Full text: Newspaper volume (1896, Bd. 2)

folgen sollte, der wesentlich langsamer als 
der Schnellzug fährt. Nach Görlitz zu 
sollte des Kaisers Sonderzug voranfahren 
und der Zug der Manövergäste ihm folgen. 
In dem Augenblicke, in dem der heran 
nahende Schnellzug gemeldet wurde, verab 
schiedete sich der Kaiser von König Albert 
und war eben im Begriff, seinen Salon- 
wagen zu besteigen, als der Schnellzug 
einlief und trotz Bremsen und Kontredampf 
auf den kaiserlichen Sonderzug auffuhr, 
dessen schwere Maschinen rückwärts pressend, 
wobei die zweite Maschine des Kaiserzuges 
durch einen klaffenden Tenderriß, dem das 
Wasser unaufhaltsam entströmte, dienst 
unfähig wurde. König Albert sah den 
Anprall noch und winkte dem neben dem 
Kaiserzuge stehenden Kaiser Wilhelm II. 
lebhaft zu, während sein Zug schon lang 
sam ausfuhr. Inzwischen fuhr auch der 
Hofzug mit den Manövergästen ein, dessen 
Insassen natürlich auch sofort auf den 
Unfall aufmerksam wurden, der ja glück 
licherweise ohne weiteren Schaden verlaufen 
war, als daß die Maschine des Kaiserzuges 
defekt geworden war. Es dauerte vierzig 
Minuten, ehe die Maschine ausgesetzt und 
eine Ersatzmaschine an ihre Stelle geschafft 
worden war. Der Kaiserzug fuhr dann 
langsam aus Löbsu aus und hat die Fahrt 
bis Siegersdors — wie das übrigens meist 
der Fall ist — nur mit 60 Kilometer 
Stundengeschwindigkeit zurückgelegt. Der 
schwere kaiserliche Zug wird nur auf be 
sonderen Befehl mit höherer Geschwindigkeit 
gefahren, für die Nachtfahrten werden 
sogar nur 50 Kilometer in der Stunde 
gefahren." 
Es stimmt dieser Bericht also mit dem 
von uns gestern gegebenen Bericht im 
Wesentlichen völlig überein. 
— Zu dem Geburtstag der Tochter 
unseres Kaiserpaares am gestrigen 
Sonntag fand Nachmittags eine große 
Kindergesellschaft im Marmor-Palais bei 
Potsdam statt, bei welcher die Kapelle des 
zweiten Garde-Regiments zu Fuß konzertirte. 
Die kleine Prinzessin Viktoria Luise machte 
selbst die Honneurs und bewirthete höchst 
eigenhändig die Musikanten mit Kaffee und 
Kuchen. Einen recht glücklichen Tag hatte 
dabei ein Leicrkastenmann, der zufällig im 
Wildpark umherzog. Die kleinen Gäste 
wollten tanzen; im jedoch die Hornmusik 
zu rauschend war, ließ der Kaiser umher 
schicken, ob irgendwo ein Leierkasten auf 
zutreiben sei. Das Glück wollte es, daß 
einer der Bedienten den erwähnten Leier- 
kastenmann fand, und nun mußte der nichts 
weniger als salonfähige Italiener im Saal 
vor der Kindergesellschaft erscheinen, um 
auf directen Wunsch des Kaisers alles zu 
spielen, was er auf der „Walze" habe. 
N-'ch den Klängen der „Ganzen kleinen 
Frau" und ähnlicher Lieder tanzten und 
sangen die Geladenen, bis die Zeit zum 
Aufbruch nahte. Der Kaiser, der sich über 
diesen improvisirten Hofball köstlich amüsirte 
und über die Erweiterung der musikalischen 
Kenntnisse seiner jüngsten Kinder herzlich 
lachte, ließ dem Drehorgelspieler ein Honorar 
von 150 Mark reichen. 
