Full text: Newspaper volume (1895, Bd. 2)

Gŗscheint tägļich. 
Màburger V Wochenblatt. 
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ArUrKrs mth gelesen stes im Kreise Rendsburg. 
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88ster Jahrgang. 
'r 
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Blatt „Mode und Heim" gratis bcigegeben. 
Abollncrltcn. 
Mo. 175. 
Dienstag, öen 30. Zut'i 
1895. 
Morgen-Depeschen 
Pose», 30. Juli. Nach einer Meldung 
ous Wrefchen ist in den im Kreise Wreschcn 
gelegenen Ortschaften ļionzno und Lipie 
die rothe Ruhr ausgebrochen. Mehrere 
Personen sind bereits daran gestorben. 
Görlitz, 30. Juli. Der hiesige Gesinde- 
vermiether Hermann tödtete den Schuh- 
mackergesellen Burkhardt durch Messer 
stiche und verletzte den Sattlergesellen 
Tauche lebensgefährlich. Der Mörder 
wurde verhaftet. 
Münster i. W., 30. Juli. Ein Kauf- 
rnannslehrling, welcher heute früh aus der 
Reichsbank mit einem Beutel, dessen In 
halt 700 Mk. betrug, erschien, wurde von 
einem Unbekannten mit einem Hammer 
niedergeschlagen und des Beutels beraubt. 
Berlin, 30. Juli. Tie Maurer Ber 
lins haben beschlossen, ab heute auf allen 
Bauten, wo ein Stundcnlohn von 50 Pf. 
und darunter gezahlt wird und sich die 
Kollegen einig sind, Lohnerhöhung zu ver 
langen und eventuell die Arbeit einzustellen. 
Frankfurt a. M., 30. Juli. Die „Frks. 
Ztg." meldet aus St. Johann a. Saar 
Ein heftiges Gewitter wüthete gestern Abend 
saarabwärts. In mehreren Ortschaften 
schlug der Blitz wiederholt ein, auch in 
mehrere Kirchen. Die Ernte ist schwer 
beschädigt. 
Tncst, 30. Juli. Der bekannte hiesige 
Advokat D. Beningher und seine Gattin 
haben sich durch Einatbmung von Leucht 
gas gelödtet. Ueber das Motiv zu der 
That ist noch nichts bekannt. 
Triest, 30. Juli. Es steht jetzt fest, 
daß bei der Katastrophe auf dem Dampfer 
„Maria Pia" 160 Personen nm's Leben 
gekommen sind, unter denen sich 49 Kinder 
befanden. 
Brix, 30. Juli. Wie nunmehr fest- 
gestellt, ist, beträgt die Zahl der Opfer 
der Eisenbahnkatastrophe bei Saint Brieux 
elf Todte und 33 Verwundete. Man ver 
muthet, daß die Entgleisung auf ein Ver 
brechen zurückzuführen ist, da derselbe Zug 
mit Pilgern im vorigen Jahre auf der- 
selben Strecke Gegenstand eines Anschlages 
gewesen ist und derselbe nur durch die 
Geistesgegenwart eines Maschinisten ge- 
rettet wurde. 
Brüssel, 30. Juli. Die Blätter be 
sprechen die gestrige große Kundgebung 
und deren Bedeutung in verschiedenartiger 
Weise. Die katholische Presse meint, die 
Manifestation, in welcher das soziale Ele- 
ment vorherrschend gewesen sei, beweise, 
daß das Schulgesetz eine Nothwendigkeit 
sei, da durch dasselbe die religiösen Ge 
fühle wieder gehoben würden. Die radikalen 
Organe schreiben: Wenn die Sozialisten 
und die Liberalen bei den nächsten Wahlen 
wieder so zusammengehen, wie gestern im 
Zuge, so haben sie das Schicksal der Volks 
Unterdrücker in ihren Händen. Es genügt 
dann, sich zu vereinigen, um die reaktionäre 
Regierung zu erwürgen. 
