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Wes-sburger
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Wo. 243.
Donnerstag, den 17 Hctober
1895.
Morgerr-Depeschen.
Berlin, 17. Oct. Ein parlamentarischer
Correspondent schreibt: Eine der parla
mentarischen Hauptaktionen wird sich beim
Zusammentritt des Reichstags den Be
sirebungen auf Reform der Börse zu
wenden. Es verlautet, daß die Regierung
sich mit der Absicht trägt, den vorjährigen
Entwurf dem Reichstag wieder vorzulegen.
Berlin, 17. Oct. Prof. G. Bloudel
aus Paris bereist gegenwärtig in Be
gleitung zweier Assistenten im Aufträge
feiner Regierung die preußischen Ost-Pro-
vinzen, um die dortigen Rentenguts-Ein-
richtungen und die Organisation der Ge
neral-Kommissionen kennen zu lernen.
Berlin, 17. Oct. Der Präsident der
Bereinigten Staaten von Nord-Amerika
Grover Cleveland hat durch Vermittelung
des Botschafters, Generals Runyon, das
deutsche Auswärtige Amt gebeten, dem
Cavitän des Schnelldampfers der Hamburg-
Amerikanischen Packetfahrt - Gesellschaft
„Suevia", Adalbert F. M. Kvech, einen
schweren silbernen, innen vergoldeten Pokal
zu überreichen als Dank des Präsidenten
sür die Rettung der Mannschaft des
amerikanischen Schiffes „Mary E. Amsden"
am 26. d. I. auf hoher See durch Capt.
Kvech.
Erfurt, 17. Oct. In dem Privat-Be
leidigungsprozeß des sozialdemokratischen
Redakteurs Hülle gegen den Ersten
Staatsanwalt Lorenz wurde
Letzterer vom Schöffengericht kostenpflichtig
zu 50 Mark Geldstrafe verurtheill und
dem Kläger die Publikationsbcsugniß zu
gesprochen.
Leipzig, 17. Oct. Liebknecht sprach
im Pantheon vor über 2000 Personen
über die Landtagswahl, nach 20 Minuten
wurde ihm das Wort entzogen. Einen,
anderen Redner wurde ebenfalls das Wort
entzogen.
Mannheim, 17. October. Der Kassirer
Richard Maier bei der Deutschen Union-
Bank 'st nach Unterschlagung von 150 000
Mark flüchtig geworden. Wie weiter ge
meldet wird, glaubt der Staatsanwalt
dem Defraudanten auf der Spur zu sein.
Einen Theil des von Maier unterschlagenen
Geldes hofft man zurück zu erlangen, da
er am 8. d. Mts. bei der Rheinischen
Creditbank Hierselbst ein geschlossenes Depot
aus den Stamen seines Kindes, das noch
minderjährig ist, hinterlegt hat.
London, 16. Oct. Die Regierung er-
hielt in dieser Nacht die offizielle Be-
stütignng der Ermordung der Königin von
Korea.
London, 17. Oct. Der Geschäftsführer
des Zweigetablissements des Silberwaaren -
sabrikanten Ellington & Co. in Clerken-
well ist gestern Nachmittag verhaftet wor
den, wie verlautet, wurden einige vom
letzten Silberdiebstahl herrührende
Barren dort gefunden.
Paris, 17. Oct. Dr. Duel aux ist
zum Leiter des Instituts Pasteur, Dr.
Roux zu seinem Stellvertreter ausersehen.
Revers, 16. Oct. In dem Dorfe Bouby
platzte der Keffel einer Dreschmaschine;
hierbei wurden 7 Personen getödtet und
eine verwundet.
Carmeaux, 16. Oct. Der Urheber des
Mordversuches auf den Direktor der
hiesigen Glaswerke ist noch unbekannt.
