Full text: Newspaper volume (1934, Bd. 1)

Jur Unterhaltung 
Rr. 62 
Beilage der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (Rendsburger Tageblatt» 
Mittwoch, den 14 März 1934 
Aus dem Leben des „Admirals" Louis August Lange 
„Uns Admiral" nannten ihn seine Arbeiter 
und drückten so ihren Stolz und ihre Ehrfurcht 
vor ihrem alten Herrn aus, Admiral Lange 
Aeß er auch in der Altonaer Bevölkerung bis 
un sein Lebensende. Louis August Lange 
wurde in Apenraöe im Jahre 1825 als Sohn 
klnes Schuhmachers, der in der Neuen Straße 
wohnte, geboren. Die Willensstärke Mutter 
mhrte unter ihren Kindern ein scharfes Regi 
ment, ihre sechs Söhne haben später im Leben 
ulle hervorragende Stellen bekleidet, am be 
kanntesten wurde das Sorgenkind Louis; 
^ouis war eine Art verlorener Sohn. Er war 
wit 14 Jahren ein lang aufgeschossener Junge, 
energisch in seinen Bewegungen, von hitziger 
Gemütsart. Im Winter 1840 liefen die Inn 
ren von Apenrade auf dem brüchigen Eis 
Schollen. Louis glitt dabei aus und geriet ins 
Wasser. Als er durchnäßt nach Hause kam, 
uanü ihn die erzürnte Mutter am Ofen fest 
Und ließ ihn so lange stehen, bis er trocken 
war. Innerlich erbittert, aber schweigend 
fügte sich der Sohn. Am nächsten Morgen sollte 
ver Geöemütigte seinem Lehrer ein Paar Stie 
sel überbringen, die neu besohlt waren. Die 
ser empfing ihn mit den scherzhaften Worten: 
„Nun, du Schusterjunge, da bist du ja", — aber 
Louis, dessen Gemüt noch heftig erregt war, 
wollte den Titel „Schusterjunge" nicht aus sich 
ätzen lassen, er warf dem erstaunten Lehrer 
we Stiefel vor die Füße und ein dickes Buch 
un den Kopf und lief aus der Klasse. Ein 
Ausschluß aus der Schule wäre die Folg^ ge 
wesen. Louis, der Draufgänger, entzog sich der 
Maßregelung und entwich nach Australien. Ge 
gen den Willen seiner Mutter wollte er, wie 
es damals unter der Jugend an der Wasser 
kante üblich war, Seemann werden. Er wan 
derte nach Hamburg und faird ein Schiff, das 
chn drei Jahre auf „Langfahrt" entführte. —- 
Eines Tages stand Louis, der in seinem Zorn 
auch nicht an seine Eltern geschrieben hatte, 
Nach seiner Rückkehr als Matrose siegessicher, 
breit und braungebrannt vor der Tür seines 
Elternhauses. Er schickte einen Bekannten zu 
feiner Mutter und ließ ihr sagen, Louis wäre 
wieder da, ob er kommen dürfe? So kam der 
verlorene Sohn in sein Elternhaus, und als 
er die ersparte Heuer seiner Mutter auf den 
Tisch legte, war sie mit seinem Seemannsberuf 
einverstanden. Nach einigen Wochen fuhr er 
als Grönlandfahrer nach dem Norden, später 
ging er auf „Schule" in Barsmark auf der 
Halbinsel Loit in Nordschleswig, zu einem 
alten Kapitän, der die Seefahrer auf das 
Steuermannsexamen vorbereitete. Als dann 
die Schleswig-Holsteiner ihre deutsche Freiheit 
iw Kriege 1848—51 gegen Dänemark verteidig 
ten, wurde er zunächst erster Offizier auf dern 
Postdampfer „Bonin" und befehligte alsbald 
vie am 5. April 1849 bei Eckernförde eroberte 
dänische Fregatte „Gefion". Als das Schiff an 
den „Norddeutschen Bund" ausgeliefert »ver- 
Von August Krieger. 
den mußte, wurde er Führer des Kanonenboo 
tes „Von der Tann". Dieses Kriegsschiff, von 
Schrauben getrieben, dessen Bau durch emsige 
Sammlungen schleswig-holsteinischer Frauen 
ermöglicht wurde, im Volke „De Schruw" ge 
nannt, war gegenüber den üblichen Raddamp 
fern eine Neuerung. 