Berlin, 14. Sept. Das Gerücht, daß 
General von Hahnke, der Chef des 
Militärkabinetts, aus seiner bisherigen 
Stellung ausscheiden und als comman- 
dirender General an die Spitze des 4. Armee 
corps treten werde, ist nach dem „Lok.- 
Anz." in jeder Beziehung unbegründet. 
Der Kaiser sprach in der Rede bei der 
Parade auf dem Tempelhoser Felde an die 
höheren Offiziere direct aus, daß er dem 
wohlverdienten General sein Vertrauen 
gegenüber den verdächtigenden Angriffen, 
die er anläßlich der Verabschiedung des 
Kriegsministers von Bronsart erlitten, 
durch die Ernennung zum Chef des aus 
gezeichneten Grenadier - Regiments Prinz 
Karl von Preußen zu erkennen geben wolle. 
Der Kaiser betonte auch, daß er sich das 
Recht, selbst zu bestimmen, wen er in 
irgend einer Angelegenheit um seine 
Meinung fragen wolle, nicht nehmen lasse. 
— Freiherr v. Kotzehat von der Festung 
Glatz aus das Gesuch an den Kaiser ge 
richtet, ihn von seinem Amt als Cere- 
monienmeister zu entbinden. Der Kaiser 
hat dieses Gesuch bewilligt, dagegen bleibt 
Herr o. Kotze Kammerherr und Rittmeister 
der Reserve. 
— Ein neuer Jnfanteriehelm wird 
gegenwärtig vom 3. Bataillon des 9. 
bayerischen Infanterieregiments im Manöver 
getragen. Spitze und Wappen sind aus 
Aluminium und kleiner als bei den bis 
herigen Helmen; das Gewicht des Ganzen 
soll das der Feldmütze kaum überschreiten, 
Daß auf den Krupp 'sch en Werken 
ein Verrath von Fabrikgeheim 
nissen vorgekommen und infolge dessen 
alle Ausländer entlassen worden sind, 
wird von der Firma Krupp den „Berliner 
Neuesten Nachrichten" als vollständig un 
begründet bezeichnet. 
Berlin, 12. Septbr. Die Stadt 
verordnetenversammlung beschäftigte 
sich gestern mit der alten Konsistorialordnung, 
auf Grund deren die hiesige Kirchengemeinde 
die Stadt Berlin zum Bau von Kirchen 
heranziehe. Neuerdings sind für zwei 
Kirchen insgesammt hier 173,000 Mk. ver 
langt und vom Magistrat unter Vorbehalt 
gezahlt worden, nachdem mit der Zwangs 
vollstreckung gedroht worden ist. Der 
Magistrat verlangte die Genehmigung dieser 
Maßnahmen. Man erkannte zwar an, 
daß der Magistrat die Rechte der Stadt 
gewahrt habe; einzelne Redner vertraten 
aber den Standpunkt, daß der Magistrat 
die Zahlung unter allen Umständen hätte 
verweigern, es auf die Zwangsvollstreckung 
hätte ankommen lassen und namentlich auf 
Vergleichsverhandlungen mit den Kirchen 
behörden hätte verzichten sollen. 
Berlin, 14. Septbr. Ein bekannter 
Trabersports man, der Engros- 
schlüchter Schmidt, ist dem „Berl. Tgbl." 
zufolge gestern wegen der Beschuldigung 
der Entführung einer Minder 
jährigen verhaftet worden. Bei dem 
letzten Trabrennen auf der Rennbahn in 
Westend wurde zu allgemeiner Ueber- 
raschung der Rennfahrer Heidegger von 
einem Hamburger Kriminalschutzmann ver 
haftet; es stellte sich aber bald heraus, 
daß diese Verhaftung zu Unrecht geschehen 
war. Schmidt hatte unter Heidegger's 
Namen in Hamburg ein minderjähriges 
Mädchen kennen gelernt, das ihn nach 
Berlin begleitete, hier aber dann von ihm 
im Stich gelassen wurde. Gegen Kaution 
wurde Schmidt später wieder auf freien 
Fuß gesetzt. (Wir haben über diesen Vor 
fall schon berichtet.) 