Konstinitinopcl, 30. Juli. Nach hier 
eingelaufenen Konsulatsberichten ist der 
Ausstand in Macedonien — entgegen den 
optimistischen Meldungen von offizieller 
Seite — in der Zunahme begriffen. Die 
Berichte besagen, daß die Insurgenten von 
bulgarischen Offizieren geführt würden, 
gut bewaffnet und mit Dynamitbomben 
ausgerüstet seien. Sie treten in großen 
Abtheilungen auf und wagen sich selbst an 
die bedeutenderen befestigten Plätze heran 
Falls die Truppen in Macedonien nicht 
sehr rasch und ausgiebig verstärkt werden, 
dürfte die Unterdrückung des Aufstandes 
in kurzer Zeit unmöglich sein. 
Ausland. 
Außereuropäische Gebiete 
Jokohama, 28. Juli. Das Reuter'sche 
Bureau meldet: Als in der vergangenen 
Nacht um 1 Uhr ein außer der Lokomotive 
aus 23 Waggons bestehender Eisen 
b a h n z u g mir 400 invaliden Soldaten 
auf der Fahrt von Hiroshima nach Kobe 
bei furchtbarem Sturmwind eine 
exponirte Stelle an der Seeküste passirte, 
trafen gewaltige Wasserwogen den Zug am 
Anfang und am -Ende mit solcher Wucht, 
daß derselbe in zwei Theile a u s e i n 
a nderge sprengt wurde. Der vordere 
Tyeil, bestehend aus der Lokomotive und 
11 Waggons, stürzte in die See. 140 
Personen sind umgekommen. 
Washington, 28. Juli. Nach amtlichen 
Mittheilungen, ist die aus Market Lake 
gemeldete Nachricht von der Ermordung 
der Bevölkerung des Jackson-Hole- 
Thales vollkommen unbegründet. 
England. 
London, 29. Juli. Das Reuter'sche 
Bureau meldet aus Uokohama von heute: 
Seit Ausbruch der Cholera in Japan sind 
9000 Fälle vorgekonimen, wovon über 
5000 tödtlich verliefen. 
London, 29. Juli. In London mehren 
üch die Selbstmorde. Seit langen 
fahren haben sich in der brittischen Haupt 
stadt nicht sovielc Menschen ihr Leben ge 
nommen. Es hat in dem laufenden Monate 
Tage gegeben, wo zehn Leute ihrem 
Leben ein Ende machten. Die große Hitze 
wird als die zunächstliegende Gelegenheits 
ursache bezeichnet. Es befanden sich unter 
den Selbstmördern auch viele unter 18 
Jahren. Es giebt augenblicklich kaum ein 
Londoner Hospital, in dem nicht mindestens 
ein Patient vorhanden ist, der sich selbst 
zu entleiben versucht hat. 
Griechenland. 
Athen, 29. Juli. Der König ist 
nach Aix-les-Bains abgereist. Während 
der Dauer seiner Abwesenheit übernimmt 
der Kronprinz die Regentschaft. 
Rußland 
Neun Pferdehändler sind in der 
Nähe von Anwroffijewka im Gouvernement 
Taganrog ermordet und beraubt aufge 
funden. Die Mörder sind bald darauf 
auf dem Jahrmarkt ergriffen worden, die 
geraubte Summe, etwa 48 000 Rubel, 
wurde bei ihnen vorgefunden. Sie hatten 
die Pferdehändler zuerst durch Morphium 
betäub! und dann ermordet. 
Oesterreich-Ungarn. 
Budapest, 27. Juli. Eine Offiziers- 
Wittwe Namens Adele Simon sits 
wurde in Karlsbruuu verhaftet, weil 
sie auf den Namen des Erzherzogs Eugen 
Wechsel in Höhe von 7500 fl. fälschte. 
