Full text: Newspaper volume (1895, Bd. 2)

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-s°> 88ster Jahrgang.«- 
WonLcrg, den 2. December 
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1895 
Morgen-Depescheu 
Berlin, 2. Dez. Tic „Berl. Korr/' 
schreibt ^ Der Minister des Innern v. Koller 
hat. mit dem Professor Delbrück eine 
persönliche Aussprache gehabt und sich da 
bei überzeugt, daß dieser in der bekannten 
Korrespondenz der „PreußischenJahrbücher" 
eine Beleidigung der Polizei nicht be 
absichtigt hat. Infolgedessen ist der Straf- 
anlrag zurückgezogen worden. 
Berlin, 2. Dez. Der „Vorwärts" will 
uns sehr guter Quelle erfahren haben, daß 
die Stellung des Ministers v. Koller trotz 
aller Dementis sehr erschüttert sei. 
Berlin, 2. Dez. Der „Vorwärts" vew 
öffentlickst heute an der Spitze des Blattes 
einen Aufruf des nunmehr aufgelösten 
Vorstandes der sozialdemokratischen Partei 
Deutschlands an die Parteigenossen, worin 
die Matznahme der Polizei und das dies- 
bezügliche Schreiben des Polizeipräsidenten 
von Berlin an den Reichstagsabg. Singer 
zur Kenntniß gebracht und ferner mit 
getheilt wird, daß die Leitung der Partei 
bis auf Weiteres auf die sozialdemokratische 
Reichstagsfraktion, als die erwählte Ver 
tretung der Partei, übergeht. 
Zufolge der Schließung der sozial 
demokratischen Vereine sind nicht nur, wie 
ursprünglich verlautete, die sozialdemokrati 
schen Wahlvcreine ausgelöst, sondern die 
ganze Parteiorganisation ist lahm 
gelegt worden. Auch der Parteivorstand 
der sozialdemokratischen Partei Deutschlands 
ist als Verein angesehen worden. Der 
Parteivorstand der sozialdemokratischen 
Partei Deutschlands besteht aus fünf be 
! oldelen und sieben unbesoldeten Mit 
gliedern. Erstere sind die Vorsitzenden 
Bebel und Singer, die Parteisekretäre 
Auer und Pfannkuch und der Kassirer 
und der Archivar Gerlsch; letztere sind die 
sieben Kontroleure. Auch die Organisation 
der Vertrauensmänner wird als ein be 
sonderer Verein bezeichnet, der mit dem 
Hauptvorstand Verbindungen unterhält. 
Die Berliner Preßkommission besteht aus 
12 Personen. Die Lokatkommission hat 
für die Versammlungssäle und für den 
Nichtbesuch gesperrter Lokale zu sorgen, 
^-re sozialdemokratische Parteikasse soll 
nach der „Magdeb. Ztg." bereits nach 
Zurich gebracht sein, wo auch verschiedene 
Parteiführer, darunter Bebel, anwesend 
min sollen. Die Auslegung des Bereins- 
gesetzes, auf der das Vorgehen des Polizei 
präsidenten beruht, ist von größter 
Tragweite für das politische Ver 
einswesen überhaupt. 
Berlin, 2. Dez. Der frühere Redakteur 
des „Vorwärts", Joseph Dierl, wurde 
heute vor der zweiten Strafkammer des 
Landgerichts I unter dem Vorsitz des 
Landgerichtsdirektors Brausewetter wegen 
Beleidigung durch die Presse zu einem 
Monat Gefängniß verurtheilt. Landgerichts 
direktor Brausewetter kennzeichnete in der 
Urtheilsverkündigung den „Vorwärts" als 
ein Blatt, welches sich zwecks Agitation 
zu Beschimpfungen und Verleumdungen 
von Beamten hinreißen lasse, um das Volk 
aufzuregen und zu Gewalt gegen die Be 
sitzenden aufzureizen. Mit Rücksicht auf 
das Gebühren des „Vorwärts" sei nicht 
auf Geld-, sondern auf Gefängnißstrafe er 
kannt worden. Der Staatsanwalt hatte 
drei Monate beantragt. 