Gestern Abend nach Ausübung des An
schlages nahm die Polizei in dem Bureau
des Ausstandsausschusses eine Haussuchung
vor, wobei 8000 Francs beschlagnahmt
wurden; sodann umstellte die Polizei das
Hotel, in dem der Sozialist Janres und
drei andere sozialistische Abgeordnete, sowie
mehrere Ausschußmitglieder sich aufhielten,
und verhinderte jeden Verkehr mit der
Außenwelt; am Morgen zog sich die Polizei
zurück.
Petersburg. 17. Oct. In Baku be-
gann eine Naphtha-Fontaine zu springen,
die täglich 300 000 Pud Naphtha giebt.
Petersburg, 17. Oct. Im Stadttheater
in Kasan ereignete sich während der Vor
stellung in der Garderobe eine Explosion,
in Folge deren das Garderobezimmer in
Brand gerieth. Der Rauch schlug ans die
Bühne, es entstand eine furchtbare Panik.
Alles drängte nach dem Ausgange zu und
bei den, Gedränge wurden acht Per
sonen erdrückt, viele schwer verletzt.
Der Brand wurde nach kurzer Zeit ge
löscht.
Budapest, 17. Oct. Die gestern hier
tagende R a bb iner-Versa mm ln n g be
schloß, Ehen zwischen Juden und Christen
nicht rituell einzusegnen.
Agram, 17. Oct. Der Rechtshörer
Frank, der gestern Nacht wegen Jnsul-
tirung der ungarischen Fahne mißhandelt
wurde, ist nach der Pvlizeistation gebracht
worden, wo ihm seine Wunden verbunden
Um Revange zu nehmen, zogen heute Vor-
mittag 33 Juristen mit der Universitäts-
sahne nach dem Jclasicsplatze, wo sie eine
mitgebrachte ältere ungarische Fahne öffent
lich verbrannten Die Rädelsführer wurden
verhaftet. Es ist festgestellt, daß die
Agramer Polizei bei den Tumulten
eine Haltung bekundete, die fast ihr Ein-
verständniß mit den Tumultuanten verräth.
Zur Abreise des Königs werden umfassende
Maßregeln getroffen, um Demonstrationen
zu verhüten.
Newyork, 16. Oct. Der weltberühmte
Elektrotechniker Franklin Popp wurde
gestern durch einen 3000 Volten starken
Strom getödtet, als er eine von ihm selbst
erfundene Maschine in Betrieb setzen wollte.
Herr v. Boettichcr.
Zur Affaire Boetticher wird
dem „H. C." aus Berlin geschrieben: „Die
Befürchtung, daß die Kundgebung des
Staatsministeriums in Sachen des Ministers
von Boetticher zu einer Aufwärmung des
ganzen Streites und zu neuen Angriffen
gegen den Minister Anlaß geben werde,
hat sich leider sehr rasch bestätigt. Ganz
neu ist aber, daß Herr von Boetticher jetzt
aus der Zurückhaltung, die er bisher beob
achtet, heraustritt. Vorläufig ist es zwar
nur der „Lokal-Anzeiger", der angeblich
auf Grund einer Unterredung mit Herrn
von Boeiticher aus dem November v. Js.
eine ausführliche Vertheidigung des Collegen
veröffentlicht, den Fürst Bismarck seit fünf
Jahren beschuldigt, er habe im Jahre 1890
seine Stellung mißbraucht, um seinen, d. h.
des Fürsten Bismarck, Sturz zu beschleunigen
Ist die Darstellung des „Lokal-Anzeigers"
zutreffend, worüber man ja wohl bald etwas
aus Friedrichsruh hören wird, so würde
sie den Beweis liefern, daß der Kaiser im
Frühjahr 1890 lebhaft gewünscht hat, sich
mit dem Fürsten Bismarck über die Arbeiter
schutzfragen zu verständigen. Erzählt Herr
v. Boettichcr doch, daß der Kaiser in fröh
lichster Stimmung gewesen sei, weil er
glaubte, mit dem Fürsten Bismarck zu
voller Verständigung gekommen zu sein. Die
Erkenntniß, daß er sich in dieser Beziehung
getäuscht habe, mußte natürlich die Krisis
beschleunigen. Ganz klar ist an dieser Stelle
auch der Bericht des Lok.-Anz." nicht. Nach
seiner Darstellung hatte Fürst Bismarck
dem Kaiser gesagt, er werde dem Staats
rath, der sich mit der Arbeiterschutzfrage
beschäftigen sollte, fern bleiben; Herrn
v. Boetticher aber erklärte er im Gegentheil,
er werde in den Staatsrath kommen, um
seine entgegenstehende Meinung zu vertreten.
