Full text: Newspaper volume (1932, Bd. 1)

Nr. 69 
Beilage der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (Rendsburger Tageblatt) 
l'ìon 99. sTTTVir? 1^32 
2nm Goetheşànklag am rr. Marz. 
Goethe als VallaöcnKichirr. 
Bon Börries, Frhr. von Münchhausen. 
Das erste uns erhaltene Gedicht Goethes schrieb er 
«ls achtjähriger Junge an seinen „Erhabenen 
Großpapa", und das letzte schrieb er wenige Tage 
vor seinem Tode als Einschrift in ein Buch. Mehr 
als zwei Menfchenalter hindurch hat der, trotz 
Shakespeare und Dante, trotz Kant und Luther 
größte uns bekannte Geist Reim und Tonfall (Rhyth- 
nms) des Gedichtes als Ausdruck seines tiefsten In 
nenlebens nötig gehabt wie den Atem. Um im Bilde 
M bleiben: Fast ebenso häufig hat er mit seinen 
Snrnen Eindrücke eingeatmet und dargestellt, 
wie er aus seinem unerschöpflichen, nie genug zu 
^staunenden Inneren Gedanken ausgeatmet 
und dichterisch gebildet hat. 
Ueber seine Lyrik im engeren Sinne zu schreiben 
ist schwierig, weil sich nur über Sprüche und andere 
gedankliche Gedichte mit unbedingter Deutlichkeit 
sprechen läßt. Reine Lyrik dagegen, wie etwa Lie 
der u-rrd Empfindungsgedichte lassen sich fast nur 
von Dichtern gegenüber Dichtern wirklich besprechen, 
— und da ist es wiederum eigentlich unnötig. Um so 
unerhörte Kunstwerke wie: Ich ging im Walde, O 
gib vom weichen Pfühle, Ueber allen Gipfeln, Fül- 
Test wieder Busch und Tal, Der Abschied naht — zu 
genießen, genügt eine reine gebildete Seele, ■— um 
aber ihren Wert und seine Ursachen wirklich zu ver 
stehen, um das Technische dieser Dichtungen völlig 
zu durchschauen, dazu ist eine Bereinigung von see 
lischer Feinfühligkeit und verstandesmäßiger Durch 
bildung nötig, die sich nur äußerst selten vereinigt 
Finden. 
Leichter ist es, über Goethes Balladen einige 
wesentliche Worte zu sagen, an -deren Spitze ich aber 
dies stellen möchte: Wer, wie es in diesem Erinne 
rungsjahr üblich ist, nur mit lauter übersteigerten 
Lobpreisungen über Goethes Werk berichtet, der 
versündigt sich an Goethe, dem unerbittlich wahr 
haftigen, in der übelsten Weise und bezeugt, daß 
ihn das Wunder Goethe in seiner wichtigsten, der 
ethischen Auswiàng, fremd geblieben ist. Wenn 
heute jeder Modebericht und jede Anzeige eines 
Kunstbutterfabrikanten Goethesche Worte an sich 
hängt, so ist das ein Unfug. Leute, die jedes Wort, 
jedes Gedicht des. größten Dichters aller Völker 
und aller Zeiten himmelhoch preisen, beweisen da- 
mit nur, daß sie die ewigen Werte nicht zu beurtei 
len vermögen, weil sie die zeitlich bedingten und 
deshalb überholten Werte ihnen gleich setzen. 
Goethe hat in seiner Gedichtsammlung nur drei 
ßig Gedichte als Balladen bezeichnet. Von diesen 
fallen für unseren Geschmack zunächst die aus, welch« 
in der Art kleiner Singspiele das Zwiegespräch 
eines Grafen mit einer Rose, eines Edelknaben mit 
einer Müllerin, eines Junggesellen mit dem Mühl 
bach, einer Zigeunerin mit einem Jüngling, eines 
Wanderers mit einer Pächterin in wundervoll leich 
ter, lockerer Weise wiedergeben. Auch in einigen 
weiteren Dichtungen fühlen wir das Rokoko, den 
heiteren Glanz einer unbeschwerten Zeit so stark, 
daß sie uns wohl, wie etwa ein Rokokozimmer, als 
Zeiterscheinung unendlich beglücken, ohne daß wir 
aber anders als in geschichtlicher Einstellung ihnen 
nahen können. Das Veilchen zum Beispiel (Ein 
Veilchen auf der Wiese stand) ist ein entzückendes 
Gedicht, aber es wird keinem einfallen, die Emp- 
findungen des Liedes als eigene wirklich selber beim 
Zertreten einer Blume nachzufühlen. Endlich emp. 
