Full text: Newspaper volume (1895, Bd. 2)

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88ster Jahrgang. <ş 
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SiO. 252. 
Montag, den 28. October 
1895. 
Morgsn-Depeşchen. 
Leipzig, 28. Oct. Bei der Schlußstein 
legung des Reichsgerichtsgebäudes begleitete 
der Kaiser die drei Hammerschläge mit den 
Worten: „Im Namen der Dreieinigkeit 
Gotles, Recht muß Recht bleiben." 
Berlin, 28. Oct. Der gegen die 
Redakteure Dierl und Pfuiidt für den 
nächsten Dienstag vor der zweiten Straf 
kammer des Landgerichts II anberaumte 
Termin wegen Majestätsbeleidigung, bei 
welchem auch die „Kameelinschrift" zur 
Erörterung gelangen wird, dürfte längere 
ş Zeit in Anspruch nehmen. Als Zeugen 
sind u. A. der Oberhofmeister der Kaiserin, 
Frhr. v. Mirbach und Baurath Schmechten 
geladen. 
BreSlau, 28. Oct. Nach einer Meldung 
der „Breslauer Zlg." sind bei der Reichs- 
tags-Erfatzwahl im Kreise Pleß-Rybnik für 
Radwanski (Pole) 5500, für Frhrn. von 
Hncne (Centruni) 3100 Stimmen gezählt. 
Die Wahl von Radwanski gilt als ge 
sichert. 
Dortmund, 28. Oct. Reichstags- 
crfatzwahl. Nach den bis gestern 
Abend 10 Uhr 30 Min. bekannten 
Resultaten erhielten Möller (natl.) 17264, 
Lensing (Centrum) 14623, Lütgenau (Soc.) 
17 237 Stimmen. Eine Stichwahl zwischen 
Möller und Lütgenau ist erforderlich. 
Posen, 28. Oct. Ueber 300 Kinder 
erkrankten in Samotschin an granulöser 
Angenentzündung. 
London, 28. Oct. Nach Versicherung 
der „Times" ist thatsächlich zwischen 
Rußland und China ein Abkommen zu 
stande gekomnlen. Gegen die chinesische 
Regierung machte sich eine Entrüstung 
geltend, als hier bekannt wurde, welche 
bedeutenden Konzessionen China dem russi- 
scheu Reiche gemacht hat. 
Wien, 28. Oct. Nach den neuesten 
Meldungen von Schloß Ellischau hat sich 
der Zustand des Grafen T a a f f e gestern 
Abend so sehr verschlimmert, daß das 
Schlimmste befürchtet wird. 
Graz, 28. Oct. Wegen eines schweren 
Verbrechens gegen die Sittlichkeit ist 
der Besitzer eines hiesigen bedeutenden 
xarnen > Konfektions - Geschäftes verhaftet 
icorben. Eine Anzahl junger Männer 
aus der besten Gesellschaft soll in die 
Affäre verwickelt sein. 
Paris, 28. Oct. In der Kammersitzunq 
lvars heute Nachmittag in dem Augenblicke 
als Minister Leygues die Rednertribüne 
bestieg, um Jaures zu widerlegen, ein 
Arbeiter von der Zuschauertribüne Blumen 
in den Sitzungssaal indem er ausrief: 
„Es lebe Frankreich, es lebe das Vater 
land!" Es entstand eine große Panik, 
die Abgeordneten liefen den Ausgängen zu. 
Der Arbeiter wurde verhaftet, er erklärte, 
Soldat gewesen zu sein und zeigte eine im 
Kriege erhaltene Wunde. Nach dem 
Zwischenfall begann Leygues mit seiner 
Rede. 
Ausland. 
Austerenropäische Gebiete. 
Der 80jährige frühere liberale Premier 
minister von Neu-Sndwales, Sir Henry 
Parkes, hat letzter Tage sein Dienst 
mädchen, Miß Julia Lynch in Paramatta, 
seinem Wohnort, an den Traualtar 
geführt. Die junge Dame ist 23 Jahre alt. 
Aokohama, 26. Oct. Der bisherige 
japanischeGe sandte für Korea, Miura, 
und andere Japaner sind bei ihrer Ankunft 
in Njina verhaftet worden. 