Man wird ja wohl noch erfahren, wie
dieser Widerspruch zu erklären ist."
Es sei bei dieser Gelegenheit bemerkt,
daß die „Hamb. Nachr." in den letzten
Tagen neben der Beschäftigung mit Herrn
v. Boetticher auch noch Zeit gefunden haben,
wiederholt und sehr nachdrücklich die Herren
v. Hammerstein und Stöcker von den Rock-
schoßen des Fürsten Bismarck abzuschütteln,
an die sie — merkwürdigerweise — ein
sonst im gleichen Lager wie die „Hamb.
Nachr." stehendes Blatt, die „Allg. Ztg."
zu hängen versucht hatte. In diesem Falle
hat das Hamburger Blatt nicht nur sub-
jectiv, sondern auch objectiv sicherlich Recht.
— Die Angriffe der agrarischen und der
Bismarck'schen Frondepresse gegen den
Minister v. Boetticher haben die Wirkung
gehabt, daß viele Blätter ihre Verwunderung
darüber ausgesprochen haben, daß Fürst
Bismarck große Summen aus dem Welsen-
fonds zu Zwecken verwandle, die mit einer
Bekämpfung der wölfischen Agitation nicht
das Mindeste zu thun hatten. Zu diesen
Zeitungen gehörte die „Weserzeitung" in
Bremen. Ihr antwortet auf ihre Aus-
sührungen über diesen Gegenstand das
Bismarck'sche Leibblatt, die „Hamburger
Nach richten":
„Die „Weser-Ztg." wundert sich über'bie
Verwendung großer Summen aus dem
Welfenfonds für die Solvenz des Ver-
wandten eines Ministers. Das Bremer
Blatt sollte sich doch selbst sagen, wie wenig
wahrscheinlich es ist, daß Fürst Bis
marck den alten Kaiser bewogen
haben würde, mit so großen
Summen einzutreten, wenn es
sich nur um einen Stralsunder Bank-
direktor gehandelt hätte. Auf die Politik
des Reiches würde es doch nicht von Ein
fluß gewesen sein, ob ein einzelner Bank-
direktor sich unlautere Sachen zu Schulden
kommen ließe."
Vielleicht wird mancher Leser die vor
stehend wörtlich lvicdergegebcne Aeußerung
des Bismarckblattes nicht recht verständlich
finden, wir wollen sie deshalb kommentiren.
Die „Hamburger Nachrichten" haben nur
ganz dasselbe sagen wollen, was ein anderes
Blatt mit den Worten ausdrückte:
Fürst Bismarck hat, weil er sich die
ihm äußerst werthvolle Mitarbeit von
Boetticher's erhalten wollte, den Schwieger-
Vater dieses Ministers aus seinen finanziellen
Schwierigkeiten befreit, damit diese nicht
zu Verdächtigungen des Herrn v. Boetticher
ausgenutzt werden könnten.
— Der „Vorwärts" bezweifelt, daß man
in Friedrichsruh thatsächlich eine pro-
NicNaiisKilh sell's Uchter.
12) Roman von B. Riedel-Ahrens.
Als Lconore dann, das hcrabwallcuiff
Haar nur von einer einfachen Agraffe zu
sammengefaßt, wieder in das Zimmer trat,
konnte Julie, von aufrichtiger Bewunderung
ergriffen, nicht umhin zu sagen: „Sie sehen
wunderbar aus, Fräulein Erichsen, so etwas
ist mir wirklich noch gar nicht vorgekommen!"