Berlin, 2. Dez. Zu der Meldung der 
Magdeb. Ztg.", daß die sozialdemokratische 
Parteikasse nach Zürich verbracht worden 
sei, erklärt der „Vorwärts", dieselbe sei 
längst in Sicherheit. 
Konstantinopel, 2. Dez. Die Thatsache 
daß die Rnssenpartei im Palast voll- 
iänbtg die Ueberhand gewonnen hat, hat 
in diplomatischen Kreisen Beunruhignng 
hervorgerufen, da man Komplikationen mit 
England befürchtet. Biele russische Würden- 
träger haben hohe russische Auszeichnungen 
erhalten. 
Konstantinopcl, 2. Dez. Einem Privat- 
briefc, . der einen Einblick in die Berh ält 
niste iin Palaste gestattet, entnimmt der 
„Pester Lloyd" Folgendes: „Der erste 
Eindruck dcr Rede Salisburys, des 
gekündigten Erscheinens der europäischen 
Flotte und der ernsten Vorstellungen des 
deutschen Botschafters Saurma war zweifellos 
ein sehr tiefgehender. In der Umgebung 
des Sultans herrschte starke Bestürzung. Da 
aber all den drohenden Worten keine Thaten 
folgten, so hat sich der erste Eindruck nach 
und nach verflüchtet und heute kann man 
wohl sagen, daß weder der Sultan, noch 
dessen Umgebung vor Europa mehr irgend 
welchen Schrecken empfinden. Ein hoher 
Würdenträger soll dieser Empfindung 
„ . — . r , y m 
den Worten Ausdruck gegeben haben: „Die 
Mächte haben mehr Angst als 
wir; ich hoffe, wir werden auch 
diesmal mit ihnen fertig 
werden." — Uns scheint, daß diese an 
gebliche Aeußerung die Situation am gol 
denen Horn am richtigsten und der Wahr 
heit entsprechend beleuchtet. 
New-Iork, 2. Dez. In der Grube 
„Komet" fand gestern eine Erdrutschung 
statt, infolge deren 13 Personen getödtel 
wurden. 
Muslmrd. 
Auherenrvpäische Gebiete 
Havanna, 30. Novbr. Die A u f st ä n 
dischen sprengten mit einer Höllenmaschine 
einen Militär-Eisenbahnzng auf dem Wege 
von Nuevitas nach Puerto Principe in die 
Luft. Drei Personen wurden getödtet und 
acht verwundet. 
Türkei. 
Konstantinopel, 30. Nov. Große 
Noth herrscht unter den nach Wan Ge 
flüchteten, angeblich 14 000 Personen 
ebenso anderwärts in Anatolien. Eine 
Hülfeleistung ist nahezu unmöglich. Der 
armenische Patriarch legte der Pforte ein 
die Zustände schilderndes, eine Hungers 
noth ankündigendes Expose vor und wandte 
sich in gleicher Weise an die Botschafter 
England. 
_ London, 29. Nov. Der Konflikt mit dem 
Sultan wegen der zweiten Wachtschiffe 
erregt hier lebhafte Beunruhigung. In 
gut informirten Kreisen glaubt man, die 
Mächte werden die Schiffe, falls die Er- 
laubniß nicht sofort ertheilt wird, kurzer 
Hand durch die Dardanellen nach Konstan 
tinopel schicken. 
àffìaņd. 
Wie aus Odessa gemeldet wird, sind bei 
dem letzten Unwetter etwa 500 Men 
schen umgekommen, welche theils er 
stören sind. Die Noth ist groß. 
Holland. 
Rotterdam, 28. Nov. Ein geheimniß 
volles Verbrechen ist hier verübt worden 
Der zehnjährige Knabe der Familie Hoog- 
'1 ebei, kam letzte Woche aus der Schule 
nicht nach Hause; alles Forschen nach 
einem Verbleib war vergebens, nur wollten 
einige Leute ihn zuletzt mit einem schlecht 
gekleideten Manne gesehen haben. Heute 
erhielten die Eltern einen anonymen Brief 
mit der Angabe der Stelle, wo der Knabe 
ermordet worden sei. Das lvar in der 
Nähe der Stadt, und in der That sand 
man dort die Leiche des erdrosselten Knaben 
vergraben. Der Brief, der offenbar von 
dem Mörder stammt, enthielt auch noch 
die Mittheilung, daß die That aus Rache 
geschehen sei, sowie die Drohung, daß der 
Mörder im nächsten Juli wieder kommen 
und dann die kleine Schwester des ermordeten 
Knaben umbringen werde. Aus die Er 
greisung des Mörders ist ein Preis von 
1000 Gulden ausgesetzt. 
Dänemark. 