JtaUe«. 
Im unteren Stockwerk des San-Rafael- 
Irrenhauses in Livorno, in welchem 
sich die sogenannten starken Zellen für die 
Tobsüchtigen befinden, brach plötzlich ein 
Feuer aus. In einer Zelle fand man einen 
Irrsinnigen auf dem brennenden Bette er 
stickt vor. Man glaubt, das er ein 
Streichholz versteckt und nach der Revision, 
die um 1 Uhr früh stattfand, das Bett 
angezündet habe. Die langsame, flammen 
lose Verbrennung verursachte dichten 
Rauch, der durch ein Fenster in die 
Nebenzelle eindrang, und auch dort den 
Tod eines Irren herbeiführte. Einer der 
Gestorbenen ist der Bruder eines be 
kannten Abgeordneten. Das Feuer wurde 
rasch gelöscht. 
Türkei. 
Aus Koiistantiuopcl wird berichtet, nicht 
50 sondern nur 28 jungtürkische 
Parteiführer wurden geköpft und 
die Leichen in's Meer geworfen. Der 
Prozeß gegen die 50 wegen Verschwörung 
gegen das Leben des Sultans Angeklagten 
dauerte drei Tage. 
Spanien. 
Madrid, 26. Oct. Zur Verstärkung der 
Truppenmacht auf Cuba werden über 
35 000 Mann entsandt. 
Belgien. 
Ein Brüsseler Gasthofbesitzer ist auf eine 
eigenartige Weise beschwindelt worden. In 
seinem Gasthofe war ein Herr von feinem 
Auftreten, der sich Baron Gregy nannte 
und fertig deutsch, französisch, englisch und 
holländisch sprach, abgestiegen. Bei der 
Abreise bezahlte er seine hohe Rechnung 
mit zwölf „Circular notes“ der Londoner 
„National Provincial Bank os England" 
und erhielt noch an 3000 Frans ausbezahlt. 
Der Gasthofbesitzer übergab diese Noten 
einem Wechselagenten, der ihm sofort deren 
Betrag auszahlte, sie aber an die Londoner 
Bank einsandte. Alle zwölf Noten waren 
gefälscht. 
Kurland. 
In Moskau haben wiederum große 
Studenten-Unruhen ftaitgcfunden, lvobei 
viele Verhaftungen von Studenten vorge 
nommen wurden. Der Grund dieser Un 
ruhen ist folgender : Der bekannte Professor 
Kapterew an der Geistlichen-Akademie, be 
sonders bekannt durch seine liberalen 
Ideen, wurde dieser Tage vor dem 
Gendarmeriechef citirt, der ihn energisch 
ersuchte, seinen Ansichten und Ideen weder 
in einer Zeitung noch irgendwo Ausdruck 
zu geben, oder andernfalls seine Entlassung 
zu nehmen. Kapterew wählte Letzteres, 
daher die Erbitterung unter den Studenten. 
Aus Warschau melden Berl. Blätter: 
Die Stadt Lassocin (Gouvernement Radom) 
ist größtentheils niederg ebrannt. Unter 
den vernichteten Häusern befinden sich 
mehrere öffentliche Gebäude, über 1500 
Menschen sind obdachlos, 5 Personen 
werden vermißt. Wahrscheinlich liegt 
Brandstifung vor. 
Inland. 
— Das Gedicht und die Composition 
„Wenn derHerr ein Krenzeschickt", 
vie wir in den letzten Tagen mehrfach er 
wähnten, sind erst jetzt auf ihren Ursprung 
hin völlig erklärt. Das Gedicht: „Wenn 
der Herr ein Kreuze schickt" hat der drei- 
zehnjährige Ernst v. Willich aus seinem 
Krankenlager gedichtet. Er ist bereits seit 
circa 20 Jahren todt und dachte nicht 
daran, es dem Kaiser Friedrich zu widmen, 
dem damaligen Kronprinzen, sondern hatte 
es für sich privatim aufgeschrieben. Herr 
Hoskapellmeister Radecke war ein Verwandter 
des Kindes, und da ihm das Gedicht gefiel, 
so componirte er es für eine Singstimme. 