Ueber die kurze Heldenfahrt des Schiffes 
läßt Detlev von Liliencron in seinem Buche 
„Up ewig ungedeelt" den Leutnant der schles 
wig-holsteinischen Marine selbst erzählen: 
„Das Kanonenboot hatte zwei Prisen aufge 
bracht und sich in den Hafen von Travemünde 
zurückgezogen, weil dänische Kriegsschiffe, dar 
unter die „Hekla", ihm die Ausfahrt aus der 
Neustädter Bucht erschwerten. Der Platzkom 
mandant verlangte, obwohl Lübeck den Schles 
wig-Holsteinern Hilfstruppen gesandt hatte, 
die Auslieferung der Prisen, er wollte dem 
Schiff den Aufenthalt ün neutralen Hafen 
nicht gestatten. Er wies dabei drohend auf 
seine Stadtsoldaten hin. Vor den Augen des 
Ortskommandanten ließ Lange alle Kanonen 
seines Schiffes laden und sprach dann mit dem 
Lübecker einige Worte deutsch. „So, also den 
„von der Tann" wollt Ihr öesarmieren? 
Wenn ich in Ihnen nicht den Beamten der 
Freien und Hansestadt Lübeck achtete, würde 
ich Sie mit eigenen Händen über Bord wer 
fen. Herr! Wissen Sie überhaupt, was es be 
deutet, wenn Sie einen Marineoffizier auffor 
dern, die Waffen abzuliefern? Bevor ich das 
tue, sprenge ich mein Fahrzeug mit allem, was 
drauf und dran ist, Sie natürlich mit, in die 
Luft. Auf den ersten Schuß, der von Ihren 
Bürgergardisten auf uns abgegeben wird, lasse 
ich meine Geschütze sprechen. Sie aber, mein 
Herr, mögen sich einen Platz in den Raaen 
aussuchen, denn in demselben Augenblick, in 
dem mein Fahrzeug angegriffen wird, lasse ich 
Sie an der Raa aufhängen!" 
„De Kerl harr sick banni erschrocken", erzählte 
Lange später, „un wull sick up't Parlanrentie- 
ren leggen." — Der Kommandant ließ sich 
Mlrrlei aus aller WM. 
Die zwölfjährige Flugzeugfiihrerin. 
In Konkurrenz mit einer 15jährigeu. 
Die Rekorde weichen von Amerika. Sogar 
auf dem Gebiet des Flugivesens. Die schnell 
sten, die höchsten und die Flieger, die am 
längsten in der Luft bleiben, sind Europäer. 
Und nun auch die jüngsten Piloten. Diese 
Jüngsten sind übrigens Mädchen! 
Die 15 Jahre alte Joan Hughes aus Lough- 
tou beansprucht heute den Titel der jüngsten 
weiblichen Fliegerin für sich. Denn sie machte 
drei Aufstiege ganz allein gewissermassen „aus 
Kredit" für ihre Flugzeugprüfung. „Sie steigt 
auf und landet wie ein alter Luftfahrer!" ha 
ben ihr die Fluglehrer bestätigt. 
Gelernt hat Joan das Fliegen eigentlich 
ganz inoffiziell und gegen den Willen ihrer 
Eltern, von denen sich nur der Vater bisher 
mit dem Rekordtitel der Tochter versöhnt hat. 
