Full text: Newspaper volume (1895, Bd. 2)

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Mo. 153. 
Morpep-Tepcschkn. 
Berlin, 3. Juli. Der „Reichsanz?' 
veröffentlicht die Verordnung vom 25. 
Mai 1894 wegen Erhebung eines Zollzu 
schlags für aus Spanien und den spanischen 
Kolonien kommende Waaren. 
Köln, 3. Juli. Die „Köln. Ztg." 
schreibt zu der Nachricht über die Er 
krankung des Fürsten Bismarck, seit dem 
Hinscheiden seiner Gattin hätten sich häufig 
bei dem Fürsten Stunden eingestellt, in 
denen er geistig sehr niedergeschlagen ge 
wesen. Die Feier seines 80. Geburts 
tages sowie die vielfachen Empfänge hätten 
dazu beigetragen, den Fürsten geistig zu 
beichäsligen und in lebendige Berührung 
mit den Massen zu bringen, während die 
kurz vor der Eröffnung des Nordostsee- 
kanals begonnene lebhafte schriftstellerische 
Thätigkeit nicht dazu angethan war, den 
Zustand des Fürsten günstig zn beeinflussen. 
Einzelne Artikel zeigten eine krankhafte 
Gereiztheit, die man bei ihrer Beurthei 
lung nicht übersehen dürfe. Unterrichtete 
Kreise versichern, es werde wieder eine 
Besserung im Befinden des Fürsten ein 
greifen; es sei nur die größte Schonung 
nothwendig. 
Leipzig, 3. Juli. Als Zeugen in der 
Verhandlung gegen den der Spionage an- 
geklagten Kohlenhändler Andre Hanne aus 
Montigny, welche am 8. Juli vor dem 
Reichsgericht in Leipzig stattfindet, sind ge- 
laden: August Fosset-Noveant, angestellt 
bei der Zeitung Le Messin in Metz, Be 
nedict Dreyfuß, Sekretariatsgehülfe bei der 
Kaiserlichen Staatsanwaltschaft in Metz, 
und Eigenthümer Deravelle -aus Montigny. 
Wien, 3. Juli. Ein siebenzehnjähriger 
Zögling der hiesigen Kadettenschule, Namens 
August von Molnar, erschoß sich mit seinem 
Dienstgewehr aus Furcht, daß er die 
Prüfung nicht bestehen werde. 
Wien, 3. Juli. Ein in der verflossenen 
Nacht hier niedergegangenes, von Hagel 
schlag begleitetes Unwetter richtete in den 
nordwestlichen Vororten von Wien be 
trächtlichen Schaden, namentlich in den 
Nebenanpflanzungen, an. Zahlreiche 
Fensterscheiben wurden zertrümmert. Das 
Wasser drang vielfach in die Keller- und 
Souterrainräumlichkeiten ein. 
Rom, 3. Juli. In den nächsten Tagen 
wird das angekündigte Amnestiedekret er 
scheinen, dasselbe wird alle Preßvergehen 
und Majestätsbeleidigungen umfassen. 
Spezia, 3. Juli. An Bord des Torpedo, 
bootes „Aquila" explodirte heute wäh- 
Aettestes und grlesenstes Klatt im Kreise Rendsburg. 
Anzeigen für die Tagesnummer werden bis 12 Uhr Mittags erbeten. 
-Ģ 88ster Jahrgang. 
Aonnerstag, den 4 Juli 
Bei Betriebsstörungen 
irgend welcher Art ist die regelmäßige Lieferung 
dieses Blattes vorbehalte». 
Als Beilagen 
werden dem Blatt „Der Landwirth" sowie das 
Blatt „Mode und Heim" gratis beigegeben. 
SVVÄ Abomrcttten. 
rend einer Versuchsfahrt in der Nähe von 
Mo Maggiore der Dampfkessel. Zwei 
Mann wurden getödtet. Ein Offizier, der 
Oberingenieur und einige Matrosen wurden 
verwundet. 
Tabor, 3. Juli. Heute früh sand in 
der Nähe des hiesigen Bahnhofs ein Zu- 
a m m e n st o ß der nach Pisek und nach 
Prag verkehrenden Personenzüge 
statt. Hierbei wurden 4 Personen schwer 
und 9 Personen leicht verletzt. 