Es wurde bald sehr bekannt und galt 
als Lieblingslied des Kaisers Friedrich, der 
es oft singen ließ. Erst vor einigen Jahren 
wurde cs auf vielseitiges Verlangen vom 
Componisten auch als Gesangsquartett um 
geschrieben nnd erschien im Verlage von 
Challier mit der Ueberschrift, die der Ver 
leger dazu setzte: „Lieblingslied des Kaisers 
Friedrich". Herr Hoskapellmeister Radecke 
erfreut sich noch des besten Wohlseins und 
wird am 31. d. Mts. 65 Jahre alt. Er 
ist jetzt der Direktor des Kirchenmusik- 
Instituts, sowie Lehrer für Orgel an der 
königl. Hochschule für Musik. Es liegt 
hinsichtlich seines gemeldeten Todesfalles 
eine Verwechselung mit seinem Bruder vor. 
— Auf einer Versammlung der west- 
preußischen Landwirthe in Graudenz sagte 
der Abg. v. Puttkam er - Plauth, der 
Vorsitzende des Provinzialverbandes des 
Bundes der Landwirthe: „Den Fana 
tismus will ich in Ihnen wachrufen, 
Sie sollen fanatische Agrarier 
werden! Falls die Großindustrie, der 
Hauptgegner, nach Ablauf der Handels 
verträge den Bund der Landwirthe im 
Stiche lasse, solle auf Schutzzölle überhaupt 
verzichtet werden, dann sei die Eisenindustrie 
fertig." Wir meinen, eine solche übertriebene 
Sprache zeugt nicht für die Sache selbst. 
Man kann ein großer Freund guter Erträge 
der Landwirthschast sein, ohne solche auf 
reizende Hetzerei zu billigen. Glücklicher 
weise ist der Landmann im Großen und 
Ganzen zu besonnen, um solchen Aufforder 
ungen Folge zu leisten, die nur seiner 
guten Sache Schaden bringen können. 
Berlin, 26. Octbr. Minister von 
Bo etlicher hatte bekanntlich in dem 
vor kurzem mitgetheilten Jntervielv mit 
dem Correspondenten eines hiesigen Blattes 
der Behauptung gegenüber, daß er es 
vorzugsweise gewesen sei, der unmittelbar 
vor der Entlassung des Fürsten Bismarck 
persönlich dazu beigetragen habe, diese 
herbeizuführen, erklärt, daß er dazu schon 
deshalb nicht in der Lage gewesen sei, 
weil in der Zeit vor der Entlassung in 
seiner Familie Scharlach geherrscht hätte 
und er auf ausdrückliche ärztliche Anweisung 
sich ganz und gar habe zurückhalten müssen 
Infolge dessen sei er in jenen Wochen 
überhaupt nicht an den Hof gekommen 
Die „Hamburger Nachrichten" hatten 
hierbei von einer „Quarantäne" gesprochen 
und die Sache so dargestellt, als ob die 
Erklärung des Herrn von Boetticher that 
sächlich nicht begründet wäre. Nun hat 
der Hausarzt des Ministers von Boetticher 
in diesen Tagen einem Freunde der hiesigen 
„Bolksztg." versichert, daß die Erklärungen 
des Ersteren durchaus der Wahrheit ent 
sprächen und daß er selber die betreffende 
Quarantäne angeordnet hätte, die auch 
von allen Mitgliedern des Boetticher'schen 
Hauses, einschließlich des Ministers selbst, 
seit Anfang März wochenlang stricte inne 
gehalten worden sei. 
— Ein neuer Beitrag zur Ham> 
merstein-Angelegenheit wird der 
„Bossischen Zeitung" aus Breslau be 
richtet: „Zum Fall Hammerstein machte 
gestern der Vorsitzende des hiesigen frei 
sinnigen Volkspartei-Vereins, Rechtsanwalt 
Feige, der General-Versammlung eine Auf 
sehen erregende Mittheilung. Im Jahre 
1890 sei Hammerstein Vorsitzender oder 
Mitglied des Aufsichtsraths der Hagel- 
Versicherungs-Gesellschaft „Borussia" in 
Berlin gewesen, während die Herren 
Krüger und Eck Direktoren waren. Ham- 
merstein hatte als controlirendes Mirgtied 
des Aufsichtsrathes die Verpflichtung, die 
Bücher und Kassen zu revidiren. Er nahm 
dabei die Gelegenheit wahr, für sich selbst 
Darlehen aus der Kasse zu entnehmen. 