Berlin, 14. September. Das sonnige 
Wetter des letzten Sonntags hat der Aus 
stellung einen Massenbesuch gebracht, der 
die betrübten Aussteller und Inhaber von 
Lokalen und sonstigen Bergnügungsanstalten 
reichlich für die vorausgegangenen Unbilden 
entschädigt haben dürfte. Außer dem 
schönen Wetter bewirkte den gewaltigen 
Zustrom von Besuchern auch die Einrich- 
ung des „kombinirten Marktages". Leider 
hatte diese an Wochentagen sehr schätzens- 
werthe Einrichtung am Sonntag den er 
heblichen Nachtheil, daß sämmtliche Spezial 
ausstellungen in geradezu gefährlicher Weise 
überfüllt waren. In der Kolonialausstel- 
lung mußte die Tembe, wie das Neger- 
dorf, zeitweise gesperrt werden. In Alt- 
Berlin kam es zu unerquicklichen Szenen. 
Am Spandauer Thor war stundenlang ein 
so arges Gedränge, daß Frauen ohn 
m ä ch t i g w u r d e n , Kinder unten 
auf dem Boden zu liegen kamen 
undGefahr liefen, todtgetreten 
zu werden. In dem nahe befindlichen 
Restaurant „Zum Klosterstübl" wurde die 
Kaffeeküche gestürmt, Stöcke und Schirme 
zerbrochen und zerfetzte Kleidungsstücke vor 
gefunden. Das Bier war in vielen 
Restaurants gänzlich ausgegangen. Die 
Unfallstation wurde 14 Mal in An- 
spruch genommen. Unter den „Patienten" 
befand sich ein Banquier aus Stettin, der 
sich auf der Stufenbahn durch eigene Un 
vorsichtigkeit Kontusionen an den Beinen 
zugezogen hatte. Einen Gradmesser für 
den ungeheuren Massenverkehr dürfte das 
im Packetfahrt-Pavillon ausliegende Buch 
Wo treffen wir uns?" bieten. Dasselbe 
hatte die während der ganzen Ausstellungs 
zeit noch nicht erreichte Zahl von rund 
350 Eintragungen zu verzeichnen. 
In dem Zuge Eisenach-Berlin entstand, 
bald nachdem der Zug die Station Apolda 
verlassen hatte, dadurch Feuer, daß ein 
Spirituskocher, auf,dem eine mitfahrende 
Dame Cacao kochen wollte, umfiel. Der 
brennende Spiritus ergoß sich über einen 
Reisekorb und den Fußboden, beide in 
Flammen setzend. Die Kleider einer Frau, 
welche das Feuer mit den Füßen dämpfen 
wollte, fingen an sofort zu brennen, und 
nur mit Mühe gelang es der Gefährdeten, 
die an ihrem Körper emporzüngelnden 
Flammen zu tilgen. Von einem Mit 
reisenden war inzwischen die Nothbremse 
in Thätigkeit gesetzt worden, worauf der 
Zug hielt und das Feuer gelöscht wurde. 
In einem Anfall von Geistesstörung 
verübte in Memel der 66jährige Faktor 
Berthe einen entsetzlichen Selbstmord. Er 
begoß sich mit Petroleum und zündete es 
an. Er erlitt so fürchterliche Brand- 
wunden, daß er auf dem Transport nach 
dem Krankenhause starb. 
BreSkau, 14. Septbr. Zum Comman 
danten von Breslau ist der Generalmajor 
v. Alvensleben, Commandeur der 2. Garde- 
Jnfanterie-Brigade, ernannt worden. 
Aus Siegersdorf, wohin der Kaiser sich 
zur Jagd begab, erfährt die „Frkf. Ztg.", 
daß in der letzten Nacht von böswilliger 
Hand sämmtliche E i n l a p p u n g e n 
durchschnitten worden und die ein 
gelappten Hirsche ausgebrochen sind. 
