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Iìàburger
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Dienstag, den 24. December:
1895
Des Weihnachtsfestes
wegen erscheint die nächste
Nummer des Wochenblattes
erst am Freitag-Abend. “Ü
Die Expedition.
Weihnachten!
Weihnachtsfest, du Engelsbote
Aus des Himmels gold'nem Zelt —
Frieden bring' auf deinen Schwingen
In die sturmdurchwühlte Welt,
Trag' ihn weithin durch die Lande,
Friede kund' in jedem Haus,
Lösche du mit mildem Hauche
Aller Zwietracht Fackel aus!
Laß dafür dann voll erglänzen
Ueberall der Liebe Stern,
Daß in seinem Rosenscheine
Er uns grüße nah' wie fern —
Mög' von Herz zu Herzen führen
Seine helle Strahlenspur,
Mög' verheißungsvoll er leuchten
Selbst auf kahlster Winterflur!
Fest des Friedens, Fest der Liebe,
Sei willkommen für und für —
Male du dein Flammenzeichen
Wohl auf jedes Hauses Thür —
Ziehe ein in alle Herzen,
Spende Freude Groß wie Klein —
Weithin dring' auf Erdenrunde
Nun dein hehrer Gnndenschein!
Zinn SBtiļntmļjtôfejtt.
Sei gegrüßt, du liedumklungene, gnaden
bringende segensvolle Weihnacht! Wieder
ist sie gekommen, die Zeit des kindlichen
Harrens und Höffens, die Zeit der spen
denden und beglückenden Liebe! Wiederum
erwachen in bett Häusern, wo christliche
Sitte noch eine Heimstatt hat, die alten
köstlichen Lieder von der fröhlichen, seligen
Zeit, von der stillen heiligen Nacht! Wie
der rüsten sich alle in kalter, lichtloser
Zeit, das Fest der warmen, leuchtenden
Liebe recht zu rüsten. Von ferne schimmert
durch die schwarzen Winterwolken der erste
kündende Glanz des Sternes von Bethle-
hem, und vom Spätherbststurme getragen,
schallen die ersten Klänge der Weihnachts-
glücken ins Ohr.
! Als die Zeit erfüllet war, sandte
Gott seinen Sohn! Die Völker harrten
des Erlösers, — die einen, weil sie ahnten,
daß es so nicht weitergehen könne, daß
etwas Großes, Neues kommen müsse, die
andern, weil in den Weissagungen der
Propheten das Kommen des Heilands
ihnen verkündet war. Sie harrten des
Herrn. Wer die ganze Weltgeschichte von
höherer Warte betrachtet, wer nicht au'
der Oberfläche haftet, sondern tiefer in
den Zusammenhang der Dinge einzudrin-
gen versteht; der erkennt, daß die ganze
Geschichte vor Christo eine Vorbereitung
des Heiles ist, daß alle Ereignisse und
alle Entwickelungen nach einem Ziele zu
sich vollzogen. Die alte Geschichte ist nichts
anderes als eine Geschichte des Suchens
nach dem Bethlehemsterne, des Sehnens
nach dem Advent. Das Alterthum hatte
sich abgelebt und ausgelebt. Alle, die ge
waltigen Fähigkeiten, die den Völkern des
Alterthums verliehen waren, die uns Nach-
geborene heute noch entzücken, hatten sich
unfähig erwiesen, die Völker zu heben und
zu halten, zu retten und zu wahren.
Bildung und Wissen allein sind nicht die be
glückenden Elemente. Das gebildete Griechen-
thum, das im glänzenden Scheine der
Kunst sich sonnte, das an Wissen erreicht
zu haben schien, was zu erreichen war,
verkam innerlich, verfaulte. Das Römer
thum, das die Blüthe der Volkskraft in
sich darzustellen schien, das die Erdenschätze
nach einem Mittelpunkte zusammengetragen
hatte, das an Machtfülle wie ein Wunder
unter den Völkern stand, war zerklüftet
und zerrissen, ein Koloß auf thöneruen
Füßen. Und alle die andern Völker, die
wohl eine Spanne Zeit führend und ge
staltend gewesen waren, hatten sich ausge
lebt, abgelebt. Es mußte etwas Neues
kommen! die Zeit war erfüllet! Man
erwartete das Große, das Nene entweder
von dem mächtigen Kaiserthume in Rom,
dessen strahlende Legionen den Ruhm des
römischen Namens in die Welt trugen,
oder von einer neuen Kunst, von einer
bisher unbekannten Wissenschaft. Auch da
mals glaubten Bildung und Besitz
einzig berufen zu sein, der Welt die
Richtung anzugeben, die Entwickelung zu
bestimmen. Aber es kam anders, als man
erwartete. Nicht über dem Palaste in Rom,
ondern über dem Stalle in Bethle hem
erschien der Stern, nicht aus dem bildungs
übersatten Kreise der Gelehrten in Alex
andria und Athen, sondern aus dem dürf
tigen, bildungslosen Nazareth kam der,
der ein Heiland werden sollte für alle.