Um dieses Manöver zu verdecken, mußte 
eine falsche Bilanz gezogen wer 
den, wovon der General-Agent Kenntniß 
erhielt. Dieser machte Anzeige von seiner 
Entdeckung und wurde deshalb entlassen. 
Infolge seiner Beschwerde beim Minister 
kam die Sache zur Kenntniß des damaligen 
Polizeipräsidenten von Richthofen. Dieser 
suchte die größtmöglichste Schonung walten 
zu lassen, konnte aber nicht verhindern, 
daß die Thatsache festgestellt wurde. Nun 
bestand die „Borussia" daraus, daß Ham 
merstein sein Amt niederlegen sollte; das 
Geld wurde allerdings nach energischem 
Drängen zurückerstattet. Von diesen Dingen 
hatten 12 Herren der konservativen Partei 
Kenntniß gehabt; sie waren verpflichtet 
gewesen, von der Zwangsanleihe Hammer- 
stein's Mittheilung zu machen; a b e r n i ch t s 
ges ch ah." 
Der Betrag, um den es sich handelte, 
war die Kleinigkeit von 15 000 Mk. Am 
merkwürdigsten bei diesem Hergang ist die 
Meldung, daß der General-Agent, der den 
Schwindel aufdeckt, entlassen wird. Danach 
kann man in den Kreisen des Herrn von 
Hammerstein es umgekehrt zu etwas 
bringen, wenn man Hehler ist. 
Eine interessante Belehrung wurde 
kürzlich einer Dame in Berlin zu Theil, 
die ein Haus am Maybach-Ufer besitzt. 
Als sie einen ihrer Miether, der seit fünf 
Monaten dort wohnt, ohne bisher Miethe 
bezahlt zu haben, aufsuchte, um ihn zu 
mahnen, fragte dieser ganz erstaunt: Was? 
McàMM'sMM. 
21) Roman von B. Riedel-Ahrens. 
„Na," begann Julie, sobald sie sich in 
ihrem Schlafzimmer befand, welches von dem 
des Gatten nur durch eine offenstehende Thür 
getrennt war, „da habe ich was Nettes an 
gerichtet, als ich die Erichsen's bei uns ein 
führte! Der älteren gelingt es gleich am 
ersten Abend, Eugen den Kopf derartig zu 
verdrehen, daß er an eine Heirath denkt, und 
die jüngere, hm — die es trotz ihrer schein 
baren Taubenfrommheit faustdick hinter den 
Ohren hat, sondert sich von den Gästen ab, 
nur um ungenierter mit Dir sprechen zu 
können! Nette Früchtchen das, das muß man 
sagen." 
Albrecht antwortete nicht, er war entschlossen, 
den Auslassungen seiner Frau eine stoische 
Ruhe entgegen zu stellen; denn Julie besaß 
;cne unheilbare Seelenroheit, die alle Dinge 
in das Licht der Gemeinheit zieht und mit 
den şiäiķşien Ausdrücken bezeichnet, die ļebc 
ausgleichende Erörterung oder Verteidigung 
»on vornherein ausschließt; in seiner Brust 
wüthete der gewaltsam niedergehaltene Zorn, 
er kam sich selbst erbärmlich vor und beklagte 
das unselige Vcrhängniß, welches Julie die 
Mittel in die Hand gegeben, solche wahn 
sinnigen und haltlosen Beschimpfungen gerade 
auf Rahel Erichsen zu häufen, die er vor 
allen, ans der Welt an, sorgfältigsten davor 
behütet sehen wollte. 
„Du schweigst!" rief Julie mit steigender 
Heftigkeit, „das bedeutet also, daß ich Recht 
harte, als. ich Euch beschuldigte, auf Ver 
abredung im Wintergarten znsammengelrosfen 
zu sein. Mit meiner Bewilligung kommt 
mir nach diesen, keine von beiden wieder in's 
nach meinem Tode kannst Du na 
türlich thun, was Dir beliebt." 