Posen, 14. Sept. Nach einer Meldung 
des „Pos. Tgbl." ist dem kommandirenden 
General des 5. Armeecorps, v. Seeckt, 
vom Kaiser der Schwarze Adlerorden und 
vom Zaren der Weiße Adlerorden ver 
liehen worden. 
Die in Frankfurt a. M. verhafteten 
Räthselschwindler haben mit Erfolg auf 
die Dummheit spekulirt. Die aufgegebenen 
„Preisräthsel" waren von der Art: „Meine 
erste ist ein Bindewort, die zweite ein 
Geldstück, das Ganze ist ein großer Mann, 
für Deutschland hat er viel gethan." Den 
Einsendern richtiger Lösungen wurde eine 
goldene Uhr als Prämie in Aussicht gestellt, 
falls sie eine Mark in Briefmarken zur 
Bestreitung der Portokosten der Lösung' 
beifügen würden, den Einsendern unrichti 
ger Lösungen sollten die Briefmarken 
zurückgesandt werden. In der Wohnung 
der Gauner wurden ganze Stöße von 
Briefschaften, die Lösungen solcher Räthsel 
enthielten, aufgefunden. Schätzungsweise 
sind aus dem Schwindelunternehmen in 
dem Monat etwa 1000 bis 1200 Mark 
erzielt worden. 
Leipzig, 13. Sept. In der Fehse'schen 
Bierpantschangelegenheit beschloß 
eine stark besuchte Versammlung des 
Vereins Leipziger Gastwirthe, daß in den 
Tagesblättern eine öffentliche Erklärung 
gegen den Ausspruch Fehse's, daß „Andere 
es auch so machten", zu erlassen sei. 
Leipzig, 14. Sept. Gegen die Eonsum- 
vereine geht man im Königreich 
Sachsen jetzt heftig vor. Nachdem die 2. 
Ständekammer vorgeschlagen hatte, den 
städtischen Gemeinwesen die Be 
steuerung der Consumvereine anheim 
zugeben, haben sich einige von diesen, wie 
Burgstädt, Waldheim rc. sofort daran ge 
macht, die Consumvereine mit einer drei 
prozentigen Umsatzsteuer zu beglücken. Der 
Kreisausschuß bestätigte diese Regulative 
mit der Einschränkung, daß nur 2 pCt. 
vom Erlöse der Consumvereine als Orts- 
steuern erhoben werden dürfen. Eine ganze 
Reihe von Städten dürfte diese Bestätigung 
zum Anlaß nehmen, auch ihrerseits mit 
einer gleichen Steuer vorzugehen. 
Die Kgl. Amtshauptmannschaft Zwickau 
hat die von einer Familie begehrte Ein 
tragung des Namens „Marx" als Vorname 
ihres neugeborenen,Sohnes in die Register 
nicht genehmigt. 
In der Schillerstraße in München ver 
übte am Freitag ein stellenloser Kellner 
ein Attentat aus einen Kriminal- 
Gendarm, indem er zweimal auf ihn 
schoß. Der Gendarm feuerte ebenfalls 
und verletzte den Angreifer schwer durch 
einen Schuß in die Kehle. 
Kaiserslautern, 13. Sept. Der „Pfalz. 
Kur." fordert alle süddeutschen National- 
lieberalen auf, auf dem Berliner (Delegirten- 
tage folgender Parole zu folgen: 
„In der wirthschaftlichen Kraft 
unseres Bauernst a ndes liegt der 
Schwerpunkt der nationalen Kraft 
Deutschlands." „National" sind wir 
also in des Wortes ganzer Bedeutung, 
wenn wir in energischer und zielbewußter 
Arbeit die berechtigten Interessen unserer 
landwirthschaftlichen Bevölkerung vertreten. 
Die Bezeichnung „liberal' für uns zu 
beanspruchen, haben wir ein vollwichtiges 
Recht, weil wir frei sind von Dogmen, 
Parteiprinzipien, und — den Blick aus 
das große Ganze gerichtet — den that 
sächlichen Verhältnissen und den durch sie 
bedingten Anforderungen Rechnung tragen, 
unbekümmert um die Anfeindungen von 
links und rechts." 
