückesumstände
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.