Auch die Geschichte nach Christi Geburt
ist für den tiefer Forschenden nur eine
Entwicklung zu einem bestimmten Ziele
hin. Mögen die einen in der Folge der
Ereignisse nur ein zusammenhangloses
Spiel des Zufalls sehen, mögen die andern
behaupten, daß die Geschichte in Wellen
linien sich bewege, mögen noch andere all
das, was die Menschen und Völker thun
und schaffen, lediglich unter dem Gesichts
winkel des Hungers und der Liebe be
trachten; wir wissen, daß die Geschichte
nichts ist als d i e A n b a h n u n g des
Reiches Gottes auf Erden. Mag
der Wirrwarr der Ereignisse uns zunächst
verblüffen und unfaßbar erscheinen: je
höher wir uns über die Dinge erheben,
und je tiefer wir sie durchforschen, um so
klarer empfinden wir, daß alles seinen be
stimmten Platz hat in der Entwicklung
zum Heile hin, daß alles sich einfügen
muß in den großen Heilsplan des Welten-
meisters, der die Geschichte macht. Wenn
auch hin und wieder die Bewegung
rückläufig erscheint, wenn es fast den An
schein gewinnt, als entfernten wir uns
von dem letzten Ziele: es ist nur Schein,
und die scheinbaren Umwege und Neben
wege, ja die scheinbaren Rückwege führen
doch zum Ziele. Ob die Menschen dieser
Tage sich dieses Ziels und ihrer Stellung
dazu bewußt sind, das bleibt sich für die
Wirkung und für die Entwicklung gleich;
denn Menschen machen die Geschichte nicht.
Trotzdem ist es für eine gesunde Vorwärts
bewegung von großem Vortheil, wenn
jeder sich der Stellung bewußt ist, die er
in ihr einnimmt. Daher muß das Volk
immer und immer wieder daran erinnert
werden, daß die Tagesrämpfe und die
Tagessorgen nicht zusammenhanglos dastehen,
wndern daß sie ihren bestimmten Plan
haben in der ganzen geschichtlichen Ent
wicklung nach dem letzten Ziele hin. Je
mehr im Volke die Kenntniß dieses Zieles
und das Verständniß für die Anordnung
der Einzelheiten in die Gesammtrichtung
ichwindet, um so zielloser und um so halt
loser wird es.
Wir wissen, daß auch unsere Arbeit am
Volke nicht für heute und morgen gethan
wird, sondern daß auch sie ihren Stein
mit beiträgt zum Dombaue unseres Volks,
daß auch sie, mag sie noch so geringfügig
ein und äußerlich erscheinen, das Ziel des
Reiches Gottes auf Erden mit erreichen
hilft. Wenn wir für die Gesundung
unseres Wirthschaftslebens kämpfen und
scharf kämpfen müssen, wenn wir immer
wieder unsere mahnenden und warnenden
Worte gegen den Götzen der Zeit und
gegen die Sünden der Zeit richten: so
bleiben wir uns immer dessen bewußt, daß
dieser Kampf nicht Selbstzweck ist, sondern
Mittel zum Zweck, so lassen wir immer
durchblicken, das wir das, wofür wir
kämpfen, nicht um seiner selbst willen er
reichen wollen, sondern weil wir über
zeugt sind, daß damit ein Schritt gethan
wird zum letzten großen Ziele hin.
Der ganze wirthschaftspolitische Kampf,
in dem wir stehen, würde uns bald müde
und matt machen, wenn tvir nicht wüßten,
daß der eigentliche Kampfpreis weit höher
ist, als die Menge ahnt, als die Kampfes-
weise vermuthen läßt. Wer im Alltags-
kampfe ganz aufgeht, wer nicht über die
Nächstliegenden Dinge zu dem ewigen Ziele
hinaufzuschauen vermag, der wird starr
und stumpf, der versumpft und verknöchert
Wer aber immer sich vor Augen hält,
daß die kleine Arbeit des Tags eingeordnet
ist in das große Gefüge der gesammten
Entwickelung zum kommenden 'großen Ziel,
der hat Muth und Mark, Hort und Halt
Die Zeit ist erfüllt!