Bayreuth, 14 Septbr. Frau Cosima 
Wagner bezieht, wie bei den jüngsten 
Verhandlungen der internationalen Schrift 
steller-Association in Bern französischerseits 
erwähnt wurde, an Tantiemen etwa 60 
bis 70 000 Frcs. ans Frankreich; für den 
„Lohengrin" allein habe sie bisher 100000 
Francs von dort erhalten. — 
Hameln, 13. Sept. Während eines 
starken Gewitters hat der Blitz die 20 
Minuten von hier entfernte Wintersche 
Papierfabrik getroffen. Die Vorraths 
schuppen find ein Raub der Flammen 
geworden. Der Schaden beträgt gegen 
200,000 Mark. Dem günstigen Winde 
und dem Eingreifen der benachbarten 
Feuerwehr ist es zu danken, daß das 
Fabrikgebäude verschont geblieben ist und 
gegen 300 Arbeiter nicht brodlos ge 
worden sind. 
Die St. L oren z-Apotheke in Lübeck 
fstxssnx 
ist von dem bisherigen Besitzer Herrn 
Siegfried Mühsam vor einigen Tagen an 
einen Apotheker aus Cassel sicherem Ver 
nehmen nach für die Summe von 300000 
Mark verkauft worden. 
Hamburg, 14. Sept. Ein Mensch, der 
vom Gewinnglück förmlich verfolgt war, 
war der hiesige Friedhofsaufseher Lüt 
gens. Er gewann im Jahre 1886 auf 
ein Hamburger Loos 105000 JL, auf ein 
Braunschweiger Loos 55 000 JL und auf 
ein Köln-Mindener Loos 12000 Jk, dazu 
erbte er in dem gleichen Jahre noch 
50 000 M Was machte der Mann nun 
mit dem Gelde? Er stürzte sich in 
Differenzgeschäfte, kaufte für Millionen 
Spekulationspapiere und gerieth dann in 
Konkurs. Das Ende war eine Anklage 
wegen Bankerotts, welche ihn 
dieser Tage vor die hiesige Strafkammer 
führte. Das Gericht oerurtheilte ihn zu 
einer Gefängnißstrase von 1 Tag. 
'4rroî»m-iteAes. 
Der Hofbesitzer Herr Ziese auf Bredel- 
hof, eine wegen seiner Verdienste um die 
Landwirthschaft bekannte Persönlichkeit, ist, 
wie die „F. R." melden, von der Land- 
wirthschafts-Kammer zum Viehzucht- 
Inspektor für unsere Provinz ernannt 
worden, Herr Ziese übernimmt sein neues 
Amt bereits am 1. Oktober d. I., behält 
aber vorläufig seinen Wohnsitz aus Bredel- 
Hof. Der Posten eines Biehzuchiinspektors 
wird mit einem Gehalt von 3000 Mark 
dotirt, außerdem erhält der Inhaber an 
Reisekosten die Summe von 1000 Mk. 
Reichstags-Abgeordneter G. Thomsen- 
Z eunhusen reist in den nächsten Tagen nach 
Pest, um den Verhandlungen der inter 
nationalen Friedensliga beizuwohnen. 
Kiel, 9. Sept. Zum Zarenbesuch meldet 
die „Voss. Ztg." noch nachträglich: Ab 
gesehen von den officiellen Persönlichkeiten 
ist der Zar hier höchstens von einem paar 
hundert Menschen gesehen worden, da er 
das königliche Schloß nur auf dem 
Wasserwege betreten und verlassen hat. 
„Die endlosen Hurrahs der dichtgedrängten 
Menschenmassen" (von denen der officiöse 
Bericht des „Wölfischen Tel.-Bureaus" zu 
melden wußte.) gehören der kühnsten 
Reporterphantasie an. Es wäre viel 
richtiger zu sagen: „Der Zar ist in 
Kiel gewesen, aber Niemand hat ihn gesehen. 
