Full text: Newspaper volume (1899, Bd. 2)

HcigLich erscheinendes WLcrtt. 
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dieses Blattes vorbehalten. 
Dem Rendsburger Wochenblatt wird 
„Der Landwirth" 
(Zeitschrisr sür die politischen u. socialen Interessen 
der Landwirthschaft) gratis beigegeben. 
WO. 190. 
Mittwoch, den 16. Augutt 
1899. 
Morgen-Berichte. 
Wien, 14. August. Die Neue Freie 
Presse erfährt, daß soeben hier ein hoher 
Staatsbeamter wegen Spionage verhaftet 
wurde. Es ist dies August von Mosetig 
der Oberrevident der Staatsbahnen im 
Eiscnbahnministerium. Er entwendete die 
auf die Mobilisirung bezüglichen, im Eisen 
bahnministerium liegenden Akten, die er 
an Ritter von Prziboworski verkaufte. 
Dieser ist seit Februar flüchtig und ließ 
sich seine Pension bis Juni nach Brüssel 
bringen. Verwickelt in die Angelegenheit 
ist auch ein gewisser Przibitzer, der eben 
falls verhaftet wurde. Die Akten wurden 
an die französische, wahrscheinlich auch an 
die russische Regierung verkauft. 
New.Aork, 14. August. Das durch den 
Orkan aus Portoriko entstandene Unglück 
ist bei weitem größer, als man zuerst an - 
nahm. Jede neue Nachricht von dort er 
höht die Zahl der Todten und giebt ein 
immer schrecklicheres Bild von den ange 
richteten Verwüstungen. In einem 
Telegramm des „B. L. A." heißt es: Die 
Anzahl der aus Portoricv ums Leben ge 
kommenen Personen wird niemals bekannt 
Werden; doch weiß man so viel, daß sie 
2000 überschreitet. Die Anpflanzungen 
stnd vernichtet. Viele Ueberlebende sterben 
vor Hunger. Man befürchtet eine Epidemie. 
Arolsen, 14. August. Kurz nach 1 Uhr 
begann auf dem glänzend geschmückten 
Festplatze, gegenüber dem Residenzschloß, 
die Enthüllungsfeier des 
Denkmals Kaiser Wilhelms I 
Nachdem die Herrschaften stch im Kaiser- 
zelte versammelt batten, trug der Sänger- 
chor dieHymne vor: „DieHimmel rühmen", 
worauf Geheimrath von Möhlmann 
Nomens des Komitees die Festrede hielt. 
Der Redner führte aus, daß das ganze 
Land freudig an dem Feste theilnehme 
und dankbar sei für das Erscheinen des 
Kaisers. Auf ein vom Fürsten nach ein 
geholter Genehmigung des Kaisers ge 
gebenes Zeichen fiel die Hülle, eine Batterie 
des Artillerie-Regiments Nr. 11 gab Salut 
fchüsie ab und das in Arolsen garntfonirende 
dritte Bataillon des Jnfonterie-Rcgimenls 
Nr. 83 präfentirte; sämmtliche Glocken 
der Stadr läuteten. Der Fürst brachte 
ein Hock auf den Kaiser aus. Der Kaiser 
erwiderte mit einem Hoch aus den Fürsten 
und sein Haus. Hieraus fand die Be 
sichtigung des Denkmals und der Vorbei 
marsch des 3. Bataillons des Infanterie- 
Regiments Nr. 83, sowie der 1800 Mann 
korken Waldeckschen Kriegervereine statt. 
Nach beendeter Feier kehrten die Herr- 
chaslen in das Schloß zurück. Nach dem 
Galadiner hielt der Kaiser Cercle und 
begab sich um 4 V 2 Uhr, geleitet vom 
Fürsten und der Fürstin, zum Bahnhöfe, 
>vo sich auch die übrigen Fürstlichkeiten 
und die Spitzen der Behörden eingefunden 
hatten. Aus der Fahrt zur Bahn wurde 
der Kaiser von der Bevölkerung aufs leb 
hafteste begrüßt. 