Eine schreckliche Brandkata 
strophe hat im Grubergule im Bezirk 
Taxenbach in Salzburg nicht nur das An 
wesen vernichtet, auch der Besitzer, dessen 
Gattin, zwei Kinder irn Älrör "von 5 und 
8 Jahren, zwei Mägde, im Ganzen sechs 
Menschen, fanden dabei den Tod. Eine 
Magd rettete zwei Kinder und erlitt ziem 
lich schwere Brandwunden. Der Besitzer 
des Gutes, ein noch junger Mann, Na 
mens Langbrandner, wollte die im ersten 
Stock schlafenden Kinder retten. Er und 
seine Gattin versuchten, da der Rückweg 
durch die Thür nicht mehr möglich war, 
die Fenstergitter auszubrechen, doch waren 
ihre Anstrengungen vergeblich. Die mit 
Brandwunden bedeckte Magd, die mit den 
geretteten zwei Kindern zu einem Nachbar 
lief, hörte noch lange entsetzliche Hülferufe 
der Unglücklichen. Das Feuer war um 12 
Uhr Nachts zum Ausbruch gekommen, als 
alle Inwohner im tiefen Schlaf lagen. Die 
Taxenbacher Feuerwehr wurde allarmirt, 
konnte aber keine Hilfe bringen, da sie eine 
Meile bis zur Brandstätt/ zurückzulegen 
hatte, welche hoch und einsam liegt. 
Aņļand. 
in den 
„Rhein, 
von den 
in den 
- Reichskanzler Fürst Hohenlohe 
wird am 15. k. Mts. von Außen nach 
Berlin zurückkehren und sich unmittelbar 
nach den mit der Grundsteinlegung des 
Kaiser Wilhelm-Denkmals verbundenen Fest 
lichkeiten wieder aus seine Güter in Süd 
deutschland begeben. 
— Die ausAnlaßdcshan u over- 
scheu Spielerprozesses ver 
abschiedeten Offiziere werden 
zum Theil wieder in Gnaden 
Dienst ausgenommen. Die 
Wcstfäl. Ztg." theilt mit, daß 
verabschiedeten Offizieren einer 
Dienst einer fremden Armee getreten fei; 
den übrigen habe man es nicht für immer 
entgelten lassen wollen, daß sie einst in 
einer schwachen Stunde leichtsinnig ge 
wesen und sich mit dem Gesindel der 
Buchmacher und Falschspieler zum Spiel 
niedergelassen hatten. So seien nach und 
nach wieder eine Anzahl Offiziere in die 
Armee eingetreten. Man hat die Form 
gewählt, daß sie zunächst als Leutenants 
der Reserve wieder angestellt und dann 
zur Dienstleistung auf eine bestimmte Zeit 
bei einem Regiment kommandier wurden. 
Führen sie sich gut nach jeder Richtung 
hin, so erfolgt ihre Wiederanstellung im 
aktiven Heer. So ist erst kürzlich ein 
Premierlieutenant, der als ein vorzüglicher 
Offizier galt, als Premierlieutenant der 
Reserve wieder angestellt. Selbstverständ 
lich könnten nicht alle Offiziere, die in 
Folge des Prozesses verabschiedet wurden, 
darauf rechnen, wieder eingestellt zu werden 
Bei denjenigen, die mit schlichtem Abschied 
entlassen wurden, ist die Wiedereinstellung 
vollständig ausgeschloffen. 
— Gesetz gegen die großen 
Waarenbazarc. Wo die modernen 
Waarenbazare auskommen und nicht nur 
die kleinen Leute, sondern auch einen großen 
Theil aller Geschäfte überhaupt aufsaugen, 
indem sie Waaren jeder Art theiliveisc zu 
billigen Lockpreisen anbieten, da finden sie 
wachsende Anfeindung bei der übrigen Ge 
schäftswelt und erregen auch starke Be 
denken bei dem ernsten Sozialpolitiker. In 
Paris hat man versucht, die Weiterent 
wickelung der großen Waarenhäuser durch 
eine progressive Erwerbssteuer zu verhin 
dern. In der Republik jenseits des großen 
Meeres drängt man zu einem weitergehen 
den Einschreiten. Der Senat von Illinois 
hat einen Gesetzesvorschtag angenommen, 
wonach irgend ein Geschäftsladen, in dem 
mehr als eine Gattung von Waaren an 
geboten wird, als ein Gemeindeschaden an 
gesehen wird und demgemäß von der be 
treffenden Behörde behandelt werden soll. 