Kiel, 13. Septbr. Das nächste große 
Brillant-Feuerwerk auf dem Aus 
stellungsplatze findet am Mittwoch, 
den 16. September, statt und verspricht 
als ganz neues und interessantes Schaustück 
das Kyffhüuser-Denkmal, welches in einer 
Höhe von 100 und einer Breite von 120 
Fuß von der englischen Pyrotechnikerfirma 
C. T. Brock & Co. eigens für die 
Schleswig - Holsteinische Landesausstellung 
angefertigt ist. Genau dem Original nach- 
gebildet, ist das Bild dieses Denkmals in 
dem prächtigsten Brillant- und Farben 
feuer ausgeführt in einer bisher nicht ge 
sehenen Pracht und Fülle. Im klebrigen 
ist das Mittwochs-Programm mit den 
glänzendsten Nummern pyrotechnischer 
Leistungen gefüllt, welche die renommirte 
Londoner Firma zu leisten im Stande ist. 
Prachtstücke wie das Gromatrop, die sechs 
gleichzeitig drehenden Räder, die Terrasse 
mit Fontaine», humoristische Schaustücke 
wie der unermüdliche Flickschuster und die 
tanzenden Männer, dazu das an jedem 
Mittwochabend reicher und prächtiger aus 
gestattete Luftfeuerwerk sind geeignet, den 
Besuch der Ausstellung nach wie vor zu 
einem überaus lohnenden zu machen. 
Hinweisen wollen wir bei dieser Gelegen- 
„Nun, thue was Dir gut dünkt; ich habe Dir nur 
angedeutet, was ich an Deiner Stelle thun würde. 
Wenn ich mich für Aurora interessiere, so geschieht es 
um Deinetwillen; doch wozu uns streiten, sobald Du, 
ein Lebemann der Pariser Salons, plötzlich die Be 
denken eines Tugeudhelden hegst, können wir uns nicht 
verstehen." 14 
„Du bist herbe, lieber Freund. Ich habe mir schon 
selbst gesagt, daß Aurora nicht in Belvedere eingekerkert 
bleiben kann, aber sie dem Vater entführen ..." 
„Und ist es nicht gewissenlos, sie in dieser Weise 
verkommen zu lassen." 
„Ich sehe leider ein, daß Du im Rechte bist.* 
„Nun denn, laß uns handeln." 
Befriedigung leuchtete aus den Augen des Grafen. 
„Man könnte sie ja in einem Haufe unterbringen, 
wo idr jedwede Pflege zugewendet würde, und nach 
Jahresfrist..." 
„Lieber Freund, das ist ja Deine Sache; was Du 
weiter mit ihr thust, geht mich nichts an," lachte der 
Graf sardonisch. 
„Die Kleine weiß absolut gar nichts vom Leben, 
ihre Erziehung muß erst vervollständigt werden." 
„In acbt Tagen muß Deine Angebetete ihrem Ge 
fängnis entflogen sein." 
„Aber wie das anstellen?" 
„Die einfachsten Mittel sind immer die geratsam- 
sten: Du wirst ihr schreiben." 
„Aber wie soll ich den Brief in ihre Hände gelan 
gen lassen?" 
„Nichts ist einfacher: sie ist oftmals allein im Gar-, 
ten, Tu kennst die Stellen, an welchen sie sich gewöhn 
lich auszuhalten pflegt, und kletterst über die Mauer; 
sic sieht Dich. Du legst Schweigen gebietend den Fin 
ger auf den Mund und wirfst ihr den Brief zu!" 
„Und wenn nun der Vater den Brief sieht?" 
„Mein Freund, mau sieht, daß Da die Frauen im 
allgemeinen nicht kennst, selbst die unschuldigsten werden 
schlau, sobald die Liebe dabei im Spiel ist. Wenn Au 
rora Deinen Brief nicht vernichtet, sobald sie ihn ge 
lesen, wird sie doch Mittel finden, ihn den Blicken ihres 
Vaters und der Stummen zu entziehen. In diesem 
Briefe aber wirst Du ihr sagen, zu welcher Stünde sie 
die Gartenpforte öffnen müsse." 