Diese lächelte glücklich, küßte den Baler
und Tante Jutta, die ihr den Mantel um-
hiug, zum Abschied, dann fuhren die beiden
Damen fort und Rahel ging nach Leonores
Zimmer zurück, um aufzuräumen.
Pastor Erichsen und seine Schwester
standen am Fenster und sahen dem ver
schwindenden Wagen nach.
„Eine gräßliche Person, ein echtes Weib
Şodom," äußerte er zürnend und ver
ächtlich. „Wie viel Dünkel und Disharmonie
'U meter zerfahrenen Frauenseele! Und mit
ihr fahrt meine Tochter einer falschen,
gleißnerffchm Welt voll Lug und Trug
entgegen, einer Welt, die das Laster i»
ihrer Dàtte pflegt; sie betritt das Haus
der Ravens, welche einst nietn Fluch ge
troffen! Das muß ich einst erleben."
„Gott, hör mal, Nicolaus,^ sagte Tante
Jutta, deren gemüthliche Hausmutterart
immer stark ernüchternd auf des Bruders
Auslassungen wirkte, indem sie ein paar
Stäubchen von seinem Aermcl entfernte,
„die Sache ist nun schon dreißig Jahre her,
und die Söhne tragen keine Schuld daran,
was ihr Batec verbrochen hat — er mag
in Frieden ruhen. Doch was ich eigentlich
sagen wollte — siehst Du, cs ist ganz gut,
wenn die Kinder 'n bißchen heraus--
ommcn, die jungen Seelen versauern ja
sonst hier m der Einsamkeit bei uns Alten."
Ich bewundere, Jutta, daß Du, meinen
Ansichten entgegen, den Mädchen das Wort
in solchem sträflichen Begehren redest "
„Du darfst nicht vergessen, Nicolaus, daß
Deine Töchter erwachsen sind.; überdies bist
Du im Irrthum, Du willst sie vor jedem
Zugwind von .außen her beschützen und
vergißt, daß das Verweichlichung im ge
wissen Sinne ist, denn wie nur in Sturm
und Wetter der Körper abgehärtet wird,
so bedarf auch der Charakter, sich zu befesti
gen, der Versuchungen und Stürme der
Welt. Nur was geprüft, bewährt sich!
Daruni laß die Mädchen ruhig gehen."
Der Geistliche legte die Hände auf den
mucken und sah nach oben. So ganz Un
recht hatte ja die Schwester eigentlich nicht,
o 'er abgesehen von allen Nebcngründen
lag nach seiner Meinung etwas Brutales
àw' s "2^ Schutzbedürftige, schwächere
mVersuchungen einer verderbten
Gesellschaft auszusetzen, er hätte seine Töch
ter gern behütet vor den. Bösen, das nur
- bcn verführerischen Gestalten
bit Unschuld m den Abgrund der Sünde
;u locken wußte.
Fräulein Jutta die infolge eines langen
Zusammenlebens den Bruder kannte wie
sich selbst, und^ ottnials sogar seine Gedan
ken errieth, äußerte aus diesen heraus:
„Außerdem sind Leonore und Rahel nicht
Mädchen, die sich von dem ersten besten den
Kopf verdrehen lassen; Deine eigenartige
Erziehung hat ihnen sittlichen Halt gegeben,
der sich in keiner Lebenslage verleugnen
wird; sic haben alles Häßliche und Niedrige
„ essualische Klärung der Angelegenheit
so gern sehen würde, wie die „Hbg. Nachr."
glauben zu machen suchen und weiß außer-
dem noch zu berichten, daß der Kaiser die
Enthüllung über die „Affaire Boetticher-
Berg-Bismarck" als einen „Bismarckschen
Vendetta-Akt" „irrthümlicherweise" aufge
faßt habe, während sie doch von einem
ganz anderen „hochgestellten Schützen"
herrühre und von dem Fürsten späterhin
nur ausgenutzt sei. Es ist bezeichnend
für unsere gegenwärtigen Zustände,
daß der „Vorwärts" fortgesetzt Jnfor-
mationen aus denselben „höheren
Regionen" empfängt, aus denen
heraus mit einer gewissen Regelmäßigkeit
die Nothwendigkeit betont wird, Blätter
wie das sozialdemokeatische Centralorgan,
dem nichts heilig sei, ganz zu unterdrücken.