Eine F uchSfalle mit Sel b st schössen 
hatte ein Gutsbesitzer auf Seeland in der 
Nähe seines Hofes aufgestellt, ohne eine 
Warnung beizufügen. Drei junge Mädchen 
kamen am Montag, im Begriff das Hans 
zu betreten, der Fallenschnur zu nahe, der 
Schuß ging ab, lötete die eine der Damen 
sofort und verwundete die beiden anderen 
lebensgefährlich. 
Oesterreich-Ungarn. 
Auch im Budapcster Abgeordneten 
hause kam es, wenn auch aus anderen 
Gründen, zu heftigen Scenen. Bei der 
Besprechung von Wahlmißbräuchen 
rief Baron Andreanszky von der klerikalen 
Opposition, der Minister des Innern kenne 
die Mißbräuche, doch leugne er dies, wo 
rauf Minister Perczel zurückrief: „Unver 
schämter". Nach einer Reihe stürmischer 
Scenen erklärte der Minister, weshalb er 
den beleidigenden Ausdruck gebraucht, für 
den er das Haus um Verzeihung bitte. 
Der Präsident rief Andreanszky und den 
Minister zur Ordnung. — Baron An 
dreanszky hat den Minister gef ordert 
Jrrêļîrrd. 
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MMllsKWll's jpdjfer. 
49) Roman von B. Riedel-Ahrcns. 
ei- a^ unt dìe verabredete Stunde stellte 
chas or Berg sich ein und nachdem er viel 
von Euch und Albrecht erzählt, brachen wir 
gemeinschaftlich nach den Linden zu Schulte 
auf; dort traf Eugen bald Bekannte, die sich 
ihm anschlossen, während ich in GescMclmtt 
Bergs von Bild zu Bild wanderte 
»Sie scheinen sich nicht sehr für Geniülde 
zu uiteressiren, gnädige Frau," äußerte er 
meine^ Zerstreuung bemerkend. 
„Offen gestanden, nein," erwiderte ich, g u 
nieinem Aerger roth werdend unter seinem 
Uesen Blick. „Ich finde, mit wenigen Aus 
nahmen, soviel Häßliches auf diesen viereckigen 
Ausschnitten des alltäglichen Lebens dargestellr, 
aß jede Erhebung, wie sie die Kunst doch 
-» uns bewirken soll, vollständig ausbleibt." 
ş'«j haben so unrecht nicht, Frau Ba- 
“ eigenthümlich diese Anrede aus 
^' " Munde mlch berührt, Rahel). Unsere 
Modernen siiid leider in dem Irrthum be- 
fMgm dw Wahrheit bestehe nur in der 
Darstellung des Häßlichen, sie suchen sie 
allein in dem Niedrigen, Abstoßenden, und 
glauben das einzig wahre Evangelium zu 
verkünden, indem sie es möglichst getreu mit 
Pinsel, Meißel oder Worten zeichnen. Der 
Künstler von heute hat das Ideal verloren, 
und doch ist das Ideal wahrer, als die qe- 
samnite Wirklichkeit, denn es ist das unver- 
Züngliche Moment aller irdischen Dinge, es 
fft ihr Typus, ihr Urgrund, ihre Daseins- 
/rcchtigung, sogleich ihr einfachster Ausdruck. 
,.,ļ.ch Menschen ohne Ideal ist alles verloren, 
1,111 Ģott abhanden gekommen, der 
Berlin, 30. Nov. Auf Befehl des 
Kaisers reisen der „National-Zeitung" zu 
folge am Montag der Compagnieches im 
Alexander-Regiment v. Strantz, Feld 
webel Engelbrecht und drei Grenadiere 
nach Petersburg, um sich dem Zaren mit 
dem neuesten feldmarschmäßigen Gepäck 
vorzustellen. 
