Dev§ onntagsfreunö
127. Jahrgang - Nr. 41
Beilage der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (Rendsburger Tageblatt)
Sonnabend, den 17. Februar 1934
Sonntagsgkösnkerr.
Wer sein Lebe» erhalte« will, der wird's
verlieren? wer aber sein Leben verlieret
um meinetwillen, der wird's finden.
Matth. 16, 25.
Lebensbejahung, Lebensbehauptung scheint
unserm natürlichen Empfinden das einzig
Richtige. Alles in uns sträubt sich dagegen,
wenn wir auf Leben, Lebensgenuß und Lebens
güter Verzicht leisten sollen. Und doch hat Je
sus mit seinem Wort Recht. Ganz klar wird
uns das, wenn es etwa gilt, durch eine Ope
ration das Leben zu retten. Wir haben —
tapfer oder feige, gleichviel — von Natur eine
Abneigung und ein innerliches Sträuben da
gegen, uns unter das ärztliche Messer zu legen.
Und doch ist es heilsam, oft das einzige, was
uns das Leben retten kann. Das geben wir
wohl alle zu, weil wir es oft genug immer
wieder greifbar erleben. Ist es aber für unsere
Seele, für unser geistliches und religiöses
Leben nicht dasselbe? Wir können zu seiner
Gesunderhaltung oder Gesundung unseres in
neren Menschen das Leid nicht entbehren. Neh
men wir einmal an, es träfe uns überhaupt
kein Leid, nie widerführe uns etwas Unan
genehmes, alles ginge immer glatt nach un
seren Wünschen und nach unserm Behagen,
würden wir nicht sehr bald übermütig werden,
nur noch tun, was uns beliebt, auch nach
Sünde und Unrecht nicht weiter fragen — es
schadete uns ja nichts — oder würden wir nicht
wenigstens, wenn wir alle Tage „herrlich und
in Freuden lebten", nur zu leicht Gottes ver
gessen,'wie jener „reiche Mann" im Gleichnis
es getan? Wir würden sittlich und religiös
versumpfen und verstumpfen. Da ist es ein
Segen, daß uns Gott aufrüttelndes Leid schickt.
Kommt es als Folge unserer Sünde, so mahnt
es uns zur Ein- und Umkehr, trifft es uns
von ungefähr, so lehrt die Not doch beten. Leid
treibt nach innen und oben, hilft zur Besin
nung, führt uns in Gottes Arme und hält uns
bei ihm fest. Das ist tausendfache Erfahrung.
Nun denn, so stellen wir uns dem ent
sprechend zum Leid ein. Wir brauchen das
Leid nicht aufzusuchen, nicht Fanatiker der Le
bensverneinung zu werden. Leid wird uns
schon zu finden wissen. Wenn es uns aber trifft,
dann laßt es uns hinnehmen als von Gott ge
sandt zur Hilfe für unsere Seele. Erwächst es
uns als Frucht eigener Sünde, so soll es uns
zur Beugung und Buße und Umkehr führen,
und wenn es das tut, haben wir aus dem
äußeren Schaden inneren Gewinn empfangen.
Erkennen wir keinen näheren Zusammenhang
zwischen Leid und eigner Schuld, so wollen wir
cs auch nicht etwa durch Trotz und Murren,
durch Klagen und Verbitterung verstärken
und versteifen, sondern uns vielmehr unter die
Hand dessen beugen, der es uns geschickt. Und
ob wir es zunächst kaum glauben können, alle
mal liegt ein Segen eingewickelt dabei, den
wir vielleicht erst mit der Zeit erfahren. Wenn
wir aber einmal vor der freien eigenen Ent
scheidung stehen, entweder Unrecht zu tun oder
Leid ans uns zu laden, dann laßt uns getrost
das Leid auf uns nehmen, che wir um des
Vorteils willen sündigen. Nichts wird uns in-
Ans Sterben hat er nicht gedacht...
Von Axel Rasmussen.
Das zarte, feine, ja unirdische Läuten, das
Lindner seit unvorstellbar langer Zeit in den
Ohren geklungen hatte, hörte plötzlich auf. Im
selben Augenblick öffnete er seine Augen. Er
wußte nicht, wo er sich befand. Er lag in einem
fremden Bett, in einem hellen, lichten, aber
gleichfalls völlig fremden Zimmer. Zwei Un
bekannte saßen an einem Tisch, in der Nähe
des Fensters. Jetzt, da der eine bemerkt hatte,
daß Lindner aus seiner Bewußtlosigkeit aufge
taucht war, sprang er auf, näherte sich dem
Bett.