Albrecht setzte das Wasserglas in seiner 
Hand so heftig auf die Marmorplatte, daß 
cs zerbrach. 
„Es ist wirklich sehr gnädig von Dir, 
mir zu erlauben, nach Deinem Tode thun 
und lassen zu können, was mir beliebt," er 
widerte er voll unsagbarer Bitterkeit. „Wenn 
Du aber b"hauptcst, ich Hütte die Unterhaltung 
mit Fräulein Erichsen verabredet, so ist das 
ein so ungeheuerlicher, so überaus schmutziger 
Ve> dacht, daß er nur in Deinem Gehirn 
entstehen konnte und ich es für überflüssig 
halte, daraus zu antworten." 
„Du wirst aber doch nicht leugnen wollen," 
rief Julie grollend, daß Ihr Euch bei meinem 
Eintreten Beide in einer Verfassung befandet, 
die solchen Verdacht in mir hervorrufen 
mußte, wenn ich ihn nicht bereits hegte; 
jedenfalls hast Du Dich bei der theilnahms- 
vollen Seele über mich beklagt," setzte sie voll 
Hohn hinzu. 
„Bon einer Klage über Dich war nicht 
die Rede, wohl aber habe ich gesagt, daß 
ich mich unglücklich fühle," entgegnete Albrecht 
mit dem Trotze der Verzweiflung, „und das 
war freilich ein großer Fehler von mir; nicht 
daß ich es sagte, aber es gescbab in einer 
Weise, welche Dir Gelegenheit gab, es zu 
bemerken, obgleich man vor derartigen Ueber- 
raschungcn natürlich nirgends sicher ist." 
„Du gestehst also offen ein, die Person 
da mit ihrem glatten Gesichtchcn und dem 
gelehrten Blödsinn im Kopfe zu verehren!" 
äußerte sic im Anlauf zu neuen, Sturme in 
unnatürlicher Ruhe. 
„Nichts gestehe ich ein," antwortete er 
schroff. Und dann, plötzlich von dem 
Wunsche beseelt, Rahel für die Beschimpfung 
zu rächen, und in dieser dunklen Empfindung 
nicht den Schaden, den er sich selbst sowohl 
wie ihr zufügte, bedenkend — fuhr er fort: 
„Wenn es jedoch auf der Welt ein Wesen 
giebt, das mir verehrungs- und anbetungs 
würdig erscheint, so ist es Rahel Erichsen. 
Niemals aber, das schwöre ich Dir bei 
meiner Mannesehre, würde ich es wagen, 
vor diesem reinen Mädchen meine Empfindun 
gen auch nur mit einer Silbe zu verathen, 
und ich hoffe, Du bist gerecht genug, um 
wenigstens davon überzeugt zu sein." 
Albrecht von Ravens war nicht Frauen 
kenner genug, um die ganze Tragweite des 
leidenschaftlichen Schmerzes zu ermessen, dm 
gerade diese offene Erklärung in Juliens von 
rasender Eifersucht erfülltem Innern hervor 
rief; denn seine Worte gaben ihr die Gewiß 
heit, daß sie ihn nun unwiederbringlich ver 
loren habe und seine verehrende Liebe einer- 
anderen gehöre -— einer andern, die sie von 
diesem Momente an mit der wüsten Rach 
sucht ihrer zerfahrenen Natur verfolgen würde. 
„Es ist gut," sagte sie, pagodcnhaft nickend, 
„cs ist gut; ich sehe, wie die Sachen stehen 
und weiß, wie ich inich zu verhalten habe. 
Ich will cs Dir glauben, daß bis dahin noch 
nicht direkt von Liebe zwischen Euch die Rede 
gewesen ist, einfach, weil cs doch nur wenige 
sogenannte gebildete Mädchen giebt, die 
schamlos genug wären, nach so kurzer Frist 
der Bekanntschaft einem verheiralheten Manne 
Gelegenheit zu einer Liebeserklärung zu 
bieten — aber ebenso genau weiß ich, daß 
die Leidenschaft ein Factor ist, mit dem sich 
überhaupt nicht rechnen läßt, früher oder 
später wird es zwischen Euch zur Aussprache 
kommen, ich kenne das — deshalb werde ich 
von jetzt ab darauf ausgehen, jede vertrauliche 
Unterredung zu verhindern, und ist, nach 
diesem Geständniß noch ein Funke von Ehr 
gefühl, noch eine Spur von Rücksicht gegen 
mich in Dir vorhanden, so wirst Du cs 
ebenfalls vermeiden." 