finden wir in einer dritten Gruppe, wie etwa der 
Johanna Sebus oder Ritter Kurts 
D r a u t f a h r t. die Nähe der alten Bänkelsän 
gerballade, der Volksballade, ans der ja unsere zeit 
genössische Ballade hervorwuchs, so stark, daß sie 
uns nicht so ergreifen können wie die besten Stücke 
Theodor Fontanes, der Agnes Miegel, der Annette 
v. Droste. 
So bleiben von den dreißig Balladen etwa ein 
Dlltzend übrig, deren Goldglanz noch heute leuchtet 
wie am ersten Tage und wohl auch noch glänzen 
wird, wenn Goethes Romane und Dramen die Pa- 
üna 'der Jahrhunderte angesetzt haben. Denn das 
letzte, was von einem Dichter nnmittelhar nachfühl- 
bar bleibt, ist immer das Gedicht, — Verse des Al- 
cäus und der Sappho, Gedichte Walthers von der 
Bogelwetde und ewig schlechthin, sind so, als ob sie 
heute geschaffen wären und werden so noch in tau 
fend Jahren sein. 
Unbeschreiblich herrlich Der Fischer, uner 
hört gewaltig der König von Thule, pracht- 
Poll die Schilderungendes Totentanzes, mei 
sterhaft der Zauberlehrling,-und dann das 
«rrötzte Wunderwerk: Der G ott und die Ba 
jadere. Bei Goethe ist nicht wie bei Schiller die 
Handlung als solche die Hauptsache, und selten fin 
den wir 'bei ihm (Braut von Eorinth, 
Vertriebene Graf) eine leidenschaftliche 
Spannung, eine verblüffende Lösung unlösbar schei 
nender Schürzung. Gerade in seinen besten Werken 
ist die Handlung nur wichtig als Trägerin von Ge 
danken und Empfindungen. Der Fischer — 
das ist das Verführerische, Lockende des Wassers, 
nicht etwa der Unglücksfall eines Ertrinkenden. 
Der König von Thule — das ist der herz 
zerreißende Abschied des Greises vom allerletzten, 
das ihn an die Erde bindet, den Pechcr der Jugend- 
geliebten und damit von dieser Liebe und den Se 
ligkeiten des Lebens selber. Der Totentanz 
wäre als Vorgang allzu einfach, sein Gehalt liegt 
in der schaurigen Verbindung von dem Grausigen 
der Gerippe mit dem Lächerlichen weltlichen Tanzes, 
irdischer Eitelkeiten. Jeder von uns kennt das, wie 
mitten im Grausigen das Lächerliche sich einmischt, 
das völlig Unpassende, — wir wenden hier heute 
meist die Worte: das Skurrile, das Barocke an. Und 
dann die beiden großen Balladen, die B r a u t v o n 
Corinth und der M a h a d ö h, in denen 
Weltanschauungen zusaminenkrachen wie begegnende 
Sterne. Wie oft wohl hat in den letzten anderthalb 
Jahrhunderten ein bitterer Mund gestöhnt: 
Keimt ein Glaube neu. 
Wird oft Lieb und Treu 
Wie ein böses Unkraut ausgerauft, 
wie oft wohl ist als ein heiliggewordenes Sinnbild 
und Inbild, ja, als Ausdruck ganzer Gedankenver 
bindungen unseres tiefsten Bewußtseins der Schluß 
der anderen angeführt: 
Unsterbliche heben verlorene Kinder 
Aus feurigen Armen zum Himmel empor! 
Goethes Dalladendichtung gibt nicht wie die Schil 
lers: Handlungsgedichte, sondern Gedankendichtun 
gen, besser noch Gehalt- Dichtungen. 