„Und wenn sie nun nicht kommt?" 
„Sie liebt Dich, sie wird kommen; wir werden eine 
Nachtstunde wählen, um kein Aufsehen zu erregen; ein 
mit vier kräftigeuPferden bespannierWagen muß unserer 
in der Nähe harren. Es dürfte aber klug sein, lieber 
Adrian, wenn wir schon heute Champigneule verlassen 
und nach Circourt zurückkehren; übermorgen fahren wir 
dann nach Paris, um dort alle nötigen Vorkehrungen 
zu treffen. Es ist Mitternacht, gehen wir zu Bette!" 
Noch ein Händedruck und die beiden Freunde trenn 
ten sich für die Nacht. 
14. 
Wir gehen dent Herbst entgegen; die schönen Tage 
werden immer seltener; der Nachtfrost hat die Schmet 
terlinge schon aus dem Garten vertrieben, die Blätter 
fallen zur Erde, die Blumen welken dahin. 
Aurora sitzt auf einer Gartenbauk, ihr Vater steht in 
einiger Entferuung und spricht mit dem Freunde, welchen 
ernachBelvedere gebracht. DeralteHerrhattebefürchtet, 
daß die Gesundheit seiner Tochter ernstlich angegriffen 
sei, aber nach einem Tag der Unruhe haben seine Sor 
gen sich als gänzlich unbegründet eriviesen. 
Traurig ist das junge Mädchen aber doch, das läßt 
sich nicht in Abrede stellen; regungslos, das Haupt tief 
aus die Brust geneigt, die Hände gefaltet, so sitzt sie, 
träumerisch vor sich hinstarrend. Von Zeit zu Zeit hebt 
sie den Blick empor, blickt de» Vater an und ein mattes 
Lächeln umspielt daun wohl ihre Lippen. Neben ihr auf 
der Bank lieg! ein Album mit verschiedenen Ansichten, 
sie denkt aber gar nicht daran, dasselbe anzublicken. 
Wie bereits bemerkt, befinden sich ihr Vater 
und der Fremde in äußerst lebhaftem Gespräch. Der 
Vater hatte eben gesprochen. Er schien sehr erregt, da 
von legie der rasche Atem Zeugnis ab. Große Schweiß 
tropfen perlten auf seiner Stirne, feine Augen blitzten, 
der Ansdruck derselben war düster 
Sein Zuhörer schien ebenfalls tiefbewegt. Thränen 
perlten langsam über seine Wangen nieder; konvulsi 
visches Zucken durchbebte seinen Körper. „Entsetzlich," 
murmelte er. 
Der Vater fuhr fort: „Deinetwegen, lieber Wil 
helm, habe ich die Asche der Vergangenheit wieder auf 
gewühlt, habe ich die Wunden meiner Seele bloß ge 
legt. Ich konnte, ich durfte meinem einzigen, meinem 
besten Freunde nichts vorenthalten." 
„Ich danke Dir, Paul! Ja, ich bin Deines Ver 
trauens wert, und Du hast wohl daran gethan, mir 
Dein Unglück nicht zu verbergen." 
„Die Jahre sind dahin geschwunden, ich bin alt und 
grau geworden, aber der Schmerz ist immer gleich ge 
blieben. Ich habe gelitten, entsetzlich gelitten. Zum 
Glück hatte meine Tochter . . 
„Ja, Deine Tochter, Deine Lticie," unterbrach ihn 
Wilhelm vvn Otten, „laß uns von ihr sprechen!" 
„Für sie habe ich gelebt! Sie ist lange Jahre hin 
durch krank gewesen, ich verzweifelte daran, sie jemals 
genesen zu sehen. Aber Gott war barmherzig, er ließ 
mir mein Kind." 