Marseille, 3. Juli. 600 Arbeiter der 
großen Seidenspinnerei in La Patiniese 
ind in den Streik eingetreten; sie ver- 
langen die Ausweisung der italienischen 
Arbeiter. Unweit Chancery kam es zwi 
schen Franzosen und Italienern zu blutigen 
Streitigkeiten; ein Italiener wurde dabei 
getödtet, mehrere verwundet. 
Sofia, 3. Juli. Das Organ der uni- 
onistischen Minister „Progreß" hofft, daß 
die bulgarische Abordnung und der Metro 
polit Clemont mit denselben freundschaft- 
lichen Gefühlen in Rußland empfangen 
werden, mit denen sie ausgegangen seien. 
Rußland möge die ihm dargebotene Hand 
Bulgariens nicht zurückweisen. 
Belgrad, 3. Juli. Die Blätter fordern 
anläßlich der macedonischen Vorgänge die 
Armirung der Festungswerke von Nisch 
und Pirot und schleunigste Anschaffung des 
fehlenden schweren Geschützes. — Zwei 
höhere serbische Offiziere haben sich in be 
soliderer militärischer Mission nach Konstanti 
nopel begeben. 
Konstautinopcl, 3. Juli. Die Lage 
an der bulgarischen Grenze erregt unge 
achter der Beruhigungsnachrichten wegen 
der Nähe der gegenseitigen Truppen Be 
sorgnisse. 
Konstantinopel, 2. Juli. Auf den in der 
Nähe der Guineaküste gelegenen Prinzen 
inseln' hat ein Erdbeben stattgefunden. 
Dublin, 3. Juli. Ein Arbeiter fand 
auf der Straße eine Blechbüchse; als 
er den Deckel zu entfernen versuchte, ex- 
p l o d i r t e die Büchse. Die Kleider des 
Arbeiters wurden von Schrotschüssen durch 
löchert; ein Mann ist getödtet worden. 
Madrid, 3. Juli. Eine Depesche aus 
Cuba meldet: Major Chabran, an der 
Spitze won 240 Mann, schlug bei Castillo 
und Chayas eine Bande von 500 Auf 
ständischen und erbeutete 47 Pferde. — 
Das Kanonenboot „Magallenes" landete 
an der -Küste von Moravi eine Compagnie, 
die eine Bande von 400 Mann schlug und 
zahlreiche Aufständische verwundete. 
Außereuropäische Gebiete. 
Im Manjemagcbiet soll nach einer Mel 
dung des „Deutschen Kolonialblattes" aus 
Bukoba der Händler Stockes westlich von 
Ruanda überfallen, gefangen und ermordet 
worden sein. Er soll an Elfenbein 700 
Zähne bei sich geführt haben, die den 
Räubern in die Hände gefallen sein sollen. 
Bei Natacchi hat eine Schlacht stattge- 
stinden, in welcher dreihundert Soldaten, 
die zu dem Regimente des Bischofs Schu- 
maker gehörten, getödtet wurden. Die 
Regierungstruppen räumten sodann die 
Stadt und zogen sich, von den Insurgenten 
verfolgt, nach Quioto zurück. 
Für den bedauerlichen Zustand der Ver 
kehrsmittel und Verkehrswege Chinas spricht 
folgende Thatsache. Am 8. December 
vorigen Jahres wurden 3000 Stück Mann 
licher Gewehre nebst den dazu gehörigen 
60 000 Patronen von Canton aus auf 
dem Landwege nach Tientsin geschickt. Sie 
langten dort aber erst am 2. d. M., also 
nach säst vollen fünf Monaten an, 
und doch soll dies, wie es heißt, ein „Re 
cord"-Waarentransport zwischen Canton 
und Tientsin gewesen sein. 
Aus Majunga meldet das „B. T." 
Die Aufständischen in Trabonje und 
Ambato haben sich ohne Kampf zurückge 
zogen. General Duchesne dürste am 15 
August in Antananarivo eintreffen. Der 
Kämpf in der Provinz Bouni ist beendet. 
Der Gesundheitszustand des Expeditions 
korps ist gut. 
Eine furchtbare Tragödie hat sich in 
Louisville-Kentucky ereignet. Der Farmer 
Rhodes, der aus dem Gefängniß entlassen 
wurde, erschoß zwei Farmer, die gegen 
ihn gezeugt hatten. Dann begab er sich 
mit seiner Geliebten zu einem Trinkgelage. 