„Na", sagte er mit tiefer, wohlklingender
Stimme und lächelte ermutigend. „Das ist noch
mal gut gegangen. Eine halbe Stunde später,
und Sie hätten jetzt im Himmel die Sterne
putzen können."
Lindners fragende, verständnislose Blicke
gaben dem Fremden Veranlassung etwas
deutlicher zu werden.
„Eigentlich nur ein Zufall", sagte er, „daß
wir Sie fanden. Wir machten eine Skitour,
wein Freund und ich. Und nur, weil wir auf
unüberwindliche Schwierrgkeiten des Gelän
des stießen, bogen wir nach Süden ab, so ent
deckten wir Sie, hundert Meter unterhalb der
Niklashütte. Schon zur Hälfte von frischgefal-
ļenem Schnee überdeckt..."
So nah dem Tode? Dem Liegenden rieselte
es kalt über den Rücken. Hatte er sterben wol
len? Nein, eigentlich wohl nicht. Doch nicht,
uein, trotz Ella. Traurig war er gewesen und
verzweifelt, ja. Dieser tiefen, unendlichen
Niedergeschlagenheit hatte er entfliehen wol
len, hatte in die Berge hinauf wollen, um all
diese Trübsal und Verzweiflung hinter sich
nerlich so fördern als das Kreuz, das wir so
Jesu nachtragen.
Will es uns aber ganz schwer, fast zu schwer
fallen, mit unserm Leid fertig, unter Gottes ge
waltiger Hand still zu werden, dann laßt uns
aufschauen auf Jesus, der den Weg des Kreu
zes vorangegangen. Vor seinem Leiden schmilzt
alles, was wir an Ungemach und Unrecht er
fahren, zu einem Nichts zusammen, und von
seinem Kreuz kommt den Leidtragenden aller
Art Friede und Kraft. Oft genug werden wir
mit den Rätseln der Lebensführung und der
Schwere der uns auferlegten Lasten nicht
fertig. Weder unser gequältes „Warum?", noch
unser suchendes „Wozu?" findet eine Antwort.
Aber unter Jesu Kreuz kommt man mit seinem
Leid dennoch zurecht. Erst wird man still, dann
stark.
100'MMiom«.«rbschaft in USA.
Nachkommen eines deutschen Auswanderers. — Auch ein Kapitel Familienkunde
2300 Erbansprüche und 9 Erben.
Von Peter von Gebhardt.
Die nachfolgende endgültige Erledi
gung der Wendeischen Erbschaft wird um
so mehr interessieren, als Tausende de
rer, die sich um die Erbschaft bemüht ha
ben, in Deutschland, davon viele in
Schleswig-Holstein beheimatet sind.
Der zweijährige Streit um die Millionen,
die die Hinterlassenschaft der am 31. März 1931
in Newyork verstorbenen Ella Virginia von
Echtzei Wendel ausmachten, ist nun endlich
entschieden. Der Vorsitzende des Gerichtshofes
von Newyork, Foley, hat aus den 2300 Par
teien, die Ansprüche auf die Erbschaft ange
meldet hatten, die neun Personen ausgewählt,
deren Ansprüche ihm am meisten berechtigt er
schienen nach den Gesetzen des Staates New
york, die nur Verwandte bis zum fünften
Grade als Erben zulassen. Keiner dieser Er
ben trägt den Namen der Erblasserin, — eine
schmerzliche Enttäuschung für alle die, die schon
infolge ihrer Namensgleichheit sich auf einige-
tausend Dollars aus der Masse Hoffnungen
gemacht hatten. In zwei Millionen Dollars
teilen sich nun die lachenden Erben. Der Rest
des 1931 auf 100 Millionen geschätzten, jetzt,
infolge der Wirtschaftskrise, „nur noch" 10
Millionen werten, in Grundbesitz bestehenden
Vermögens, ist milden Stiftungen anheimge
fallen.