Das sind unsere Weihnachtsgedanken,
ie damals die Völker harrten
des Heilands, so harren heute die
Völker, — mögen sie's erkennen oder
anders nennen, mögen sie's nur ahnen oder
gar leugnen, — des Reiches Gottes, des
ewigen Advents. Die Zeit, da der Stern
Bethlehems aufging, war trübe, eine Zeit
des Niedergangs, eine Zeit der Wirrniß.
Auch unsere Zeit scheint sich abwärts zu
bewegen, ist friedlos und kampfesvoll. Wie
damals will etwas Neues werden; wie
damals sehnen sich die Völker hinaus aus
dem abgelebten Getriebe des Tags, hinauf
zu reineren Höhen. Bildung und Be-
itz retteten damals nicht, werden
uns auch heute nicht retten. Damals wie
heute rettete allein der Stern von Bethlehem,
das Gotteskind von Nazareth, das Kreuz
von Golgatha. Auch wir harren des
letzten Advents!
MsLgK«-Dspe?chen.
Greifswald, 23. Dec. In dem Eisen
bahnzuge Stralsund-Berlin brannte zwischen
Züssow und Auklam ein Wagen, in wel
chem sich rund 800 Postpackete befanden,
vollständig aus. Der in dem Wagen an
wesende Beamte rettete sich, indem er in
voller Fahrt aus dem Wagen sprang. Er
wurde leicht verletzt. Unter den Brand-
resten wurden 400 Mark baares Geld,
Gold- und Silbersachen gefunden.
Leipzig, 23. Dec. Die Frau eines in
der Plagwitzerstraße wohnhaften General
agenten stürzte ihre drei Kinder und
dann sich selbst aus ihrer zwei Stock
hoch belegenen Wohnung auf die Straße
hinaus. Ein Kind ist todt, die zwei
anderen sind schwer verletzt, ebenso die
Mutter. Die That wurde vermuthlich in
einem Anfall von Wahnsinn vollbracht.
Leipzig, 23. Dec. Wie das „Leipzig.
Tagebl." meldet, hat Reichsgerichtsrath
Dr. S t e n g l e i n gegen den verantwort
lichen Redacteur des „Ulk" ^Strafantrag
wegen Verleumdung gestellt. Der „Ulk"
hatte die beleidigenden Angriffe wiederholt,
die der Abgeordnete Bebel im Reichstage
gegen Dr. Stenglein gerichtet hatte.
Köln, 23. Dec. Die Leiche des Kardinals
Melchers traf heute Mittag 1,35 Uhr auf
dem hiesigen Centralbahnhof ein und wurde
unter starkem Andränge des Publikums
nach der Krypta in der Gereonskirche
überführt. An dem Trauerzuge betheiligte
sich die hiesige Geistlichkeit sehr zahlreich,
darunter der Dompropst, zwei Bischöfe und
das gesammte Domkapitel. Bis Freitag
verbleibt die Leiche in der Gereonskirche,
von wo aus dann die feierliche Ueberführung
nach dem Dom erfolgt.
Frankfurt a. M, 23. Dec. Im Neu
bau der Frankfurter Societätsdruckerei
wurde der Chefmonteur des städtischen
Elektricitätswerkes Walter Sommer, ein
Schweizer, infolge eiger Unvorsichtigkeit
durch den hochgespannten Strom von
dreitausend Volt getödtet.
Zweibrückcn, 23. Dec. Ein 13jähriger
V o l k s s ch ü l e r hatte in seiner Schul
klasse Tintenklekse auf dem Boden
gemacht. Während der Pause machten die
Kameraden ihn auf die bevorstehende Strafe
aufmerksam. Aus Furcht vor der Strafe
suchte und fand der arme Junge den Tod
im Schwarzbach.
Southampton, 24. Dec. Der Norddeutsche
Lloydampfer „Spree" kam hier unter
eigenem Dampf und mit Hülfe von Bug-
irdampfern an. Die Osficiere glauben,
daß die „Spree" unbeschädigt sei.
Bremen, 24. Dec. Dem „Norddeutschen
Lloyd" ging soeben vom Kaiser folgendes
Telegramm zu: „Anläßlich der erfreulichen
Nachricht von dem Flott werden der
„Spree" übersende Ich dem Norddeutschen
Lloyd Meine besten Glückwünsche. Wilhelm."
2) Eine sot Idee?
Von Martin Böttcher.