Als Beide heute früh von demselben beim- 
kehrten, wurden sie aus dem Hinterhalt 
durch die Köpfe geschossen und sofort ge 
tödtet. 
Frankreich. 
Paris, 3. Juli. Die Ursache des 
Brandes in der Militair-Effecten-Fabrik ist 
nunmehr ermittelt: Ein Arbeiter vergaß, 
den Gashahn bei einem Bügeleisen abzu 
drehen. Als er die Wcrkstätte verlassen 
hatte, wurde das Bügeleisen glühend, ent- 
zündete den Kautschuckschlauch, «nd das 
ausströmende Gas steckte zunächst die 
in der Nähe liegenden Gegenstände in 
Brand. 
Paris, 3. Juli. Der Kriegsminister 
hat aus Madagaskar ein Telegramm er- 
halten, das zeigt, daß der Dampfer „Notre- 
Dame du Salut" von Modjauga mit 247 
Soldaten und 5 Offizieren des 
Expeditionskorps in See gegangen ist, die 
wegen Krankheit in die Heimath 
zurückbefördert werden. Hiervon 
ind 89 bettlägrig und 158 Reconvales- 
centcn. Unter den kranken Offizieren be- 
findet sich ein Marine-Artilleriehauptmann 
und ein Stabsarzt. In Nossi-Be nimmt 
das Schiff noch 60 Kranke aus dem dorti 
gen Sanatorium auf. Es legt in Obock, 
Algier, Toulon und Marseille an. 
Paris, 2. Juli. Im Prozesse der Erben 
der Gräfin Civry, der morganatischen 
Gemahlin des Herzogs von Braunschweig, 
gegen die Stadt Gens entschied der Cassa 
tionshof in letzter Instanz zu Gunsten 
der Civri'schen Erben, denen die 
Stadt Genf nun einen großen Theil des 
Vermächtnisses im Betrage von einigen 
Millionen ausfolgen muß. Der Prozeß 
dauerte etwa zehn Jahre. 
statten. 
Drei Aussehen erregende Verhafi 
tungen werden aus Rom gemeldet. Dort 
nahm die römische Polizei den Professor 
Evaristo Alegiani, Archivar der Biblioteea 
Casanatense, fest. Professor Alegiani wird 
beschuldigt, einem Banquier einen Wechsel 
mit der gefälschten Unterschrift seiner 
Mutter, welche in zweiter Ehe die Gattin 
eines Bruders des verstorbenen Cardinals 
Antonelli ist, zum Discontiren angeboten 
zu haben. Prof. Alegiani soll auch Mit 
schuldiger der unlängst gleichfalls wegen 
Wechselsälschung festgenommenen Lebemänner 
Nicoletti Parpagnoli und De Angelis sein 
Unter derselben Anschuldigung wurde ferner 
die Sängerin Lina Bonheur-Parpagnoii 
verhaftet. An demselben Tage nahm die 
Polizei noch eine dritte sensationelle Ber 
Haftung vor. Ein gewifier Bellusci wurde 
als er aus Monte-Carlo heimkehrte, au: 
dem Bahnhöfe festgenommen und in's Ge 
fängniß gebracht. Eine Halbweltdame 
hatte ihm in Monte-Carlo 30 000 Lire 
anvertraut, die er einem in Neapel leben 
den Grasen überbringen sollte. Bellusci 
wird beschuldigt, das Geld unterschlagen 
zu haben. 
In Palermo fochten der Schlächter 
Crimondo und der Schuster Palaz 
zolo, zwei berüchtigte Mitglieder der 
Maffia, nach vorhergegangener Heraus 
fordernng ein Messerduell aus. Wäh 
rend des Kampfes drängte sich der Sohn 
ralazzolo's zu den Kämpfenden hin und 
fieß dem Schlächter hinterrücks sein Messer 
in den Leib. Crimondo stürzte sterbend 
zusammen, und Palazzolo warf noch höh- 
nend sein Messer nach dem Gefallenen. 