Diese Erbschaftssache, die nunmehr der Ver
gangenheit angehört, hat auch in Deutschland
so viel Staub aufgewirbelt, daß es an der Zeit
ist, einmal den wahren Sachverhalt darzustel
len/' ' ' "
Am 25. Juni 1687 erwarb in Magdeburg
der Schiffknecht Jacob Wendel das Bürger
recht, vierzehn Tage später heiratete er die
Tochter eines damals bereits verstorbenen
Schiffers aus Groß-Nosenburg. Jacob erwarb
schon 1691 „eine kleine Wohnstätte" in der Ve-
neöischen Straße. Vier Jahre später hat Jacob
die sieben Taler Kaufgeld im Wege des Stot
terns erlegt. Etwa gleichzeitig muß er die
Schiffahrt aufgegeben haben, denn wir finden
ihn seitdem als Brauerknecht im Dienste brau
berechtigter Bürger. Am 21. Dezember 1721
starb dieser älteste bekannte Ahne der Wen
deis, nachdem er lange Jahre das Ehrenamt
eines Kornmessers ausgeübt hatte.
Am 6. Oktober 1706 wurde ihm als letztes
Kind sein Sohn Johann Sebastian geboren,
der mit 25 Jahren in Havelberg auftaucht, wo
er bis zu seinem 1785 erfolgten Tode als
Schneidermeister wirkte. Mit seiner Frau,
Maria Dorothea Kühne — deren Herkunft
bisher nicht aufgeklärt werden konnte —,
hatte er nicht weniger als acht Kinder, von de
nen Johann Daniel nordwärts nach Altona
zog. Daniel starb als Kürschner und Bunt-
fütterer, d. h. Mützenmacher, 83jährig im
Jahre 1822. Er war mit einer Tochter seines
einstigen Lehrherren, des Bürgers und
Kürschners Christian Gottlieb Tischer offen
bar glücklich verheiratet, denn auch ihm wur
den acht Kinder von seiner Frau beschert.
Der älteste Sohn Daniels, Johann Gottlob
Matthias Wendel, geboren 1767, ging um 1798
nach den Vereinigten Staaten und machte hier
sein Glück. Er trat in Verbindung mit dem
aus Waldorf bei Heidelberg stammenden Ja
kob Astor, einem der skrupellosesten und er
folgreichsten Geschäftemacher seiner Tage.
Durch Pelzhandel hatte er den Grund zu
einem Riesenvermögen gelegt, das er mit gro
ßem Geschick in Grundbesitz investierte. Sein
Partner, der junge Wendel, dem er 1799 seine
Tochter Elisabeth zur Frau gab, machte seinem
Lehrmeister alle Ehre: in der Anhäufung von
Kapital und dem spekulativen Erwerb von
Grundbesitz tat er es ihm gleich? auch sein
Sohn und seine Enkel legten alles Erworbene
in Grundbesitz an.
^Aber nur den Astors brachte ihr Reichtum
Segen. Noch heute zeugt eine Stiftung in
ihrem Heimatorte Waldorf von ihrer Wohl-
tätigkeit, während Magdeburg, Havelberg, Al
tona rasch von den Wendeis vergessen wurden.
Johann Gottlob Matthias hatte nur drei Kin
der, von denen zwei jung starben, llebrig blieb
ein Sohn, der den Namen des Großvaters er
hielt und sein Leben auf 76 Jahre brachte, ein
Leben, der Vermehrung des ererbten Reich
tums gewidmet. Nus seiner Ehe mit Mary
Ann Dew gingen acht Kinder — ebensoviel wie
in jeder der beiden vorhergehenden Genera
tionen — hervor, die ihr Dasein als wahre
Sklaven des Goldes verbrachten. Johann
Gottlieb? Henriette? Mary? Georgiana starb
im Irrenhause? Rebecca, gegen den testamen
tarisch festgelegten Willen des Vaters verhei
ratet, kinderlos? Augusta, im Irrenhause ver
storben? Josephine. Und schließlich die Erblas
serin, Ella, geboren 1853, und als 78jährige
verstorben, — die wohlhabendste und ver
schrobenste Frau Newyorks, Bewohnerin eines
der letzten altertümlichen Backsteinhäuser mit
angrenzendem Park in der Fünften Avenue,
dessen Nießbrauch laut Testament heute einem
— Hunde zusteht.
Auf dieser Ella, der Letzten der Newyorker
Wendeis, lastete der Fluch des Besitzes und der
Testamentsbestimmung ihres Vaters: daß
keine der Töchter heiraten dürfe, damit das
Vermögen in der Familie bliebe, am aller
längsten. Das wenige, was man aus ihrem
mehr als zurückgezogenen Leben weiß, trägt
weniger den Stempel der Originalität, als den
des Pathologischen. Ihr Schicksal ist nicht we
niger zu bedauern, als das ihrer Geschwister,
von denen nur Rebecca den Mut zur Aufleh
nung gegen das unmenschliche Gebot des Va
ters fand.