Ausland.
Stuffereurovriischc lyedietc
Aus Cuba ist in Newyork die Kunde
gelangt, daß am 2. d. Mts. Maceo nach
fünfstündigem erbitterten Kampfe die
Spanier untec Navarro bei Linares am
Magotaberge vollständig geschlagen
hat. Spanischerseits wurden fünf Offiziere
getödtet, zehn verwundet und 380 Soldaten
getödiet und verwundet.
Einer unserer Landsleute, Herr Ludwig-
Marx, ist augenblicklich in Havanna auf
Kuba der Held des Tages und in aller
Munde. Er hat nämlich bei einem vorüber
gehenden Aufenthalt in Havanna die Summe
von 5000 Mk. hinterlegt mit der Bestim-
mung, daß je 1000 Mk. an die zuletzt
cingetroffenen fünf Bataillone spanischer
Truppen derart vertheilt werden, daß 1000
Mk. am Schluffe des Krieges der Soldat
erhalte, welcher von seinem Vorgesetzten
als der Bravste und Tapferste bezeichnet
wird. Der Geber stellt frei, daß die Summe
auch an Mehrere vertheilt werden kann.
Natürlich wurde die Nachricht in den
Zeitungen schnell verbreitet und in den
Strafzen ertönten freudig aufgenommene
Hochrufe auf Deulschland. Es wäre zu
wünschen, daß diese Sympathie sür Deutsch,
land von praktischen Folgen, etwa in Form
eines Handelsvertrages, begleitet wäre.
Türkei.
Nach einer Meldung der „Daily News"
aus Konstantinopcl vom 9. October griff
in Akhissar, 120 Meilen von Konstantinopel,
der kürkische Pöbel Armenier an^
wobei 50 Personen getödtet und eine große
derartig verabscheuen gelernt, daß sic cs nie
mals an sich herankommen lassen werden."
„Du weißt nicht alles, Jutta, kennst die
Gesellschaft nicht, wie ich sic kenne; cs giebt
unsichtbare Gifte, die in der Luft schweben,
eiugcathmet werden und langsam, aber mit
heimtückischer Sicherheit das Zerstörungs
werk beginnen, Gifte, die sich mit den be
rauschenden Worten — mit den Klängen
der Musik in das Herz stehlen, die aus
strahlenden Augen den verheerenden Funken
in die Seele werfen — Gifte, gegen die
selbst das Innere eines Engels kaum gefeit
ist. Du nimmst an, meine Erziehung schütze
die Mädchen vor Verlockungen, aber Du
bedenkst nicht, daß sie jung sind und uner
fahren, und die Menschen ihre begehrlichen
Hände frech nach dem Reinsten ausstrecken,
um es zu besudeln; denn unsere Männer
von heutzutage haben den Glauben an die
Erhabenheit der echten undschuldsvollen Ho
heit verloren, sic sehen im Weibe nur noch
das Spielzeug ihrer Launen. Erst nachdem
die Erziehung im großen und ganzen das
Weib stark, edel und ernst geschaffen, und
ihr Verstand die Ausschreitungen der Phan
tasie und Gefühlsschwelgcrci zu beherschen
gelernt, werden auch die Vcrrüther sagen
müssen: ehret die Frauen, gewinnet sie und
lernt von ihnen. Die Gegenwart beginnt
langsani an der Lösung des Problems zu
arbeiten und sie wird cs einst erreichen."