Uebrigens wird Joan ihren Titel kaum sehr 
lange behalten, denn die 12 Jahre alte Lady 
Mary Stewart, die jüngste Tochter des Lord 
Londonderry, des Luftfahrtministers, macht 
ihr schwer Konkurrenz. Trotz ihrer 12 Jahre 
hat sie schon ein Flugzeug ganz selbständig in 
die Luft emporgebracht. Sie nimmt zur Zeit 
noch Flugunterricht und wird bald ihren er 
sten Soloflug tun. Dann ist s i e die jüngste 
Pilotiu Englands und wohl auch der Welt. 
Wahnsinniger ans dem Berggipfel. 
Auf dem Milchpaßloch, einem Felsgipfel in 
der Nähe von Bern, hat sich seit einigen Tagen 
ein Irrsinniger verschanzt. Alle Versuche, ihn 
zur Rückkehr zu bewegen, sind bisher fehl 
geschlagen. Es handelt sich um einen aus Grin- 
delwalö stammenden Patienten, dem es gelang, 
aus einer Lei Bern lingenöen Nervenheil 
anstalt zu entfliehen. Er konnte ungehindert 
in die Berge gelangen und vollbrachte hier ein 
alpinistisches Meisterstück. Ohne jegliche Hilfe 
und auch ohne die nötige Ausrüstung erklomm 
er den Milchpaßloch, einen Gipfel, der selbst 
geübten Alpinisten größte Schwierigkeiten be 
reitet. Das Personal des Irrenhauses hatte so 
fort Nachforschungen angestellt. Es gelang je 
doch erst nach einigen Tagen, den Entflohenen 
auf jenem Gipfel aufzuspüren. Doch dieser ließ 
keinen seiner Verfolger herankommen. Er hatte 
unbegreiflicherweise eine Pistole bei sich, mit 
welcher er alle Versuche der Wärter, ihn in 
ihre Gewalt zu bekommen, zunichte machte. 
Schließlich gaben sie ihre aussichtslosen Be 
mühungen auf. Man war gezwungen, den Ir 
ren auf dem Gipfel seinem Schicksal zu über 
lassen, wenn man nicht noch andere Menschen 
leben aufs Spiel setzen wollte. Man hat von 
dem Irren bis jetzt nichts wieder gesehen. Viel 
leicht hat er einen Abstieg versucht, der ihm 
aber aller Wahrscheinlichkeit nach mißglückt sein 
dürfte, da er seit Tagen keinerlei Nahrung zu 
sich genommen hat, und außerdem in den 
Bergen zurzeit grimmige Kälte herrscht. 
Die größte Perle wandert. 
Die größte Perle der Welt, die einst Maria 
Antoinette gehörte, befindet sich seit einigen 
Tagen in Delhi. 
„Na, Bubi, freust du dich schon auf den Oster 
hasen?" 
„Was heißt Osterhase? Das ist genau »vie 
mit dem Weihnachtsmann und dem Klapper- 
storch. Das ist doch alles Vati!" 
durch keine Drohungen einschüchtern, er blieb, 
so lange es ihm beliebte, auf dem Strome lie 
gen und verließ erst bei dem Einbruch der 
Dämmerung den Hafen. In der Nacht vom 20. 
zum 21. Juli schoß er sich mit drei dänischen 
Schiffen, darunter der großen „Hekla", herum, 
beschädigte die Fahrzeuge durch glühend ge 
schmiedete Bomben, mußte aber das Gefecht 
abbrechen, weil der Lotse das Schiff auf Grund 
setzte. Die Mannschaft sang „Schleswig-Hol 
stein meerumschlungen" und verließ das bren 
nende Schiff. Leutnant Lange legte Feuer an 
die Pulverkammer und ging als letzter von 
Bord. Kurz darauf erhob sich eine Feuersüule 
von 150 Meter Höhe aus dem Meere, das 
Schiff sprang in die Luft. 
Heute, wo die Einheit Deutschlands Wirk 
lichkeit geworden ist, wird die frühere Ohn 
macht und innere Zwietracht des Vaterlandes 
durch dieses Schulbeispiel der Geschichte illu 
striert. 