Der Alte hatte cs nicht bemerkt. Er
war ja immer so sehr in Anspruch ge
nommen von seinen eigenen materiellen An
gelegenheiten und Interessen. — Er war
auch nicht zornig geworden, als der Pflcge-
sohn ihm endlich durch die freimüthige Er
klärung, daß er seine Tochter liebe, die
Augen geöffnet. — Zornig? — Eine
Rechenmaschiene wird nie zornig; eine aus
gedörrte Seele weiß nichts von starken
Affekten. — Aber sein Staunen war
grenzenlos gewesen. — „Kupfer für Gold
— einen Pfennig für einen Dukaten —
— ist das ein Geschäft!" hatte er gesagt
und die Worte waren von einem Blick be
gleitet gewesen, der den kühnen Werber
vom Scheitel bis zur Sohle gestreift hatte.
— Die geschäftsmäßige Antwort hatte den
selben jedoch keineswegs verwirrt oder ein
geschüchtert; denn sie war nicht unerwartet
gekommen. Er hatte ja nur die unzwei-
ş deutige Bestätigung der lang gehegten Be
fürchtung erhalten: daß es nur einen Weg
oder Umweg gebe, auf welchem es ihm
möglich wäre, das so heiß ersehnte Ziel
endlich zu erreichen — den Weg zum Reich
thum. Daher hatte auch er, obwohl wider
strebend und mit schwerem Herzen, die
Sache geschäftsmäßig aufgefaßt. — „Wenn
sich das Kupfer mit edlem Metalle ver
bindet, wenn der Heller als Goldmünze
wiederkommt, wenn auch vielleicht nur als
eine der kleineren . . . .?" hatte er ge
fragt. — „Eine Goldmünze ist immer
willkommen, und eine, von der man weiß,
daß sie ursprünglich aus Kupfer war, aber
aus einer Sorte Kupfer, welche die Kunst
verstand, sich mit edlem Metalle zu ver
binden, ist es in doppeltem Maße, selbst
wenn sie zu den kleineren gehören sollte!"
war mit einem Lächeln geantwortet worden,
das freilich viel ungläubigen Spott aus
drückte, ,abcr auch eine gewisse merkantilische
Werthschätzung verrieth. Der reiche Kauf
herr war ja selbst eine Scheidemünze mit
der angedeuteten Eigenschaft gewesen.
Hier hätte es mit der Verwandlung des
Kupfers in Gold zu lange gedauert, und
aus diesem Grunde war der junge Kauf
mann nach der neuen Welt gezogen, wo
sich eine derartige Metamorphose ja viel
schneller vollziehen sollte. Dieser und jener
— man kannte Beispiele genug! — war
drüben in verhältnißmäßig kurzer Zeit ein
kleiner Krösus geworden. Ein so hohes
Ziel brauchte er ja glücklicher Weise nicht
zu erstreben. Warum sollte es ihm nicht
gelingen, ein Ziel zu erreichen, das weit
bescheidener war?! — Warum nicht? —
Er reiste ja nicht aufs Gcrathewohl; er
hatte Beziehungen drüben. — „Ein mer-
kantilischcs Genie" hatte man ihn so oft
genannt, daß er schließlich selbst glauben
nmßte, cs zu sein; die englische Sprache
beherrschte er vollkommen, die spanische so
ungefähr. Wollte es also in Nordamerika
nicht schnell genug vorwärts gehen, so konnte
man cs in Südamerika versuchen. — Ja,
cs mußte gelingen! — Zeit würde cs
freilich erfordern, hier wie dort; aber sic
würde ihm treu bleiben — und etwas
Glück mußte man auch haben; aber
aber er war jung, und die Jugend glaubt
ans Glück.
Mit der besten Hoffnung war er fort
gezogen, und das Beste hoffend hatte sie
ihn ziehen lassen.
Aber nun saß sie daheim im reichen Hause
und barg ihr verweintes Antlitz in dem
weichen, fühllosen Polster. — Eine mit
fühlende Brust, an der sie sich hätte lehnen
können, kannte sie nicht.
Und die Zeit schritt vorwärts. Es ward
Abend am Tage nach der Trennung, und es
wurde Morgen und wieder Abend, und die
Tage reihten sich aneinander und wurden
Wochen. — Die Zeit schritt vorwärts mit
ewig sich gleichbleibenden taktfesten Schritten.
Warum stellt die Kunst sie dar als eine
beflügelte Gestalt auf schnell rollendem Rade?
— Der Urheber dieser Allegorie muß sicher
ein sehr glücklicher Mensch gewesen sein. —
Hätte er eine schwere Sorge tragen müssen,
wäre er von einer großen, unerfüllbaren
Sehnsucht belastet gewesen — er hätte eher
die Schnecke mit dem Haus auf dem Rückeu
als ihr Symbol gewählt. Auch sie kommt
vorwärts, aber langsam, langsam!