Berlin, 14. August. Die Bautischler 
und Einsetzer Berlins haben einen General 
streik proklamirt und seit heute srüh feiern 
sie auf den Bauten und in den Werkstätten 
Auch in den Kreisen der Maurer soll man, 
wie eine Korrespondenz meldet, entschlossen 
sein, den paritätischen Arbeitsnachweis, 
dessen Schaffung die Arbeitgeber nicht zu 
lassen wollen, eventuell durch einen Streik 
zu erzwingen. 
Magdeburg, 44. Aug. Der 12. Ber- 
bandstag des Centralverbandes deutscher 
Bäcker-Innungen „Germania" wurde heute 
durch den stellvertretenden Verbandsvor 
sitzenden Obermeister Bernard-Berlin im 
Beisein staatlicher und städtischer Behörden 
eröffnet. In Vertretung des Oberpräsidenten 
der Provinz Sachsen v. Bötticher war 
der Oberpräsidialrath Davidson erschienen; 
auch Assessor Brauer wohnte den Verhand 
lungen bei, desgleichen der Reichstagsab 
geordnete Euler (Centr.) Nachdem Ober 
meister Bernard das Hoch aus den Kaiser 
ausgebracht, wurde in die Verhandlungen 
eingetreten. Die Errichtung einer Wittwen 
pensions- und Altersversicherungs-Kasse, 
die vom Centralverband fundirl ist, wurde 
einstimmig angenommen. 10 000 Mark 
wurden aus der Verbandskasse bewilligt. 
Es folgte ein Referat über den Maximal 
arbeitstag und dessen Schädigungen 
Diesbezüglich wurde eine Resolution ein 
stimmig angenommen, wonach die deutschen 
Bäckermeister gegen den Maximalarbeilstag 
protestiren und der Reichskanzler ersucht 
wird, beim Bundesrath die Aushebung 
der Verordnung zu beantragen. Sollte 
die Aufhebung undurchführbar sein, dann 
möge der Bundesrath den Maximalarbeiks 
tag dahin abändern, daß an besten Stelle 
eine acht- resp. zehnstündige Ruhezeit fest 
gelegt werde. Der Bvndesrath möge be 
stimmen, daß nur die wirklich Schuldigen, 
welche die Verordnung übertreten, bestraft 
werden. Die Anzeigepflicht hat binnen 
acht Tagen einzutreten. Eine weitere 
Resolution, welche sich gegen den einheit 
lichen Ladenschluß richtet, gelangte ebenfalls 
zur Annahme und soll dem Reichstag und 
dem Bundesrath übermittelt werden. 
Dresden, 14. Aug. Aus Pirna melden 
die „Dresd. Neueste Nachr." : Der gestern 
Abend 9 Uhr hier fällige Personenzug stieß 
in der Nähe des alten Bahnhofs auf 
einen dort haltenden Güterzug. 5 Wagen 
des Güterzuges und 2 Wagen des Per 
sonenzuges wurden total zertrümmert. 
5 Personen wurden schwer verletzt; die 
Anzahl der leicht Verwundeten ist noch 
nicht festgestellt. 
Brody, 14. Aug. Hier und in der 
Umgegend ging gestern ein furchtbares 
Unwetter mit Hagelschlag nieder; säst alle 
Fenster der Stadt wurden zertrümmert 
und das auf dem Felde stehende Getreide 
vernichtet. Der Schaden ist ein enormer. 
— In dem galizischcn Badeort Zokopanc 
ist Frost und Schneesoll eingetreten. 
Kaaden, 14. Aug. Bei einer Wähler 
Versammlung, in welcher der Abgeordnete 
Dr. Ruß seinen Rechenschaftsbericht ab 
stattete, kam es zwischen Deutsch.Nationalen 
und Liberalen zu einer Schlägerei, bei 
welcher auch Dr. Ruß angegristen wurde. 
Die Versammlung mußte schließlich aus 
gelöst werden. 
Der Dreyfus-Prozetz. 
R e n n e s, 14. August. Die heutige 
Sitzung des 'Kriegsgerichts begann wie 
derum nm 61/2 Uhr. Dreyfus wurde in der 
gewohnten Weise zum Lyceum geführt. 