Otten warf einen mitleidigen Blick auf das junge 
Mädchen, dann-wandte er sich an den Freund. „In 
wessen Obhut gabst Du das Kind, als Du es Deiner 
pflichtvergessenen Gattin genommen?" 
„In dem Jahre vor meiner Ehe hatte ich, Italien 
durchstreifend, mich einige Wochen in dem Fischerdorfe 
Livardia aufgehalten; der schlichte Fischer, bei welchem 
ich wohnte, war einem braven Weibe vermählt, er hatte 
ein Kind, beweinte aber den Tod eines kleinen sechs 
jährigen Mädchens, das er kurz vor nieiner Ankunft 
verloren. Es waren brave, einfache Leute, die kein an 
deres Streben kannten, als sich rechtschaffen durch's 
Leben zu schlagen. Ich fühlte mich wohl in ihrer Mitte, 
man überhäufte mich mit Aufmerksanikeit. und als ich 
sie verließ, mußte ich ihnen versprechen, bei einem spä 
teren Aufenthalt in Italien sie wieder zu besuchen. 
Jener braven Leute entsann ich niich nun, ihnen wollte 
ich meine kleine Lucie anvertrauen, wenigstens während 
der ersten Jahre ihres zartesten Kindesalters. Am 
frühen Morgen machte ich mich somit auf den Weg nach 
Livardia. Die Fischersleute freuten sich unbeschreiblich 
des Wiedersehens, sie waren außer sich vor Glück, als 
ich ihnen sagte, das kleine Mädchen, welches mich be 
gleite, sei mein Töchterlein, das ihrer Obhut anvertraut 
werden solle. „Ich werde sie lieben, wie ich meine kleine 
Carlotta geliebt, die jetzt bei den En«ln weilt," ver 
sicherte mir die brave Padrona. Ich «vergab dem Ehe 
paar einen Betrag, welcher längere Zeit reichlich für 
die Bedürfuiffe meiner Kleinen auslangen mußte, und 
blieb selbst vierzehn Tage in Livardia. Doch trotzdem 
ich den ganzen Tag über mich an der Liebenswürdigkeit 
meiner kleinen Lucie erfreute, wollten die traurigen Ge-^ 
danken, ioelche mich unausgesetzt beschäftigten, nidjt’ 
weichen; überdies fragte das Kind beständig nach der 
Mutter und es war dies eine Qual, welche auf di«' 
Dauer zu ertragen ich mich unfähig fühlte. Ich mußte 
ankämpfen gegen das Leid, welches mich zu verzehren 
drohte, ich mußte mich gewaltsam aufrütteln, mich zer 
streuen, um andere Gedanken in meiner Seele wachzu 
rufen; dazu war das beste Mittel, unausgesetzt zu reisen. 
Ich that es. Während der drei Jahre, welche meine 
Tochter in Livardia verblieb, durchwanderte ich mehr«« 
Male ganz Europa, Frankreich ausgenommen. 
Natürlich kehrte ich oft nach Livardia zurück; dank 
der sorgfältigen Pflege, welche man ihr widmete, stärkte 
Lucies Gesundheit sich merklich, das Kind wuchs heran 
und entwickelte sich körperlich in geradezu erstaunlicher 
Weise. Hatte ichmichauihremWohlergehen, anihrcrZärt- 
lichkeit mehrere Tage laug geweidet, so ergriff ich den 
Waiiderstab von neuem, ich fühlte mich wohl, aber mein 
Wille war nicht stark genug, die dunklen Bilder zu ban 
nen, welche mich Dämonen gleich verfolgten." 
„Sie quälen Dich heute noch," bemerkte van Otten 
traurig. 
„Ja, aber jetzt bietet das Glück, welches mir meine 
Tochter gewährt, reichliche Entschädigung; wenn ich sie 
ansehe, wenn ich khr zuhöre, wenn ich ihr Lächeln ge 
wahre, bin ich glücklich." 
(Fortsetzung folgt.) 37.16* 
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