Im letzten Jahre seines Lebens schrieb er Ein 
Wort für junge Dichter nieder, einen 
kurzen Aufsatz, in welchem er verlangt, daß ein 
Dichter „von innen lernte- wirken müsse, indem er, 
— gebärde er sich wie er will —, immer nur sein 
Individuum zu Tage fördern wird". Und dann fol 
gen die wundervollen Worte: „Ich kann es meinen 
jungen Freunden nicht ernst genug empfehlen, daß 
sie sich selbst beobachten müssen, auf daß bei einer 
gewissen Fazilität des rhythmischen Ausdrucks sie 
doch auch immer an Gehalt mehr und mehr ge 
winnen. Poetischer Gehalt ober ist Gehalt des 
eigenen Lebens." Und zu:n Faust notierte 
er einmal die Worte: „Gehalt bringt die Forin mit 
sich. Form ist nie ohne Gehalt." 
Dieser Gehalt ist es, der den Kern aller Goethe- 
schen Balladen ausmacht. So wichtig war er ihm, 
hasteinige dieser Gedichte — ich denke an die W a n- 
delnde Glocke und den Schatzgräber —, 
geradezu Lehrgedichte, Unterweisungen, Predigten 
zu werden scheinen, d. h. Gedichte, deren dichteri 
scher Wert fast hinter ihrem Lehrwert zurücktritt. 
Freilich dürfen wir es uns nicht so denken, als 
ob etwa der Dichter als erstes einen Fehler beob 
achtet, als zweites eine erzieherische Maßnahme 
überlegt und als drittes sich eine Fabel zur Darstel 
lung seiner Belehrung «usgcdacht hätte. Deshalb 
führte ich oben die kleine Randbemerkung zum 
Faust an: Gehalt und Form ist in diesen: Wunder- 
geiste eins und gleichzeitig gewesen, er glaubte 
nicht, daß eines ohne das andere denkbar sei und 
hatte für sich damit recht. So konnte er den Zau 
berlehrling schreiben, der gewiß eine lehrhafte 
Seite Hot, und sich doch ganz spielselig, schildcrungs- 
trunken in der Darstellung der immer gewaltiger 
anschwellenden Wässer ergeht, so scheint im Toten 
tanz das Klippern und Klappern der wackelnden 
-vertrackten Gerippe dem Dichter wichtiger als die 
Handlung. 
Schillers Balladen find Gestalt, Goethes Balladen 
Gehalt, Schiller knüpft mehr an die Spannung der 
Moritaten auf Jahrmärkten an, Goethe mehr an 
die uralte, urweise Dokksballade, die letzten Endes 
wohl meist gottesdienstlicher Art gewesen sein mag. 
Gewiß ist auch Schiller aufs stärkste vom Ethos be 
wegt, aber es ist bei ihm mehr ein Schmuck der 
Ballade. Goethes beste Balladen aber sind gera 
dezu Gebilde einer Sittlichkeit, die 
w.cht wie ein Mantel um Gestalten und Handlung 
liegt, sondern diesen wie ein lebendiges Herz einge 
wachsen scheint. So werden sie geradezu sinnbildliche 
Dichtungen, Riahadöh ist Goethe, die Braut von 
Eorinth ist die alte Welt, die sich aus de:» jungen 
Glauben ins Heidentum zurücksehnt, der Schatzgrä 
ber sind wir alle, die wir in den Röten des Alltags 
verkümmern. 
So wird Goethe in seinen Balladen ebenso wie in 
seinem gesamten Werke mehr und mehr nicht nur 
der Dichter, sonder» der Leiter, der Tröster, der Her- 
zog unseres Volkes, der dem gequälten Heere vor 
anziehende Führer. 
Besuch in Dsknburg. 
Eine Goethe-Geschichte von Ludwig Bäte. 
Karl August war nicht heimgekehrt; der Tod er- 
eilte den Großherzog auf der Rückreise von Berlin 
in Graditz bei Torgau mit hartem Pantherhieb. 
Goethe hatte seinen Kummer um den bei aller 
späten Seltsamkeit treuester: Freund nach seiner 
Weise stumm mit sich herumgetragen, der Bestattung 
beigewohnt und den Nächsten des Heimgegangenen 
in verhaltenem Schnierz seine Anteilnahme brreslich 
ausgesprochen. Run drängte es ihn aus dem ver 
ödeten Weimar hinaus in die freie Landschaft und 
ihre heilende Stille. Der große Reisewagen stand 
angespannt, Knebel wartete in Jena, und dahinter 
lag Dornburg, das thronende, von Rosen überschüt 
tete Patmos über der lieblichen Saale. 