Die Erbschaftsgeschichte hat aber nicht nur
ihre tragische, sondern auch eine komische
Seite. Zwei Jahre lang haben Tausende von
Trägern des Namens Wendel in der neuen,
wie in der alten Welt gehofft, etwas aus der
Masse für sich ergattern zu können. Aber nicht
nur Träger dieses Familiennamens. Auch
Leute, deren Urgroßvater zufällig den — im
Süden und Westen Deutschlands nicht seltenen
— Vornamen Wendel oder Wendelin trug.
Oder etwa ein Mann namens Müller, dessen
Vorfahren aus Wendelstein ausgewandert
waren. Oder eine Familie Matthias, die noch
heute steif und fest glaubt, daß Johann Gott
lob Matthias Wendel eigentlich ein Matthias
sei, und damit sie die wahren Erbberechtigten!
Aber anch ans anderem als genealogischen
Wege glaubten manche, der Erbschaft teilhaftig
zu werden. So jene Dame, der die tote Ella
im Traum erschienen war und ihr anfgetra-
gen hatte, für ihren Hund zu sorgen, und die
nun — natürlich nur aus Tierliebe — durch
aus diesem Befehl aus dem Jenseits folgen
wollte und auf die dazu nötigen Mittel An
spruch erhob. Auch meldeten sich Leute aus Ech
zell in der Wetterau, einem Orte, dessen Name
auf bisher unaufgeklärte Weise von Ella
Wendel als sogenannter Mittelname geführt
worden ist. —
Der Newyorker Prozeß, reich an Sensatio
nen und Spannungen, wäre übrigens noch
kurz vor seinem Ende zuungunsten aller wirk
lichen Erbberechtigten entschieden worden,
wenn die Ansprüche eines Mannes anerkannt
worden wären, der sich, gestützt auf geschickt ge
fälschte Dokumente, als einen unehelichen
Sohn des ältesten Bruders der Ella ausgege
ben hatte. Dieser Prätendent, der 63jährige
ehemalige Anstreicher Thomas Morris, erntete
nichts, als — eine Gefängnisstrafe.
So endete dieser Kampf um eine der größten
Erbschaften aller Zeiten. Als Opfer sehen wir
auf dem Schlachtfelde 2300 Enttäuschte, wäh
rend mehr als 200 Anwaltsfirmen sich, oer-
gnttgt ob des guten Geschäfts, die Hände rei
ben.
ļme WocherreriK-änekösie.
Von H a n s W i e 1 a n d.
Sic trafen sich am Potsdamer Bahnhof, um
das Wochenende außerhalb Berlins zu ver
bringen.
Arm in Arm schoben sie beide durch die
Sperre.
zurückzulassen, für ein paar Tage. Aber ans
Sterben hatte er nicht gedacht. „Ich ging nur,
ich stieg", erzählte er mit leiser Stimme, als
spräche er zu sich selbst, „immer weiter, immer
höher hinauf. Aber plötzlich konnte ich nicht
mehr. Die Gelenke versagten, der Puls ging
erst immer heftiger, dann hörte er auf zu
schlagen. Ich war so müde, so entsetzlich müde,
daß ich hinsank. Zuerst fror ich sehr, aber dann
fühlte ich mich wohl. Mir war sogar richtig
warm. So geborgen kam ich mir vor, und da
... ja, da mußte ich wohl eingeschlafen sein."
„Ein schöner Tod, das Erfrieren", lärmte
der unbekannte Retter. „Hat man immer ge
hört. Aber, nicht wahr: schlechtes Leben ist bes
ser als guter Tod, gelt?"
Lindner nickte nur, mit einem schwachen
Versuch zu lächeln. „Also morgen sind Sie wie
der wohlauf", versicherte der andere. „Sind
hier gut aufgehoben, brauchen sich keine Sorge
zu machen. Nichts erfroren, alle Glieder ge
sund und in Ordnung. Ein kleines Abenteuer
und nicht mehr. Wir beiden, wir verlassen Sie
jetzt. Wollten uns nur überzeugen, wie Sie
sich fühlen würden, bei Wiedererlangung des
Bewußtseins. Nun sind wir beruhigt."
Jetzt trat auch der zweite hinzu — Lindner
gab beiden die Hand, stammelte ein paar kurze
Worte des Dankes. Er war doch noch sehr
schwach...