„Durchaus nicht," erwiderte Albrecht fest, 
„da ich Fräulein Erichsen gegenüber nie um 
Haaresbreite die Grenze überschreiten werde, 
welche, abgesehen von meiner Hochachtung, 
die Verhältnisse zwischen uns legen; deshalb 
kannst Du Dir ein Wacbteramt ersparen, 
das nur herabsetzend und vollkommen über 
flüssig ist." 
Sobald der höchste Grad der Wuth bei 
Julie überschritten und sic einsah, damit 
nichts weiter zu erreichen, pflegte cine Re 
aktion in ihrem Innern vorzugehen, die sie 
zu anderen Waffen greifen ließ; sie begann 
in heftiges Schluchzen ansznbrechen, sich in 
zahlreichen Variationen für die unglücklichste 
Frau der Welt zu erklären, in der Er 
wartung, daß Albrecht gerührt sie um Ver 
zeihung bat und an seine Brust zog. Zu 
Anfang ihrer Ehe hatte er das auch ge 
than — seit längerer Zeit brachte er cs 
nicht mehr fertig, Gefühle zu heucheln, die 
sie selbst so schonungslos erstickte, und da 
rum blieb auch heute der zweite Akt des 
ehelichen Dramas ohne Wirkung. Ekel und 
Widerwillen erfüllte ihn bis zum Ueberwallcn, 
und, um nichts mehr zu hören, schloß er 
die Flügelthür zwischen den beiden Zimmern, 
drehte den Schlüssel im Schlosse um und 
warf sich angekleidet auf sein Lager, wo er, 
die Hände gegen dm schmerzenden Kopf ge 
preßt, in dumpfe Betäubung versank; ein 
unbegreifliches Räthsel war es ihm, daß er 
das Leben bis heute ertragen und nicht zu 
Grunde gegangen war, im moralischen 
Schiffbruch. — 
Als Julie das Schließen der Thür ver 
nahm, spürte sie jenen wilden Schmerz 'des 
verschmähten, tödtlich verletzten Weibes, der 
sich am liebsten in einem grellen Aufschrei 
Luft gemacht. „Albrecht, Albrecht — komme 
— alles, was ich Dir thue, giebt mir ja 
doch nur die Liebe ein! Komme zu mir!" 
Aber sie biß in das Taschentuch und er 
stickte die verräterischen Worte, deren Zweck 
losigkeit sie sich bewußt war. Nach dem 
Paroxismus der höchsten Abspannung trat 
dann in raschem Ucbcrgange die Ruhe ein, 
obgleich auch das keine eigentliche Ruhe 
war; Todcsmattigkeit lag in den bleischweren 
Gliedern, dazu der Druck in der Brust und 
Athemnoth, die sich immer nach dem un 
gewöhnlichen Kraftaufwand eines Gesell 
schaftsabends einstellte. — Das ist die 
heimliche Krankheit, die sic verbergen will 
und doch nicht mehr kann. Leben, leben! Un 
heimlich fühlte Julie die Schatten des nahen 
den Todes langsam an sich herankriechen, 
imnier deutlicher strecken sie die schauer 
lichen Krallen nach ihr aus — Hilfe! Nur 
nicht sterben — nur nicht hinab in das 
grauenvolle Nichts des Grabes, Erbarmen, 
o Gott! Es ist so dunkel ringsumher — 
so schwarz und hoffnungslos. 
Die irren Gedanken tauchten in die 
schattenhaft verschwimmcndc Vergangenheit, 
nnd aus ihr erhebt sich etwas Drohendes, 
bang und mahnend pocht es an Juliens 
Herz: Wer ist denn schuld an all' dein 
Elend? Hast Du jemals versucht, an Dir 
zn arbeiten, Dich als Weib, wie cs Deine 
Pflicht war, dem Manne anzupassen, Mt
	        
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