Die schleswig-holsteinischen Patrioten muß 
ten nach dem unglücklichen Ausgang des Krie 
ges für ihre Ueberzeugung leiden. Lange 
mußte von seiner Verlobungsfeier, weil er 
verfolgt wurde, nachdem er schnell getraut war, 
mit seiner jungen Frau fliehen. Er wandte sich 
zunächst nach Valparaiso, später nach San 
Franzisko. In diesem Goldlande hielt er sich 
ein Jahr lang auf und kehrte dann, als die 
Verhältnisse ruhiger geworden waren, in seine 
Heimat zurück. „Admiral Lange", wie er ge 
nannt wurde, wurde eine geachtete Persönlich 
keit, er bekleidete mehrere Ehrenämter. Als im 
Jahre 1909 der stolze Panzerkreuzer „von der 
Tann" bei Blohm u. Voß erbaut, vom Stapel 
lief, wurde neben den Nachkommen des Gene 
rals v. d. Tann auch der Ehrenleutnant der 
Kaiserlichen Marine und Kommandant des 
alten Kanonenbootes, Louis Lange, zur Taufe 
eingeladen. 
Lange war eine derbe, ehrliche Seemanns 
natur, volkstümlich, ein Mann, der sich Ach 
tung zu schaffen verstand. Eine Anekdote, die 
seine Art zeigt, möge dieses Lebensbild abrun 
den. Ein Altonaer Buchhändler pflegte ihm 
neue Bücher zur Ansicht ins Haus zu senden, 
was dem alten Herrn auf die Dauer mißfiel. 
Als Mensch von niederdeutschem Humor fand 
er eine besondere Weise, um seine Unzufrie 
denheit auszudrücken. Eines Tages luden zwei 
Arbeiter einen größeren Balken vor dem 
Hause des Buchhändlers ab und brachten ihn 
in den Laden. Auf die erstaunte Frage des 
Buchhändlers, was er mit dem Balken solle, 
er hätte ihn nicht bestellt, griente der eine Ar 
beiter und antwortete: „Einen schönen Gruß 
von L. A. Lange, hier wäre ein Balken zur An 
sicht, wenn er mehr zur Ansicht wünsche, wäre 
mau erbötig, sie zu senden." 
Am 9. Januar 1911, im hohen Alter von 86 
Jahren, starb der nordschleswigsche Seehelö 
und letzte Marineoffizier der schleswig-holstei 
nischen Marine. Ein Porträt, das ihn gut im 
Alter darstellt und ihn in Marineuniform 
zeigt, von seiner Schwiegertochter gemalt, 
hängt noch heute im Kontor der von ihm ge 
gründeten Holzhandlung. 
Dir Blume. 
Ņus dem Erlebnis der Kriegsgefangenschaft 
von HeinrichEckmann - Hohenwestedt. 
VH. 
Was sollte eine solche Spielerei 
Mit Bildern, die ihn nichts angin 
gen, bedeuten? Was nützten ihm drei Sol 
daten mit ihren Bräuten, wenn er dabei stehen 
bnü die Hände in die Tasche stecken konnte? Er 
fegte das Bild gleich beiseite, als wenn er schon 
>att wäre von der Freundschaft. Er hatte auch 
keine Zeit, er mußte zum Unterricht. Aber nach 
her nahm er das Bild doch »nieder zur Hand 
Und versuchte sich mit dein zu begnügen, ivas 
U dem ersten Bilde nach Abzug des zweiten 
wildes übriggeblieben war. . 
Es war nur gut, daß Heinrich Blume immer 
u^le Hände voll zu tun hatte. Nun stand Weih 
nachten vor der Tür, der Sängerchor übte zu- 
Mürmen mit dein Orchester und dem Theater 
^n großes Spiel ein, daß der Dichter und ein 
Nusiker zusammen geschrieben hatten. Das 
.Machte viel Arbeit mit sich, alle freien Stun- 
'u wurden mit Proben ausgefüllt, und Hein- 
^ch Blume »vurde von einer Unruhe in die 
Udere getrieben. 