Kaum hatten die Mitglieder des Kriegsge 
richts ihre Plätze eingenommen, als die 
Schreckenskunde von dem Attentat aus La- 
bori eintraf. Eine ungeheure Aufregung 
bemächtigte sich der im Sitzungssaale an- 
wesenden Personen. Oberst Jonaust 
mahnte das Publikum und die Presse zu 
strengster Ruhe. Rufe wurden ausgestoßen: 
„Hoch Labori! Das ist unerhört!" Mit 
Thränen in den Augen bat Demange um 
Unterbrechung der Sitzung. Dieselbe wurde 
gewährt. Während der Pause wurde von 
allere Seiten die ruchlose That lebhaft be 
sprochen lind allgemein wurden Ruse des 
Abscheus laut. Um 7 Uhr wurde die Ver 
handlung wieder aufgenommen und zivar 
mit der Fortsetzung des Verhörs Mercier. 
Derselbe betonte nochmals, daß er trotz der 
Geständnisse Esterhazys überzeugt sei, das; 
Dreyfus das Bordereau verfaßt habe. Nun 
mehr folgte das Verhör Casimir Periers, 
das derselbe bekanntlich in der Sonnabend- 
sitzung beantragt hatte. Casimir Perier 
blieb wiederunl dabei, daß er nienials von 
Lebrnn-Renauld Mittheilungen über angeb 
liche Geständnisse Dreyfus' erhalten habe. 
Uebrigens sei Dupuy im Elysee anwesend 
gewesen, als Lebrnn-Renauld empfangen 
imlrde. Perier brachte alsdann einen Brief 
zur Verlesung, dessen Verfasser Dusmy ist; 
in demselben wird festgestellt, das; General 
Mercier den Kapitän Lebrnn-Renauld ilach 
dem Elysee entsandt hatte, damit der Prä 
sident Casimir Perier ihm sür seine be 
gangenen Indiskretionen eine Rüge er 
theile. Weiter erklärte Casimir Perier in 
seinen Aussagen, es sei unrichtig, daß wäh 
rend dieser Zeit das Verhältniß zu Deutsch 
land ein besorgnißerregendes gewesen sei 
Es habe vielmehr damals vollständige Ruhe 
geherrscht, was zur Genüge dadurch bcwie- 
sen Iverde, daß man nur eine einfache kurze 
Note über die Dreyfusangelegenheit veröf 
fentlichte. Es sei auch nicht am 6. Novem 
ber gewesen, wo nach Merciers Behanp 
tung die kurze Note veröffentlicht worden 
sei, sondern erst zwei Tage später. — Un 
richtig sei auch die Behauptung, daß mit 
Rußland ein Notenwechsel stattgefunden 
habe. Zur Antwort aufgefordert, entgcg 
nete Zeuge Mercier, er habe dem General 
Boisdeffre Befehle für eine eventuelle Mo 
bilisirung gegeben. Demange verlangte 
hierauf von Mercier, zu wiederholen, daß 
er am 6. November dem General Bois- 
deffre Befehl gegeben, bezüglich der Mo 
bilisirung für einen eventuellen Krieg mit 
Deutschland. Casimir Perier bemerkte als 
dann, er wolle nicht aus die vielen Anspie 
lungen Merciers antworten, weil er die 
Debatten nicht in die Lange ziehen wolle. 
Mercier habe altes Mögliche gethan, ihn, 
Casimir Perier, so viel als möglich in die 
Angelegenheit hineinzuziehen. Er, Zeuge 
Perier, sei der Untersuchung gänzlich fern 
geblieben. Erwähnen wolle er noch die 
Thatsache, das; Mercier als Minister, ohne 
Wissen und Willen des Präsedentcn der Re 
publik, 60 000 Mann früher als beabsich 
tigt gewesen, zur Reserve entlassen habe 
Mercier antwortete, er habe Casimir Pe 
rier in die Angelegenheit hineingezogen, 
weil er geschworen habe, die ganze Wahr 
heit zu sagen. Von Demange über die un 
berechtigten. Mittheilungen geheimer Schrift- 
tücke befragt, antwortete Mercier, diesel 
ben seien durch die damals -existirende ernste 
volitische Lage veranlaßt worden. Demange 
frug weiter den Zeugen Mercier, ob er be 
sondere Gründe gehabt habe, die offizielle 
Uebersetzung des Panizzarditelegramms, die 
früher im Dossier vorhanden gewesen sei, 
zu unterdrücken. Mercier entgegnete, er 
habe die Uebersetzung als sein persönliches 
Eigenthum betrachtet und habe dieselbe, 
nachdem sie ihm Dienste geleistet, vernichtet. 