Fräulein Jutta ließ sich die Befürch
tungen ihres Bruders nicht anfechten, son
dern gedachte sehr befriedigt der neuen Wen
dung in Leonorens Geschick; sie mußte ja
gefallen, und würde zweifellos Aufsehen er
regen! Tante Jutta umfaßte die Nichten
mit der selbstlosen Liebe einer zärtlichen
Mutter und hatte auch seit zwölf Jahren,
da Nilolaus Erichsens Frau gestorben, ihre
Stelle bei den verwaisten Kindern getreu
vertreten. Nach ihrer Ansicht strengte der
Vater die Töchter viel zu sehr mit dem
Lernen an, so daß sie ihnen heimlich ein
Entgelt schaffen zu müssen glaubte, und das
bestund in einer glücklichen, unbändigen
Freiheit, die sie damals den beiden Unzer
trennlichen ließ. Um Drei, sobald der Unter
richt zu Ende, waren sie hinausgctobt auf
ihr endloses Revier, und niemals hatte
Tante Jutta gescholten, wenn Kleider und
Röckchen zerrissen worden, sondern alles ge
duldig wieder zugenäht; dafür hingen sic
auch mit unbegrenzter Liebe und Verehrung
an der Nachsichtigen. —
Als Julie und Leonore nach rascher
Fahrt das Schloß erreicht hatten, fühlte sich
Baron Albrecht anfangs ein wenig enttäuscht,
nicht auch Rahel zu sehen, denn trotz der
hariuonischcn Erscheinung der Aeltcren, die
seine volle Bewunderung erregte, muthetc
es ihn aus der anderen ungleich wohlthuen
der an. Julie hingegen war ganz entzückt
von ihrer,,Acquisition," wie sie es uaunte;
'ie beobachtete Leonore scharf, wie sie, das
Mädchen aus dem einfachen Pfairhaus
sich in ihren kostbaren Salons bewegen
würde, aber diese trat auf als ob sic uie-
nials anders als auf glattem Parkettboden
und persischen Teppichen gewandelt, und
chcnkte all dcni blendenden Glanze wenig
stens äußerlich durchaus nicht jene be
wundernde Aufmerksamkeit, die verrathen
haben würde, daß sie heute dergleichen zuni
ersten Mal erblickte. *
Julie fragte, ob sie musikalisch sei.
„Ganz wenig," — der Vater liebe nur
die klassischen Sachen und dulde keine werth
lose Musik im Hause. Als sic dann aber,
von Albrecht aufgefordert, sich ohne viel
Zureden an denn herrlichen Flügel setzte und
mit Fertigkeit und künsterischem Gefühl ein
paar der stinimungsvollen Lieder von Schu
mann sang, spendeten der Baron und seine
Frau so aufrichtigen, lebhaften Beifall, daß
sie beseligt die Anerkennung in sich aufnahm
und bereitwillig noch mehreres zum besten
gab.
Später saßen sie im dunkelgetäfclten Eß-
salon, um den sich die übrigen kostbar aus
gestatteten Räume hinzogen, und dann kam
das Allerbeste. Albrecht und Julie zeigten
dem jungen Gaste Ansichten aus der Zeit
ihrer Reise, von Paris, wo sic vor kurzem
gewesen und endlich von Berlin; dabei er
zählten sie der athemlos Horchenden von all
den tausend Herrlichkeiten der Hauptstadt,
von dem genußreichen Leben, deni sie unab
lässig Zerstreuungen aller Art böten; und
die Wange glühend vor Interesse, das Haupt
vorgebeugt, ein Lächeln des Entzückens auf
den fchwcllenden Lippen, sah Leonore die
feenhafte Welt vor ihrem Geiste erstehen, in
der es noch viel schöner sein mußte als in
dem verzauberten Schloß des Märchens aus
der Kinderzeit. Ach, das sehen und durch
leben zu dürfen!
Julie amüsirte sich köstlich über die Wonne
des jungen Mädchens und erging sich in
immer neuen Erzählungen, bis sie schließ
lich meinte:
„Wissen Sie was, Fräulein Erichsen, sind
mir erst wieder in Berlin, dann laden wir
Sie und Ihre Schwester ein, sich das Alles
ordentlich anzusehen — ich werde Sie schon
umherführen!"