^Draußen lag Schnee. Eine »veite, unendliche 
à/Usarnkeit breitete sich aus um das Lager. 
Ģ Ae Berge. Hier und dort verstreut ein Haus, 
vjeits, fern, wie aus Träumen aufgebaut. Und 
wwer nur dieselben bekannten Gesichter. Sel- 
deâ Zeigte sich ein anderer Mensch jenseits 
»Nr?îacheldrahtes, ein Bauer vielleicht ein 
est sonst kam niemand. Einmal nur hallte ein 
wie ein Schrei durch das Lager: „Ein 
Mädchen! Ein Mädchen!" Du lieber Gott, was 
weiter dabei? Irgendeiner der englischen 
>ochtposten hatte Besuch bekommen, ein Mäd- 
n oder eine junge Frau zeigte sich für einen 
ngeublick außerhalb des Stacheldrahtes den 
Augen des Gefangener». Es ivar nicht einmal 
zu unterscheiden, ob das Mädchen hübsch war. 
Doch das schier» alles einerlei zu sein. Es hatte 
sich in den sieben Monaten unserer Gefangen 
schaft noch niemals ein Mädchen in diese weite, 
kahle, unendliche Bergeinsainkeit verirrt. „Ein 
Mädchen! Ein Mädchen!" Laut und grell wie 
der Ruf: „Feuer! Feuer!" Und »vir alle eilten 
nach drarlßeu, um das Wunder zu betrachten. 
Nachher grübelte ringsum wieder das 
Schiveigei». 
* 
Wir feierten in diesem Jahre eine frohe 
Weihnacht. Wir lebten uird dachten nicht inehr 
an den Tod. Wir kannten ihn und ivaren froh, 
ihm entkommen zu sein. 
Das Leben im Lager ging seinen altgewohn 
ten Gang weiter. Fiel es auf, daß Heinrich 
Blume seit Weihnachten ein neues Buch in der 
Tasche trug? Wer kümmerte sich wohl weiter 
darum, daß Margot Braun ihrem Freunde zu 
Weihnachten die „Züricher Novellen" und dazu 
den allerschönsten Weihnachtsbrief geschickt 
hatte. Und wer wußte, daß Heinrich Blume 
seine Freundin »roch inrrner nicht kannte? 
Im Januar wurden im Theater die „Ein 
samen Menschen" von Gerhart Hauptmann 
aufgeführt. Im Februar veranstalteten die 
Rheinländer eine flitterbunte Karnevalsfeier. 
Und iin März — im März wurde plötzlich die 
Nachricht verbreitet, daß das Lager aufgelöst 
und als Gefängnis eingerichtet werden sollte 
für tausend Irländer, die bei den Aufständen 
in Dublin gefangen genominen waren. Es war 
ungefähr um dieselbe Zeit, als Deutschland 
sich für den verschärften Ubootskricg entschied, 
u»n durch ihn mit aller Wucht seinen Dolch in 
das Herz der stolzen Briten zu stoßen. Wir 
lasen auch in englischen Zeitungen, das eng 
lische Gefangene in Deutschland zur Arbeit nach 
Libau transportiert seien. Alle Zeitungen 
überboten sich in Entrüstungen und Schinüh- 
reöen schlimmster Art gegen Deutschland. Es 
war eine sehr kritische Zeit für uns. Die Eng 
länder zeigten sich äußerst empfindlich, stellten 
sich wie verrückt, kürzten uns die Lebensmit 
telration mit die Hälfte, entzogen uns alle Zei 
tungen, beschnitten alle Vergünstigungen und 
machten uns das Leben schwer, ivo es ihnen 
nur möglich »var. 
Um diese Zeit also tauchten die Gerüchte auf, 
daß unser Lager aufgelöst iverden solle. Am 
anderen Tage erfuhr man schon mehr. Latri 
nenparolen blühten an allen Ecken und Enden. 