In demselben Augenblick aber brach er, 
von einem furchtbaren Beilhiebe getroffen, 
todt zusammen. Crimondo's Neffe, der 
hinzugeeilt war, um seinen Oheim zu 
rächen, hatte den Hieb geführt. Beide 
Mörder sind flüchtig und werden sich nun 
voraussichtlich ganz dem Brigantenleben 
hingeben. 
Aus Furcht vor der Gattin ins 
Gefängniß gekommen ist kürzlich ein Mai 
länder Pantoffelheld. Der Kasus würde 
zum Lachen reizen, wenn er nicht so ernste 
Folgen gehabt hätte Herr Soncini ist 
der glückliche Gatte einer niedlichen Frau, 
die ihren Herrn Gemahl jedoch an exem 
plarische Pünktlichkeit gewöhnt hat. Punkt 
7 Uhr Abends mußte Soncini zu Hanse 
sein. An einem der letzten Abende hatte 
er jedoch etwas stark gekneipt und kam 
erst — man bedenke! — um 9 Uhr nach 
Hause. Um das heraufziehende Unwetter 
zu beschwören, griff der biedere Bürger 
zu einem heroischen Mittel. Er erzählte 
der schaudernden Gattin, daß er auf dem 
Heimwege von vier Räubern überfallen, 
seiner Werlhpapiere und Kostbarkeiten 
beraubt und mit Mühe und Noth dem 
sicheren Tode entgangen sei. Um seiner 
romantischen Erzählung noch mehr Nach 
druck zu verleihen, hielt er es für ange- 
bracht, sie auch einem Polizisten gegenüber 
zu wiederholen und sogar eine bestimmte 
Persönlichkeit als einen von den vier 
Räubern zu bezeichnen. Das war sein 
Verderben! Die Polizei brachte bald her- 
aus, daß Alles eitel Wind sei, und steckte 
den verblüfften Pantoffelheld — der, neben 
bei bemerkt, einer der reichsten und be 
kanntesten Bürger Mailands ist — wegen 
wissentlich falscher Angabe ins Gefängniß. 
Möge ihn der strafende Arm der Gerech 
tigkeit nicht zu schwer treffen! 
Spanien. 
Skandalöse Vorfälle sind in Barcelona 
an's Licht gekommen. Die dortige Polizei 
entdeckte zahlreiche Lasterhöhlen in 
welchen sich Mädchen von sechs bis zu 
vierzehn Jahren befanden. Viele Herren 
aus den vornehmsten Kreisen Barcelonas 
sind schwer cvmpromittirt; einige haben sich 
ihrer bevorstehenden Verhaftung durch die 
Flucht entzogen. Bis jetzt wurden nur 
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ibefjör an 
An der MMrOrtc. 
Roman von Rcinhold Ortmann. 
„Ihr Bruder hat seine Studien also in 
Zürich betrieben?" 
„Ja! — Er war dahin geflohen! als 
er die harte Behandlung im Hause unseres 
Vormundes nicht mehr ertragen konnte. 
O, Sie würden ihn milder beurtheilen, 
Herr Doktor, wenn sie müßten, was er 
trotz seiner Jugend schon hat erdulden 
müssen. Wir sind von deutscher Herkunft, 
aber in Rußland geboren, wo mein Vater 
als protestantischer Geistlicher in den Ostsee- 
provinzen thätig war. Unsere erste Kindheit 
war sehr glücklich; aber ich war erst acht 
Jahre alt, als das schreckliche Verhängniß 
über uns hereinbrach. Bei Nacht und Nebel 
wurde mein unglücklicher Vater verhaftet. 
Er sollte sich in seinen _ Predigten einer 
Aufreizung zum Ungehorsam gegen die 
russische Obrigkeit schuldig gemacht haben, 
und obwohl er eine solche Anschuldiduug 
mit Entrüstung zurückwies, hat er doch daö 
-Licht der Freiheit nimmer wiedergesehen. 
Acht Monate lang schmachtete er int 
Ģefängnis, dann wurde ihm das Urtheil 
gesprochen, das auf Verschickung nach 
Sibirien lautete. Meine arme Mutter bol 
alles auf, was in ihren schwachen Kräften 
stand, um das furchtbare Schiksat von ihni 
abzuwenden. Sie warf sich den Macht 
habern z„ Füßen und beschwor unter 
heißen Thränen die Unschuld des Gefangenen. 