- Die Unterredung des Kaisers mit 
den Handwerkervertretern bei dem 
von Herrn Miguel veranstalteten Abendessen 
dauerte drei Viertelstunden und betraf auch 
den Befähigungsnachweis. Der Kaiser ließ 
ich, wie man der „Köln. Bvlksztg." tele- 
graphirt, von den Obermeistern Faster 
(Berlin) und Herzog (Danzig) ausführlich 
über die Wünsche der Handwerkerkreise 
unterrichten. 
— Der dem Bundesrath vorliegende 
Gesetzentwurf über die Abänderung des 
Zuckersteiiergesetz es vom 31. Mai 
1891 wird nicht nur im Namen der Eon- 
ümcntcn bekämpft weil die Verbrauchs 
abgabe bedeutend erhöht werden soll, sondern 
auch im Interesse der großen Fabriken, 
welche in der Contingentirung und der 
Geist, welcher den Sieg über den Stoff 
bedeutet und sein Resultat ist. Was darum 
auch die äußerlichen, weltlichen Genüsse einem 
renkenden Menschen bieten mögen, er muß 
doch früher oder später dahin gelangen, zu 
erkennen — daß jene Freuden sein Inneres 
arm und immer ärmer machen — ihre Farben 
verblassen, die schmeichelnden Töne verrauchen 
und hinterlassen in dem daraus Erwachten 
eine traurige Oede." 
Ich fühlte cs, Rahel, die letzten Worte 
waren für mich gesprochen; doch ich schwieg 
— eine bestimmte Schen — vielleicht war 
cs auch falsche Scham, hielt mich zurück, ihm 
zu gestehen, daß ich bereits gespürt hätte, wie 
wenig die Irrlichter der glänzenden Freuden 
die niir einst so verheißungsvoll erschienen, 
mich auf die Dauer zu befriedigen vermöchten. 
Wir waren im Gespräche langsam weiter 
gegangen, als mein Interesse durch ein Bild 
gefesselt wurde, das auch Pastor Bergs Auf 
merksamkeit erregte; mittelgroß stellte es das 
Iulierc eines Tempels dar, durch dessen Bogcn- 
cnster mattes Licht auf ein junges Weib von 
progressiven Betriebsstcuer eine Strafe sehen 
die ans ihre intelligente Leitung und gute 
technische Einrichtung gelegt sei, und der 
dritte Einspruch ist erfolgt aus landwirth- 
schaftlichm Kreisen, welche cs für einen 
Irrthum erklären, daß die Vorschläge des 
Gesetzentwurfs ihnen zum Vortheil gereichen 
würden. Anscheinend sind Freunde des Ent 
wurfs besonders die Gutsbesitzer im Osten, 
welche kleinere Fabriken mit Maschinen 
haben, die der neuesten BetriebSverbesscriingen 
ermangeln. Dem Gesetzentwürfe sind ver 
schiedene Ziele gestellt worden: Er soll einen 
Druck auf die concurrirenden Staaten üben, 
mit welchen eben jetzt Verhandlungen über 
die allseitige Aufhebung der Aiisfuhr- 
vergütuiigcn schweben; er soll auf höhere 
Zuckerpreise hinwirken, die übermäßige Ver- 
mchrnng der Production verhindern; endlich 
spielt der sozialpolitische Grundsatz hinein, 
im Concurrenzkampfe die Kleinen zu schützen 
gegen die Großen. 
- Die Aussicht auf das Zustande 
kommen der Zuckerstcnervorlage 
erscheint der „Schles. Ztg." zweifelhaft. 
Sie bestätigt zwar, daß der Kaiser sich auf 
dem Diner beim Finanzniinister am Mitt 
woch, nachdem er zwei Tage vorher bei 
einem der größten Zuckcrindustriellen der 
Provinz Sachsen zur Jagd gewesen, dahin 
ausgesprochen habe, daß das Zustande- 
kommen der Zuckersteucrvorlage im Interesse 
der Landwirthschaft nothwendig sei, betont 
aber andererseits, wie die Anzeigen dafür 
sich mehren, daß ein vom Standpunkte der 
Anhänger der Vorlage erwünschter Verlauf 
der gesetzgeacrischen Aktion durch die zwischen 
den Zuckerindustriellcn des Ostens und der 
Provinz Sachsen bestehenden Konkurrenz- 
gegensätze einigermaßen gefährdet sei. 