Gemeinsamer Angriff der Deutschen und Ir 
länder gegen England. Landung deutscher 
Truppen durch Uboote. Ueberall in England 
Unruhen, Wirren und Streiks. Räumung aller 
Kriegsgefangenenlager. Abtransport der Ge 
fangenen nach Kanada, Australien oder In 
dien.. Wir kamen nicht mehr aus der Auf 
regung heraus. Zeitungen konnten wir nicht 
inehr bekommen, auch für deutsche Zigarren 
nicht, so starr waren die Engländer auf einmal. 
Wir wußten nichts, als was sonst irgendwie 
ins Lager flatterte. Siegesbegeisterung tobte 
durch alle Räume. Zeppeline landeten in Lon 
don? Wir packten unsere Heimatkisten, san 
gen Heimatlieder und wußten unsern Jubel 
nicht zu bändigen. Kanada oder Australien oder 
Indien. Ja, nach Indien wollten wir, uns die 
Welt besehen, uns auch mit den Indern ver 
bünden und die Engländer für alle und einige 
Zeiten ausrotten. Jaivohl, das ivollten »vir, so 
sicher ivaren wir unseres Sieges. Sieh, nun 
»vurde am schwarzen Brett schon ein Anschlag 
des englischen Koinmandanten angebracht! Das 
Lager solle.geräumt iverden und alle Gefange 
nen hätten sich bereit zu halten. 
Nach Indien wollten wir — oder nach Ka 
nada oder Australien. Schließlich war es uns 
ganz einerlei, wohin wir als Sieger kamen, 
wenn »vir nur ein neues Stück der . weiten 
Welt kennen lernten. Am meisten lockte uns 
allerdings Indien. 
Am anderen Tage »vurden wir vor den Arzt 
geführt. Herz, Lunge oder Läuse? Wir wuß 
ten es nicht, der Arzt musterte uns nnr und 
schrieb uns alle gesund und munter. Wehe, 
wenn er das auch nicht getan hätte, denn wir 
wollten alle mit nach Indien, keiner wollte zu 
rückbleiben. Wir kainen aus dem Taumel der 
Begeisterung nicht mehr heraus. Heinrich 
Blume hielt in seinem Deutschunterricht schon 
einen kleinen geographischen Bortrag über 
Indien. Der Heimatchor fang, das Orchester 
spielte, der Himmel mag »vissen, »nie wir die 
letzten Tage in Europa feierten. 
Nun am letzten Brieftage schrieb Heinrich 
Blume »roch einen begeisterten Brief an seine 
Eltern. Oder schrieb er ihn an Margot Braun? 
Er ivußte bald selber nicht mehr, an wen sein 
Brief gerichtet war. „Liebe Eltern, schreibt 
bitte sofort an Fräulein Margot Braun, daß 
unser Lager aufgehoben wird und daß wir 
wahrscheinlich morgen schon nach Indien, Ka 
nada oder Australien geschickt »veröen. Ihr 
könnt Euch denken, »vie froh wir sind, daß wir 
ein neues Stück Welt kennen lernen werden. 
Liebe Elterrr, Margot Braun ist »virklich ein 
gutes Mädchen, ihr könnt ruhig sein. Hoffent 
lich haben »vir in Indien recht viel Freiheit 
und brauchen nicht hinterm Stacheldraht zu 
leben. Fräulein Braun ist meine Freundin, 
sie hat mir schon zwei Bücher von Gottfried 
Keller in die Gefangenschaft geschickt. Wer 
hätte das gedacht, daß ich in meinem Leben 
noch einmal nach Indien kominen würde! Was 
werde ich Euch nachher alles erzählen können! 
Was wird Margot wohl dazu sagen? Sie ist 
Lehrerin und »vird sich sicher freuen, daß ich 
so weit in der Welt herumkomme. Ich bin sehr 
gespannt ans das, was vor uns liegt. Es ist 
nur schade, daß ich nicht vorher ein Spezial 
werk über Indien gelesen habe. Schreibt, bitte, 
r5cht oft an Margot und seid freundlich zu 
ihr — " 
(Fortsetzung folgt).
	        
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