Die Volksvertretung war noch nicht in der 
Lage, über diesen Gesetzentwurf zu be 
rathen. Begründet wird er mit Hinweis 
auf die Ergebnisse einer Untersuchung über 
die Rückwirkungen der großen Waarenba 
zare, die nicht dem allgemeinen Wohle die 
nen, die vielmehr zur Errichtung von Mo 
nopolen und zur Unterdrückung der Kon 
kurrenz führten. Man wird über kurz 
oder laug auch in Deutschland genöthigt 
sein, der Frage näherzutreten, ob jene Fir 
men zunächst steuerpolitisch empfindlicher 
als bisher zu belasten sind, die durch Be 
trieb großer Waarenbazare oder durch 
Gründung zahlreicher Zweiggeschäfte cen- 
tralisirende und monopolisirende Tendenzen 
bekunden, denen sozialpolitische Erwägungen 
sehr ernster Natur entgegenstehen. 
Berlin, 29. Juli. Die vertrauliche 
Konferenz der maßgebenden Vertreter 
der Vorstände deutscher Jnnungs- 
verbände und Jnnungsausschüsse 
hat heute begonnen. Im Aufträge der 
Regierung waren Geh. Reg.-Rath Dr. 
Wilhelmi vom Reichsamt des Innern, und 
Geh. Ober-Reg.-Rath Dr. Sieffert von 
der Gewerbe-Abtheilung des Handelsmini 
steriums erschienen; ferner die Gewerbe 
kammer-Sekretäre Dr. Jacobi-Bremen und 
Dr. Bremer-Lübeck, sowie der Vorsitzende 
der Dresdener Gewerbekammer Buchdrücke» 
reibesitzer Schröer. Die Regierung hak 
der Konferenz vier Vorlagen unterbreitet, 
welche die Organisation des Handwerkes, 
das Lehrlingswesen, die Handwerkerkam- 
mern und den Meistertitel betreffen. Die 
Frage des Befähigungsnachweises wird 
nicht in Betracht kommen. Für die Ver 
handlungen sind drei Tage in Aussicht 
genommen. Man erwartet die Annahme 
der Vorlagen mit unwesentlichen Abände 
rungen. 
— Zur Lage d e s Handwerks 
hat der Verein für Sozialreform Unter 
suchungen in Schleswig-Holstein, Bor- und 
Hinterpommern anstellen lassen und be 
richtet nun zunächst über die Lage der 
Schuhmacherei: „Es ist wenig er 
freulich, was wir zu sagen haben. Man 
kann es dahin zusammenfassen: die indu 
strielle Fabrikation richtet das Handwerk 
zu Grunde. Denn wenn sich Uebelsätze in 
den Absatzverhältnissen zeigen, daß der alte 
5) 
Im laittie aller Schuld. 
Roman von Gustlav Höcker. 
IV. 
Es war am Nachmittag, als Baron von 
Sturm in demselben Berliner Hotel ab 
stieg, wo er bereits als Knabe mit seinen 
Eltern gewohnt halle. 
Seine Besuche bei Maitland und dem 
Justizrath Earns verschob er vorläufig noch, 
da sic ihm gesellschaftliche Verpflichtungen 
auferlegen konnten, die ihm hinderlich ge 
wesen wären. Um sich den Eindrücken der 
Neichshauptstadt unbefangen hingeben zu 
können und im Gemühte derselben nach der 
schönen Aniazonc zu forschen, mußte er sich 
ganz allein angehören. In einem so eng 
zusammengedrängte», vielgestaltigen Welt- 
leben aber ist niemand sein eigener Herr; 
ungcsuchtc und unerwartete Beziehungen 
heften sich wie Fußangeln an die Schritte 
dessen, der diesen Boden betritt, und führen 
ihn oft weitab von dem Ziele, das er sich 
gesteckt, oder bringen ihn auf ganz andern 
Wegen, als er sich gedacht, demselben näher. 
Diese Erfahrung sollte auch Wolfgang 
machen. 
Er begann gleich nach seiner Ankunft eine 
Wanderung in den Straßen und ließ sich 
vom Strome tragen. Seine Erinnerungen 
an die Millionenstadt aus seiner Jugendzeit 
waren sehr unvollkommen, daher erschien ihm 
alles neu und er fühlte sich wie betäubt, von 
dem rastlosen, buntscheckigen Hasten und 
Jagen, welches sich zwischen majestätischen 
Häuserfronten auf den breiten Straßen, auf 
deren glatten Asphaltbodm das Klappern der 
Pfcrdchufe nicht mehr zu hören war, als das 
Rollen der Räder, vor seinen Blicken abspielte. 