— Gegen das neue Zucker- 
1 e I, e r g e s e tz äußerte sich in der Pro- 
vinzialversammlung des Bundes der Land- 
Wirthe in M a r i e n b u r g Herr Päsler- 
Minthen. Der Gesetzentwurf sei auf den 
Westen zuschnitten, wo der Zuckerrübenbau 
und die Industrie hoch entwickelt seien. 
„Für uns im Osten, die wir noch in der 
Entwickelung begriffen sind, würde der 
Gesetzentwurf schädlich sein, weil hier mehr, 
die Landwirthe und weniger die Kapitalisten 
an den Fabriken betheiligt sind." Schlägt 
die Regierung den Weg des Entwurfs ein, 
so würde die Industrie lahmgelegt, 
und die Landwirthschaft würde 
den Rübenbau verlieren. — 
Herr v. Plötz suchte zu begütigen. Der 
Vorstand des Bundes der Landwirthe werde 
magdalenenhafter Schönheit fiel — eine 
Ģestalt von Gabriel Max, dev so wunderbar 
den überirdischen ■ Ausdruck des vom Geist 
verklärten Seelenlebens zu malen weiß; sie 
kniete auf den Steinfliesen vor dem Mutter 
gottesbilde eine Fülle rothblondcn Haares 
fiel über die Schultern und den wundervollen 
halb entblößten Rücke», den sie mit Geißel- 
hieben bedeckte, so daß kleine Stöme Blutes 
von der weißen Haut auf den Boden tropften, 
und in der Büßerin Antlitz lag der Abglanz 
der Verzückung einer höheren Welt. 
Ich begriff das Weib, das sich dort geißelte, 
Rahel, und erglühte vor innerer Scham — 
sie büßte für begangene Schuld. 
„Das ist ein wunderbares Bild, und der 
es malte, ist ein Künstler von Gottes Gnaden,' 
äußerte Waldemar Berg nach langer, be 
trachtungsvoller Pause. „Wäre ich ein reicher 
Mann, es müßte mein werden — fünfzehn 
hundert Mark sind jedoch für mich schon ein 
kleines Vermögen." 
Ich fragte beklommen: „Finden Sie die 
Strafe dieser Sünderin verdient und gerecht?" 
Und dann sprach er die schönen Worte: 
„Nein, sie ist viel zu hart; der Gott der 
Liebe, wie er sich in unserer Seele ge 
offenbart, fordert nicht die Selbstkasteiung 
einer schwachen Kreatur, er verzeiht dem 
Reuigen; wieviel mehr also sollte nicht der 
Mensch verzeihen? Nur nicht zun: Richter 
anderer, auch der Gesunkensten, sich er 
heben, so lange wir im eigenen, sündigen 
Herzen die göttliche Macht der vergebenden 
Liebe cmpsinden." 
Und dann kam ein unbeschreiblich schöner 
Moment, ich las in seinen klaren Augen 
als ob die Seele offen vor mir dalag; nie 
jatte ich Waldemar Berg so durchgeistigt 
chön, so liebevoll mild gesehen; es war 
alles ein Errathen — Ahnen und Empfin 
den, viel zu zart und ausdrucksvoll für 
Worte; er sah, daß sich unsere Gedanken 
über die Büßerin degcgiicten und nun that 
cs ihm leid, als habe er mich damit gekränkt. 
Wir sprachen nicht weiter, eine weihe 
volle Stimmnlig halte mich ergriffen, und 
wie cs mir scheint, auch ihn;' ich hörte 
wie im Traum das Rauschen der Buchcn- 
kronen, das Branden der See am Strande; 
und es war. Rahel, als habe ein Hauch, 
der von Waldemar Berg in dieser Stunde 
ausging, mich wieder reiner und besser 
gcmacht. — 
Kurz danach verabschiedete er sich, um 
weiter zu reisen. Bei meiner Rückkehr fand 
ich Tante Juttas- Sendung vor; welche 
Ueberraschung, herrlicher haben mir niemals 
Früchte gemundet, als die Kirschen aus 
Haraldsholm — deren Wachsthum und 
Gedeihen Eure Augen liebevoll bewacht. 