Drei Tage später waren die körperlichen
Nachwirkungen dieses Abenteuers überwun
den. Nicht vergessen aber war das andere, die
jäh aufgebrochene Erkenntnis: dies ganze Le
ben, das ich fortan führen werde, es ist ein Ge
schenk. Eine Gnade ist es. Denn eigentlich —
eigentlich müßte ich jetzt dort oben liegen, im
Schnee verborgen, erstarrt, kalt, reglos und
steif wie ein Ding. Wie ein Stück Holz etwa.
Wenn Lindner im Dorf spazieren ging, sehr
langsam, sehr bedächtig, als wäre er krank,
dann versäumte er nie, einen Blick hinaufzu
schicken, nach den drei Bergzinken, die ihr ver
eistes Gestein in den kältestarrenden Himmel
bohrten. Und immer aufs nuee, bei solcher Ge
legenheit, kgm jenes Frösteln, das ihm den
Rücken entlang lief. Kam, unmittelbar hinter
her, eine unbändige Lebensfreude, die sein
Blut mit feuriger Wärme durchpulste. Kam
das strahlende Bewußtsein: „Ich lebe noch, ich
bin noch da!", das sich am liebsten in einem
hell ausbrechenden Juchzer Luft gemach! hätte.
Die Sache mit Ella war vergessen. Fortge
wischt aus seiner Erinnerung. Daß sie es ge
wesen war, die ihn hierher gejagt — was woll
te das bedeuten, jetzt? Sie ging ihn nichts mehr
an — gar nichts ging sie ihn an. Er lebte und
das war genug.
Das Dors zu Füßen der Berge hielt ihn fest.
So fest, daß er noch nach acht, noch nach zehn
Tagen nicht an eine Abreise dachte. Nur an
eines dachte er: Den Ort wollte er noch einmal
betrachten, ganz aus der Nähe und sehr genau,
wo er das Bewußtsein verloren hatte und bei
nahe gestorben wäre, wenn nicht die anderen,
die beiden Fremden, ihn im letzten Augenblick
entdeckt und dem offenen Rachen des Todes
entrissen hätten.
An einem Sonntagmorgen machte er sich
zum Aufstieg bereit. Die Leute warnten ihn.
Den ganzen Vortag hindurch und bis tief in
die Nacht hinein hatte ein heftiger Schneesturm
getobt. „Das gibt Lawinen", mahnte der Krug
wirt. Aber Lindner lachte nur „Jetzt — bei so
strahlendem Sonnenschein?" Der Wirt zuckte
die Achseln. „Ich bin gefeit", dachte Lindner.
„Mir kann nichts mehr geschehen."
Der Aufstieg ging fast spielend leicht. Kein
Herzklopfen, kein Rauschen des Blutes, kein
heftiger pochender Puls. Und nach drei Stun
den noch nicht die geringste Müdigkeit.
„Hier muß es gewesen sein", dachte Lindner
endlich, stehen bleibend. Er hatte ein gutes
Ortsgedächtnis — er erkannte die Stelle so
fort. Ein harmloser, sansier Abhang, von glei
ßendem Sonnenlicht übergössen.
Sonnenlicht? Plötzlich wurde es dunkel —<
ja, in weniger als fünf Minuten hatte der
grau werdende Himmel Berg und Tal und
Nähe und Ferne eingeschluckt.
Ein rasch anschwellendes Sausen ging durch
die Luft, wuchs zu hohen, gellenden Pfeiftönen
an, schlug um in ein wildes, berstendes Kra
chen und Donnern und Toben.
„Mein Gott!" durchzuckte es Lindner. Und
„Eine Lawine?" wollte er fragen, rufen,
schreien. Aber anspringender, ungeheurer Luft
druck erstickte das Wort im Munde. Eine Gi
gantenfaust hob ihn hoch empor, wirbelte ihn
herum, und in einer Wolke von Eis und
Sturm und Schnee fuhr er zu Tale.
Es dauerte lange, ehe man seinen Leichnam
zu bergen vermochte. Seinen und die erstarr
ten Körper der vier, fünf Leute, die in der
Niklashütte gesessen und dort von der Lawine
ergriffen worden waren.
Lindners Gesicht war unverletzt. Eingefro
ren in die Lippen war ein rührendes, erstaun
tes, ja kindliches Lächeln. So als ob dieser tote
Mund fragen wollte „Ich? Ich... Bin ich denn
nicht gefeit?..."