Es begann bereits zu dunkeln, als er nach 
seinem Hotel zurückkehrte. Wie Glühlichtcr 
flamnlten die tausend und abertausend Laternen 
auf, hier und da ergoß auch elektrisches 
Licht seinen weißen Glanz weit über die 
Wolfgang befand sich eben in einer der 
schmäleren Straßen, wo das Gedränge von 
Wagen und Fußgängern nahezu erdrückend 
und lcbmsgefählich war. Da ertönte plötzlich 
ein schrilles, heftiges Klingeln, — alle Fuhr 
werke wichen zur Seite und wie die wilde 
Jagd kanl die Feuerwehr heran, — drei 
fünf — acht, zehn Wagen hintereinander. 
Wie erzene Gestalten standen im Scheine 
der Fackeln die Feuerwehrmänner auf den 
blitzblanken Löschwagen. Rasch, wie es Hera»: 
gestürmt war, verschwand das von einer feu 
rigen rothen Wolke umqualmtc Bild wieder. 
Wolfgang von Sturen aber stand wie gebannt. 
Er sah das Antlitz seiner gcheimnißvollen 
Unbekannten, — es war keine Verwechslung, 
keine Aehnlichkeit, — zu fest halten sich diese 
Züge in sein Herz gegraben. Der grelle 
Schein der vorüberfliegendm Fackeln war hell 
ans das süße Gesicht gefallen, und jetzt, wo 
es in das mattere Licht der Straßenlaternen 
zurücktrat, hielt er es noch immer unverwandt 
niit seinen Blicken fest. Sie saß in einer 
offenen Equipage an der Seite einer andern 
Dame, deren Antlitz durch das ihrige verdeckt 
ķî' - d^och hielt der Wagen unter der 
..caifc ineinander verfahrener Fuhrwerke, die 
sich langsam wieder entwirrte. Aber auch 
Wolfgang sah sich von der Menschenfluth, 
die sich um ihn her fcstgestant, an jeder 
freieren Bewegung gehindert. Es mar un- 
an den Wagen zu gelangen. Er 
bemerkte, wie die Dame nach ihrer Uhr sah 
und mit der Anderen sprach. Offenbar 
fürchteten beide, verspätet das Ziel ihrer Fahrt 
zu erreichen, denn es wurden einige Worte 
mit dem Kutscher gewechselt, welcher bedauernd 
die Achseln zuckte. Wohin wollten sie? Für 
Theater oder Concert war es viel zu spät. 
Der Baron wollte seine Uhr zu Rathe ziehen, 
aber — die Tasche, worin er sic trug, war 
leer. Betroffen blickte er an sich herunter, 
als er auch die schwere goldene Kette nicht 
fühlte. Sie war ebenfalls verschwunden. Der 
Verlust der Uhr war unersetzlich, nicht weil 
sie einen Werth von mindestens tausend Mark 
hatte, sondern weil sic ein von Wolfgang 
heilig gehaltenes Andenken an seinen Vater 
war. 
Ein anständig gekleideter junger Mann 
bemerkte seine Bestürzung und sah an den 
tastenden Bewegungen seiner Hand, daß er 
etwas vermißte. 
„Sind Sie eben bestohlen worden, mein 
Herr?" fragte er theilnehmend, indem er 
näher herantrat. 
„Meine sehr werthvolle Uhr sammt Kette 
ist fort," antwortete der Gefragte. „Ich 
fürchte, beides ist die Beute eines Taschendiebs 
geworden, der den Augenblick, wo meine Auf 
merksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand 
gerichtet war, geschickt zu seinen! Gaunerstreich 
benutzt hat, denn ich erinnere mich genau, 
daß ich vor Ankunft der Feuerwehr die Uhr 
noch hatte." 
Erst jetzt sah Wolfgang sich wieder nach 
dem Wage» mit den beiden Damen um. Er 
war verschwunden. 