Aber cs war alles umsonst. Falsche Zeugen 
hatten gegen ihn ausgesagt, und man wies 
ihr, als sie unermüdlich blieb in ihren 
Bitten, übbernll mit rohen Worten die 
Thür. Nicht einmal ein Abschied von den 
Seiner wurde meinem Vater gestattet 
Seine -Gattin erfuhr von der erfolgten 
Verschickung erst, als schon ungezählte 
Meilen zwischen ihm und uns lagen. Von 
diesem Augenblick an verfiel sie in tiefe, 
unheilbare Melancholie. Alle ihre Gedanken 
waren mtr noch bei dem Verbannten, und 
sie hörte nicht mehr auf um ihn zu weinen. 
Unter solchen Eindrücken vergingen uns die 
Jahre, die -für andere Kinder die schönsten 
und sorglosesten ihres Lebens sind. Mein 
Bruder, ' der nur um dreizehn Monate 
älter ist als ich und der die Mutter mit 
schwärmerischer, fast abgöttischer Zärtlichkeit 
liebte, verlor die fröhliche Unbefangenheit 
der Jugend in einem Alter, das sonst den 
Ernst des Lebens kaum vom Hörensagen 
kennt. Er wurde damals zn einem ver 
düsterten, von unkindlichen Rachegelüsten er 
füllten Knaben, und die Strafen, die seine 
Lehrer wegen mancher unbedachten Aeußerung 
über ihn verhängen wußten, niachten ihn 
nur noch finsterer und verstockter. Dann 
kam die Nachricht von dem Tode meines 
Bakers, zugleich mit einem Briefe, den er 
wenige Siunden vor seinem Ableben ge 
schrieben. Der gemüthskranken Mutter 
sollte die Unglücksbotschaft verheimlicht 
werden, aber ein verhängnisvoller Zufall 
spielte ihr jenen Abschiedsbrief in die Hände, 
und man fand sie sterbend, denn sie hatte sich 
mit einer kleinen scharfen Stickschcerc die Puls 
adern zerschnitten. Verwaist und verlassen 
standen wir Kinder da." 
Sic halte sich bemüht, ruhig zu bleiben, 
aber ihre Brust hob und senkte sich nun doch 
in stürmischen Athemzügen und ihre thränen 
feuchten Augen glänzten fast unnatürlich 
groß in dem marmorweißcn Antlitz. In 
tiefster Seele erschüttert, reichte ihr Leopold, 
einem unwiderstehlichen Antriebe folgend, 
seine Hand. 
„Sie haben Furchtbares erleben müssen, 
mein Fräulein! — Verzeihen Sic mir, 
wenn ich vorhin gegen meinen Willen un 
freundlich gegen Sie gewesen bin." 
Helene nahm seine Hand, aber sie schüttelte 
zugleich abwehrend das Köpfchen. 
„Ich habe Ihnen nichts zit verzeihen, denn 
ich weiß wohl, daß Sie nicht anders urtheilen 
konnten als Sie es gethan. Aber die 
Leidensgeschichte meines Bruders ist noch 
nicht zu Ende. Ein entfernter Verwandter 
meines Vaters, ein höherer Beamter im 
russischen Staatsdienst, der schon früher zu 
unserem Vormund bestellt worden war, nahm 
uns in sein Haus. Auch er war seiner 
Abstammung nach ein Deutscher; aber er 
strebte nach Auszeichnungen und hohen 
Aemtern — darum schämte er si ch seines 
Ursprungs und war ein fanatischer Anhänger 
der panslavistischen Richtung. Für meinen 
Bruder, der zu stolz war, seine Gesinnung 
zu verheimlichen, begann-n unter der Zucht 
dieses Vormundes wahrhaft entsetzliche Leidens 
jahre. Denn je grausamer die Faust des 
herzlosen Mannes auf ihn lag, desto wilder 
und ungestümer beugte er sich auf gegen den 
Zwang, der ihn an Leib und Seele knechten 
wollte. Mit neunzehn Jahren entfloh er 
der unerträglichen Sklaverei und wandte sich, 
von einem wohlhabenden Freunde mit 
einigen Mitteln versehen, noch der Schweiz, 
um in Zürich seine eben begonnenen 
Studien fortzusetzen. In zahlreichen Briefen, 
von denen bei der strengen Aufsicht des 
Vormundes allerdings nur wenige in meine 