Nunmehr erklärte Casimir-Perier nochmals, 
er habe niemals versprochen, dahin wirken 
zu wollen, daß die Debatten ohne Aus 
schluß der Oeffentlichkeit stattfinden sollen. 
Es folgte das Verhör des Generals Billot. 
Derselbe versicherte, er habe bei seinem Ein 
tritt in's Ministerium von der ganzen 
Dreyfusangelegenheit nicht mehr gewußt, 
als die anderen Leute auch. Des Weiteren 
sprach sich der Zeuge über die Brauchbar 
keit Picquarts aus und verwahrte sich gegen 
die Behauptung, daß er Picqnart an die tu 
nesische Grenze habe schicken wollen, um ihn 
sür immer zu entfernen. Bedauern müsse 
er, daß er die meiste Zeit, während der er 
Minister gewesen, mit der Dreyfnsangele- 
genheit habe verlieren müssen, Hierauf 
tommentirte Billot das von einem Fran 
zosen belauschte Gespräch zweier deutscher 
Offiziere in Berlin. Dreyfus sprang auf 
und schrie, zu Bittot gewendet: „Das ist 
eine Lüge!" Von dem Vorsitzenden aufge 
fordert, dies nochmals zu sagen, wieder 
holte Dreyfus: „Die Aussage des Generals 
Billot ist eine Lüge!" Die Sitzung wurde 
jetzt unterbrochen/ Nach Wiederaufnahme 
derselben begann das Verhör Cavaignacs. 
Dieser erklärte, er habe die Untersuchung 
des Kassationshofes mit großer Aufmerk 
samkeit verfolgt und bestehe darauf, seine 
Verantwortlichkeit mit den Ministern von 
1894 beizubehalten. Seine Ansicht über die 
Schuld Dreyfus'« müsse er mit den Ge 
ständnissen begründen, die Dreyfus dem 
Kapitän Lebrun - Renault gemacht habe. 
Cavaignac weigerte sich sodann, über die 
Fälschungen Henrys Auskunft zu geben. Er 
müsse sich darauf stützen, daß der Kassa- 
tionshos diese Angelegenheit erledigt habe. 
Er erklärte weiter, von einein Jndustriel- 
len in Boulogne vernommen zu haben, daß 
dieser 1894 Dreyfus in Brüssel angetros- 
sen habe. Ter Advokat Demange sagte, 
er werde von jetzt an keine Bemerkung mehr 
unbeantwortet lassen, da sich die Zeugen 
als Ankläger aufspielten. Die Aussagen 
Merciers befänden sich in direktem Wi- 
WkàdMmttz. 
Novelle von Lothar Brenkendorf. 
(Nachdruck verboten.) 
«Ģkben Sie Acht, Harmening! — So 
muß das gesungen werden — mit Leiden 
schaft und Feuer, und dock zugleich voll 
Zartheit und Innigkeit. Der ganze Zauber 
der liebeweckenden Frühlingsnacht muß darin 
klingen und weben. Hören Sie nur — so !" 
Mit einer Bewegung, die mehr drollig 
als großartig aussah, warf der kleine ver 
wachsene Mann die Ueberfülle seines mähnen- 
arlig bis auf die Schultern niederwallenven 
rothblonden Haupthaares nach hinten, griff 
auf eine höchst energische An in die Tasten 
und begann nach einem tiefen Athemzuge zu 
singen: 
«Winterstürme wichen dem Wonnemond, 
2n milden Lüften leuchtet der Lenz " _ 
.©eine Stimme war dünn und hoch; fast 
uue vie Stimme eines Kindes, und die Töne 
kamen nichts weniger als wohllautend über 
leine Rppen. Man konnte stch wohl laum 
^cherlicheren Gegensatz denken als den 
zwischen seiner wenig anmuthcnden Erscheinung 
und dem Inhalt der liebestrunkenen Bcrie, 
die er da mit so viel seelischer Antheilnahme 
und so übertriebenem Pathos sang. 