„Alls erfahrener Berliner würden Sic in 
einem solche» Gedränge vorsorglich Ihren Rock 
zugeknöpft haben," sagte der junge Mann. 
„Ich muß daher annehmen, daß Sie hier 
fremd sind." 
„Ich bin erst heute angekommen. Ich 
denke, cs wird das beste sein, wenn ich im 
nächsten Polizerbüreau Meldung mache.' 
„Eine unmittelbare Anzeige bei der Krimi 
nalpolizei wäre noch besser," versetzte der 
Andere, „aber die Bureaux derselben sind 
um diese Zeit schon geschlossen. Indessen 
trifft cs sich sehr glücklich," fügte er, wie 
von einem plötzlichen guten Einfall erleuchtet, 
hinzu, „daß der Kriminalcommissar Nuglisch, 
mit dem ich bekannt bin, hier in der Nähe 
Abends sein Glas Wein zu trinken pflegt. 
Wenn Sie mich begleiten wollen, so könnten 
Sie ihm Ihr Mißgeschick mittheilen, und es 
könnte dann noch heute Abend etwas in der 
Sache geschehen, denn rasches Handeln ist 
hier vor großer Wichtigkeit." 
Der Baron war unschlüssig. Der fremde 
junge Mann sah ihm das an. 
„Assessor von Malten," stellte er sich ihm 
vor. 
Wolfgang blickte ihm etwas überrascht ins 
Gesicht. Für einen Assessor erschien ihm der 
Fremde noch sehr jung, wenn diese schlaffen 
Züge verlebt waren; sic konnten aber auch 
ebenso gut das reifere Alter andeuten, welche 
seine BcrufsstcÜung erforderte. Name und 
Stand thaten zu den angenehmen Manieren 
des gefälligen Herrn noch das Ihrige. Wolf 
gang nannte seinen Namen ebenfalls und 
olgte dem Assessor die Staße entlang. 
Sie hatten nicht weit zu gehen. Assessor 
von Malten bog in ein Haus ein und führte 
einen Begleiter durch einen langen Hof in 
ein am Ende desselben gelegenes, sehr chi 
nches Gastzimmer. 
Es waren keine Gäste da, als drei Herren 
von verschienem Alter und sehr distinguirtem 
Aeußern, welche an einen Seitentisch Karte 
spielten. 
„Ist der Kriminalcommissar Nuglisch noch 
nicht hier gewesen?" fragte der Assessor dm 
Wirth. 
Wolfgang sah nicht, wie der Assessor dem 
Wirthe mit den Augen zuzwinkerte und dabei 
eine leichte Kopfbewegung nach seinem vor 
nehmen Begleiter machte. 
„Nein, er war noch nicht da," antwortete 
laut der Wirth, das Zeichen sogleich ver 
stehend, „aber er kommt ganz gewiß noch." 
Der Assessor bestellte sich Wein und em 
pfahl deni Baron die gleiche Marke. „Sie 
meinen also," fragte dieser den Assessor, „daß 
es einen Zweck haben könne, wenn ich hier 
auf Ihren Bekannten warte?" 
„Ei, natürlich!" versicherte der Gefragte. 
Sic können Ihre Sache in keine bessern 
Hände legen. Nuglisch ist der schneidigste 
und findigste Kriminalbeamte in ganz Berlin." 
Der Assessor erzählte hierauf vom Kriminal- 
commiffar eine Reihe Bravourstückchm, die 
sehr unterhaltend warm und einen überraschen 
den Einblick in die Berliner Verbrecherwelt 
eröffneten. 
Vom Tische der Kartenspicler her tönte 
ein lautes Gähnen. 
„Der Skat langweilt mich heute," sagte 
unter neuem Gähnen der älteste der drei 
Herren, dessen Physiognomie mit dem starken 
grauen Schnurrbarte etwas Militärisches hatte. 
„Machen wir ein anderes Spielchen! Da 
meine Frau und meine Tochter im Opern 
hause sind, so habe ich heute länger» Urlaub." 
Der Baron sah, wie nun jeder der Spie 
lenden ein Häufchen Geld neben sich legte. 
Der militärische Herr nahm drei Karten i'.
	        
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