Langsam, langsam hatte sich die Zeit vor
wärts geschlichen seit dem Tage der Trennung;
aber vorwärts war sie gekommen: Es lagen
schon viele Wochen zwischen damals und
jetzt. — Warum erschien der Brief noch
immer nicht?
Lange hatte sie täglich auf der Post nach
demselben gefragt; aber der Postbeamte hatte
jedesmal gleichgültig den Kopf geschüttelt.
Nun schüttelte er den Kopf, ehe sic fragte,
nicht gleichgültig, aber verdrießlich.
„Sollte er verloren gegangen sein oder
das Ziel verfehlt haben?" — So fragte das
geängstigte Herz wohl tausendmal, und der
Verstand, welcher gern der Antwort vorbeugen
wollte, die cs selber im Begriffe stand, zu
geben, antwortete cbm so oft: „Es ist ja
so leicht!" Und als ob erfühlte, daß er kein
Vertrauen verdiene, führte er eine Menge von
Gründen an.
Und die Wochen reihten sich an einander
und wurden Monate, und der Postbeamte
schüttelte noch imnier den Kopf, wenn sie sich
auf der Schwelle des Bureaus zeigte, aber
nicht mehr gleichgültig oder verdrießlich. Er
hatte mehrmals Gelegenheit gehabt, die
Wirkung wahrzunehmen, welche sein Kopf
schütteln hervorbrachte! Die eine Hand der
Fragenden hatte mitunter, wenn die Gemüths
bewegung durch die immer wiederkehrende
Täuschung zu gewaltsam wurde, krampfhaft
den Thürgriff umklammert, während die
andere das Herz gesucht hatte.
„Der Brief, welcher die Ankunft hätte
melden sollen, muß verloren gegangen sein,
und der nächste kommt nicht, eher er die
freudige Nachricht bringen kann, daß die
Spur des Glücks endlich entdeckt worden ist,"
antwortete der Verstand jetzt, so oft das
geängstigte Herz fragte: „Warum — warum
kommt er nicht?"
Aber nun wurde seine Antwort kaum be
achtet ; der Gegenstand des Herzens vermochte
sic nicht mehr zu übertäuben.
Eines Tages, als sich das junge Mädchen
nach einer wie gewöhnlich fruchtlosen Anfrage
auf dem Heimwege vom Posthause befand,
kam der Sturm, der wieder sein Unwesen
trieb in der Lindenallee, mit Andeutungen.
Er war ja vorher schon so oft mit unbarm
herzigen Anspielungen gekommen; aber so
unbarmherzig deutlich wie heute hatte er sich
doch noch nie ausgedrückt: „Hi-hi-hi . . .
i-i! . . . Wir haben mit den Schiffen ge
tanzt, wir, die Winde und die Wellen! —
Hi-hi-hi . . . i-i! . . . E i n Schiff tanzt
nie mehr mit, nie, nie!" — —
Klopfenden Herzens eilte sie nach Hause,
und mit zitternder Hand durchsuchte sie die
Zeitungsmappc im Zimmer des Vaters. —
Daß sic nie früher daran gedacht hatte! —
Aber sie war so unbekannt mit den Dingen
und Verhältnissen des Praktischen Lebens! —
Die Zeitungen mußten ja Schiffsnachrichten
bringen, und wenn sie von einem größeren
Unglück auf der See nichts zu berichten
hatten, dann durfte sie wieder — hoffen. —
— Hier waren schon „Schiffsnachrichten"
— die Buchstaben schienen zu tanzen —:
„Gothia", vorgestern in St. Thomas an
gekommen; . . . „Bahia" .... „Theben"
. . . . „Polynesia" . . . ." Nein, nein, —
nicht hier! „Fortuna" war der Name des
Schiffes, das ihr Glück getragen. — Sie
blätterte weiter in den Zeitungen.
Hier, hier stand es: „Fortunas" — —
Untergang." —
Der Vater, welcher heute zu ungewöhnlicher
Zeit vom Kontor zurückgekehrt und eben in
das anstoßende Zimmtr getreten war, hörte
einen langgezogenen, verhallenden Schrei und
einen dumpfen Fall. Als er hinzueilte, fand
er seine Tochter in todtähnlicher Ohnmacht
auf dem Teppich liegen. Ihre krampfhaft
zusammengeballte Hand wollte das Zeitungs
blatt mit der verhängnißvollen Nachricht nicht
loslassen.
(Fortsetzung folgt.)