Gute, alte Tante Jutta! Wie soll ich Euch 
nur alle Güte für die Verbannte ver 
gelten? Tausend Grüße und Dank. 
Lebe wohl! Erzähle mir von Euch, 
Rahel, viel, viel. Wie die Blunicn blühen 
auf Haraldsholm, wie die Vögel singen 
und nach dem Sonnenlicht die Sterne 
'o friedebringend niederfunkcln. Ihr lebt 
in Gottcsathcm, hier ist es schwül, erstickend 
'o dumpf, in der Menschenathmosphärc 
Leonore." 
Dieser Brief gab Rahel noch mehr zu 
denken, als die früheren der Schwester. 
Traumhafte Stille lag über Haraldsholm; 
re sah nach der Uhr, es war bald neun; 
um diese Zeit Pflegte Pastor Erichsen in 
Gesellschaft der Damen das zweite Früh- 
'tück einzunehmen. Rahel ging in das Eß 
zimmer, um den Tisch zu decken, und da 
bei dachte sie über Leonore snach: die klagte 
nicht eigentlich, doch mit erschreckender Deut 
lichkeit las Rahel fast alles, was in ihrem 
Innern vorging, und daß der Vater recht 
gehabt, als er aus der Verbindung mit 
einem Rauens Unheil vorausgesagt. 
Sie beschloß, Leonore anzubieten, auf ein 
paar Wochen nach Berlin zu kommen, ob 
gleich die Schwester in ihren Briefen den 
Wunsch nicht ausgesprochen hatte; vielleicht 
wollte sie gerade jetzi, in der kritischen Zeit 
ihres neuen Lebens, keine Zeugin für die 
inneren Kämpft um sich haben. 
Außerdem war Rahel zerfallen mit sich 
selbst; warum erschien auf ihrem Lebens 
weg ein Mann, dessen Bild sich in ihre 
Seele und Gedanken drängte, der sie ver 
folgte und dem sie doch unwiederbringlich 
entsagen mußte —- mußte; immer wieder 
lauschte sic den heimlichen Herzensstimmen, 
die so Süßes zu verkünden wußten von bent 
Märchen einer ersten heiligen Liebe, und 
immer wieder erstickte sie mit harter Hand 
jene Schmeicheltöne, welche die Pforten 
eines unbekannten Edens erschlossen. 
Ob Nicolaus Erichsen den Kampf im 
Innern oer jüngeren Tochter bemerkte? Oft 
ruhte sein Blick sinnend aus dem ernsten 
Mädchen, das eine solche Welt voll Liebe 
ür ihn und ihre Umgebung in sich barg. 
Auch seinem Innern war die Ruhe ge 
lohnt. er trug das Haupt gebeugt und 
wollte sich doch nicht gestehen, daß er Schn 
ullst spürte nach Leonore, und ihr Schick 
el, von dem er so wenig wußte, ihn mehr 
und mehr beunruhigte. Ihren Brief zu be 
antworten, hatte er sich nicht entschließen 
können, aber seit gestern verfolgte ihn das 
Wort des Erlösers von Golgatha: „Wer 
unter Euch wagt cs, den ersten Stein auf 
le zu werfen?" 
Das Frühstück war vorüber, Rahel trug 
ihre Bücher in die Arbeitsstube ihres Vaters 
und nahm ihm gegenüber Platz. 
„Ich habe einen Entschluß gefaßt und 
möchte gern wissen, ob Du ihn billigst, Vater!" 
„Laß hören, Rahel." 
„Ich bin nun zwanzig Jahre alt, und 
daö ist meiner Ansicht nach der rechte Zeit 
punkt, mir einen Wirkungskreis zu gründen, 
der mein Leben ausfüllt." 
Nicolaus Erichsen faltete die Hände
	        
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