Aber so mangelhaft sein Vortrag sein 
mochte, seine musikalische Sicherheit und vor 
allem sein Klavierspiel waren geradezu de 
wundernswürdig. Es wäre ein Genuß ge 
wesen, ihm zuzuhören, wenn nicht seme 
krähende Stimme den Eindruck so empfind 
lich gestört hätte. 
Die beiden Personen jedoch, welche in 
diesem Augenblick das gcsammte Publikum 
des etwa dreißigjährigen Musikers ausmachten, 
schienen das Wunderliche in seinem Gebahren 
nicht zu empfinden. 
In einem Lehnstuhl von wahrhaft vorwclt- 
licher Form saß an dem einzigen Fenster 
des etwas ärmlichen Stübchens eine kleine, 
schmächtige Frau von leidendem Aussehen. 
Unverwandt hing ihr Blick an dem Vor 
tragenden, in dem man bei der Aehnlichkeit 
der Züge unschwer ihren Sohn hätte er 
kennen können; mit leisen Bewegungen des 
Kopfes begleitete sie seinen Gesang, und 
langsam rollten zuletzt ein paar große Thränen 
über ihre runzeligen Wangen. 
Der andere Zuhörer lehnte am Klavier. 
Er war hoch und stattlich gebaut und zählte 
vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig 
Jahre. Seine Augen blickten ins Leere, 
und in seinem hübschen männlichen Antlitz 
spiegelte sich etwas ganz anderes als Be 
lustigung über den schlechten Gesang des 
kleinen Mannes. Vielleicht hörte er nur 
die herrlichen Töne, welche die hageren 
Finger des Verwachsenen aus den Saiten 
des Instruments hervorzauberten, nur die 
wundersame Musik in diesem schönsten aller 
Liebesliecer. Sonst hätte er doch wohl ein 
kleines überlegenes Lächeln gehabt, als sich 
der Andere, nachdem er die perlenden Schweiß 
tropfen von der Stirne getrocknet, triumphi- 
rcnd gegen ihn wandte: 
„Das greift ans Herz — nicht wahr? 
— Ja, ja, wenn ick nur eine andere Figur 
hätte, man würde sein Wunder erleben. 
Aber nun muffen Sic es noch einmal singen, 
Harmenmg. Ich bin sicher, daß es jetzt 
schon viel besser geht." 
Der Angeredete trat hinter den Stuhl 
des Kleinen und that. wie ihm Jener ge 
heißen. Sein etwas dunkel gefärbter Ton 
war von schönem, metallischem Wohllaut, 
aber der Mangel an musikalischer Schulung 
machte stch doch vielfach recht merklich fühl 
bar. Er hatte eben die ersten Verse ge 
sungen, als leise die Thür des Zimmers 
geöffnet wurde. Ohne von den Beiden am 
Klavier sogleich bemerkt zu werden, erschien 
ein junges Mädchen, in einfachem dunklem 
Kleide auf der Schwelle. Sic konnte höchstens 
zwanzig Jahre zählen; ihre schlanke, mehr 
als mittelgroße Gestalt war von tadelloser 
Schönheit, und große, dunkle, charaktervolle 
Augen leuchteten aus dem feinen unmuthigen 
Gesichtchen. 
Ein paar Secunden lang stand ste zaudernd ; 
dann als ihr die Matrone am Fenster zu 
nickte, kam sie geräuschlos näher, um neben 
dem altmodischen Lehnstuhl stehen zu bleiben, 
bis der Gesang zu Ende war. 
„Vereint sind Liebe und Lenz —" 
In weichen Akkorden klang es durch das 
bescheidene Stübchen, und während der ver 
wachsene Musiker den Orchesterpart wcitcr- 
spiclte, wandte Günther Harmening den Kopf 
nach dem Fenster hin. Eine Mischung von 
Freude und Verlegenheit zeigte sich auf 
seinem Gesicht. 
„Guten Abend, Fräulein Erna!" sagte 
er, indem er zu ihr trat und ihr seine Hand 
reichte. „Wie leise müffen Sie hereinge 
kommen sein, daß ich cs gar nicht bemerkt 
habe!" 