meine Hände gelangten, beschwor er mich, 
ihm dorthin zu folgen. Länger als ein 
Jahr widerstand ich der Versuchung, obwohl 
ich unsäglich unter der Trennnug von Arnold 
litt. Dann aber, als der Vormund eines 
Tages in meiner Gegenwart mit brutalen 
Worten das Andenken meines unglücklichen 
Vaters beschimpfte, duldete es auch mich 
nicht länger in dem verhaßten Hanse, und 
ich entschloß mich zur Flucht. Wir waren 
beinahe mittellos und fristeten unser Leben 
kümmerlich dadurch, daß ich Handarbeiten 
anfertigte und Musikuntericht ertheilte, während 
mein Bruder hier und da kleine, schlecht be 
zahlte Aussätze für Zeitungen schrieb. Als 
er vollsährig geworden war, wurde ihm 
jedoch sein elterliches Erbtheil auf Heller und 
Pfennig ausbezahlt, und unser Vormund, 
der bei alledem ein streng reeller Mann war, 
ließ uns auch das Wenige, das von der 
Einrichtung unseres Elternhauses noch vor 
handen war, nach Zürich senden. Wir hätten 
jetzt ganz glücklich sein können, wenn mein 
Bruder im Stande gewesen wäre, den Haß 
gegen die Gewalthaber zu ersticken, der schon 
von den Knabenjahren her in seinem Herzen 
glimmte. Aber die Freunde, die sich an 
ihn gehängt hatten, waren nur darauf 
bedacht, diesen Haß zu schüren, denn sie alle 
betrachteten sich als Feinde der bestehenden 
Ordnung, und sahen den Kampf gegen die 
Gesellschaft als die eigentliche Aufgabe ihres 
Lebens an. Was vermochten da meine 
Bemühungen gegen einen solchen Einfluß! 
Mehr als einmal war ich nahe daran, mich 
von ihm zu trennen; aber feine flehentlichen 
Bitten bewogen mich jedesmal, den Gedanken 
wieder aufzugeben; und dann hoffte ich ja 
auch noch immer, daß cs mir gelingen werde, 
ihn wenigstens vor vcrhängnißvollcn Schritte" 
zurückzuhalten, wie sie schon manchen seiner 
Gesinnungsgenossen ins Unglück gebracht- 
Meine Hoffnung wuchs, als er mir vor 
einigen Wochen ganz unerwartet mittheilte, 
daß er sich entschlossen habe, nach Deutsch 
land überzusiedeln, denn ich wähnte daß 
Alles gut werden würde, wenn er nur erst 
dem Einfluß seiner Freunde entzogen sei. 
Der gestrige Abend hat mir bewiesen, wie 
schwer ich mich darin getäuscht habe. Als 
er blutüberströmt und halb ohnmächtig nach 
Hause kam, theilte er mir in kurzen, abge 
rissenen Worten mit, was sich zugetragen. 
Wenn man seinen Aufenthalt jetzt entdeckt 
und wenn ihm die erste entehrende Bestrafung 
zu Theil wird, so ist er ans immer verloren. 
Denn nachher wird nichts mehr im Stande 
sein, seinen glühenden Haß zu ersticken. 
Begreifen Sic nun, Herr Doktor, warum ich 
Sie so flehentlich bat, ihn nicht zu verrathen, 
und warum ich thöricht genug war, noch 
darüber hinatts auf Ihre Hülfe zu hoffen?" 
„Es war keine Thorheit, Fräulein Randolfi, 
und Sie sollen sich in mir nicht getäuscht 
haben. Ich glaube, der bürgerlichen Gesell 
schaft besser zu dienen, >venn ich versuche, 
Ihren Bruder zu bekehren, als wenn ich 
ihn seinen Richtern ausliefere. Zählen Sic 
auf mich wie auf einen Freund." 
„Helene!" rief in diesem Augenblick die 
Stimme des Verwundeten aus dem Neben 
zimmer, und so tonnte sie Leopold nur noch 
mit einem warm beredten Blick für seine 
hochherzige Zusage danken. Dann traten 
sie beide bei dem Kranken ein, und es ent 
ging dem Arzt nicht, mit einem wie scharfen, 
mißtrauischen Blick ihn Arnolds dunkle 
Augen musterten. Aber er gab sich den
	        
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