„Ich würde mich ja selber um ein Ver 
gnügen gebracht haben, wenn ich Sie gestört 
hätte", gab sie freundlich zurück. „Mir ist, 
als hätten Sie Siegmunds Lied niemals 
bester gesungen als eben jetzt." 
Der kleine Musiker sprang auf und mit 
lebhaften Bewegungen seiner unverhältniß- 
mäßig langen Arme ries er dazwischen: 
„Das will ich meinen! — Noch etwas 
mehr Schule — etwas mehr Feuer — und 
er kann mit dem berühmtesten Wagnersänger 
in die Schranken treten. — Ist es nicht 
ein Verbrechen, daß solche Schätze sür alle 
Ewigkeit im Verborgenen bleiben sollen?" 
Auch er begrüßte das junge Mädchen 
mit großer Herzlichkeit, um dann unter wieder 
holtem Schütteln seiner widerspenstigen Löwen 
mähne sogleich wieder auf seine erste Aeußer 
ung zurückzukommen. 
„Glauben Sie nun um Gotteswillen 
nicht, daß es auch später noch Zeit sein wird, 
das Versäumte nachzuholen. Eine schöne 
Menschenstimmc ist rasch eingerostet, und ich 
habe in meinem Leben noch nicht gehört, 
daß aus einem verstaubten Rechnungsrath 
oder Kanzleidirektor ein großer Sänger ge 
worden wäre. — .Habe ich nicht Recht, 
Fräulein Erna?" 
Die junge Dame richtete ihre schönen 
Augen auf Günther Harmening und neigte 
bejahend das Köpfchen. 
„Ich glaube wohl, daß Sie Recht haben, 
Herr Heimervinger!" 
„Um so schlimmer, daß die Würfel über 
mein Schicksal bereits gefallen sind", meinte 
Günther und sein Lächeln bewies, daß er 
dies alles nur von der scherzhaften Seite 
nahm. „Wenn ich auch wirklich so große 
Anlagen hätte, als Sie mir einreden wollten, 
bester Freund, so habe ich doch leider nicht 
Geld genug, mich aus gefährliche Experimenie 
einzulassen. 
„Ja, das unglückselige Geld!" geftikulirte 
der kleine .Öeimerdinoer mit traaiicbcr Ge 
berde. „Ich weig ein Liedchen, davon z 
singen, Plage und Noth ohne Ende! — 
Und diese Erbschaft, die uns zu reichen Leuten 
macht, will noch immer nicht kommen." 
„Rechnen Sie denn wirklich darauf?" 
fragte Günther mit einem kleinen Anflug 
von gutmüthigem Spott. „Ist nicht der 
Großonkel, den Sie beerben wollen, schon 
vor undenklichen Zeiten in Amerika ver 
schollen?" j _ 
„O nein, er ist durchaus nichl verschollen", 
mischte sich nun auch Frau Heimerdinger in 
das Gespräch. „Es sind noch nicht zehn 
Jahre vergangen, seitdem ich Einen ge 
sprochen habe, der ihn kurz vorher selber 
gesehen hatte. Und mein armer Oheim litt 
damals bereits an einer unheilbaren Krank 
heit." 
„Die glücklicherweise einen etwas lang 
samen Verlauf zu nehmen scheint. Haben 
Sie denn übrigens niemals einen Versuch 
gemacht, sich mit diesem amerikanischen Krösus 
in Verbindung zu setzen?" 
„Freilich! — Ich habe wiederholt an 
ihn geschrieben. Aber es ist nie eine Ant 
wort gekommen. Und das ist lein Wunder; 
denn er wird durch die Verwaltung seines 
großen Vermögens gewiß sehr stark in An 
spruch genommen — und dann hat er uns 
ja auch nie mit leiblichen Augen gesehen. — 
Wenn er die Zeit gekommen glaubt, sein 
sein Testament zu machen, wird er indessen 
schon an uns denken." 
Es klang eine so felsenfeste Zuversicht 
aus den Worten der alternden Frau, daß 
Günther nicht das Herz hatte, einen weiteren 
Zweifel zu äußern. Fritz Heimerdinger 
aber, obwohl er unverkennbar das Vertrauen
	        
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