Die Straße war sommerlich heiß, der Roggen 
reifte, und von den ockergelben Hängen rann der 
Ruch der Traubenblüte. Metallen klang das feste 
Blau des Flußspiegels aus dem grauen Grün der 
Erlen, der Himmel glühte italisch. Der Reisende 
trank alles in sich ein, alter Zeiten und toller Ju 
gend-fahrt gedenkend, lind doch froh, daß die Augen 
noch hielten, was sich üppig unter thüringischer 
Sonne anbot. 
Der Hofgärtner stand am Portal des früheren 
Freiguts, das der Herr erst vor vier Jahren erwor 
ben. Die Nacht kam hoch, die Rosen, die er hatte 
pflanzen lassen, fluteten betäubend in sein Zimnrer; 
er stand an: Fenster und lauschte der: Stimmen in 
>den tiefen Wiesen und dem verwehten Anschlagen 
«der Dorsglocken. Dann rief die Uhr des kleinen Ftek- 
lens hinter den drei auf einer Fläche gebreiteten 
Schlössern Mitternacht; es war wohl gut, sich zur 
Ruhe zu begeben! 
Die Tage streckten sich zu Wochen, aus Wochen 
wurden Monate, er saß an seinem kärglichen Tan 
nentisch unter der weit herabhängenden Balkendecke, 
Briefe diktierend, lesend, seinen Gedanken hingege 
ben. Jeder Stein sprach, jeder Busch hielt zärtliche 
und erirste Erinnerungen fest, und die weißen Som- 
merwolken steuerten wie damals über die behäbigen 
Giebel, als er sich nach Lotte Stein verzehrt und 
vergeblich in raschen Liebeszeilen Ruhe gesucht hatte. 
Der Morgen war köstlich wie immer. Aus der Däm 
merung schoben sich die Nebel, die Wärme stieg 
schon zeitig an, manchmal drängte ein über Naum 
burg aufkommender Ostwind die schwärzlich geball- 
ten Gewitterwolken zurück. Dann aber formte sich 
ein Gedicht, das den wolkenlos gewordenen Aether 
in die immer noch wogende Brust stürmisch herab 
riß. Manchmal auch traf Besuch ein, wie hätte er 
trotz allen: diese Einsamkeit ertragen! Dann lachte 
Am 1Z, März stehen 
Wà«r mrö Frankfurt 
im Leichen Goethes. 
Links: Der Marktplatz in Weimar. Tau 
sende von Gästen des In- und Auslandes, die 
Vertreter aller Kulturnationen, werden am 
22. März in Weimar weilen, um in der 
Ottiliens Mund in Eckermanns bedächtig überlegte 
Rede, der Erbgroßherzog beugte sich über die Hand, 
die soeben erst der: Hammer weggelegt, mit den: sie 
nach alter Gewohnheit den Stein der Felsen ab 
geklopft hatte. Man tafelte ans der Terrasse und 
trank die Gesundheit der Lebenden, den Toten in 
der Erde feierlich ein volles Glas zuschüttend. 
An: herrlichsten aber waren die Nächte, wenn der 
Mond aus den gegenüberliegenden Bergen klomm 
und die späten Nachtigallen ihre Strophen wie rei 
fes Obst in dos Tal brachten, das die Früchte mit 
-zitternden Händen auffing. Keiner wagte ihn dann 
zu stören, und der Sekretär John löschte die Wind- 
lichter in: Flur, das große Leuchten nicht »:it irdi 
scher Befangenheit aufzuhalten. Drei Tage vor dem 
achtzigsten Geburtstage war der Hinrmel ein flie 
ßendes Weiß, das Goethes grauen Reisemantel, den 
er abends immer überzog, in die rinnende Erhaben- 
heit miteingehen ließ. Der alte Zauberer lehnte an 
der Brüstung, leise die Lippen bewegend. Das dünkte 
Gespenst, das ihn in diesen Wochen mehr denn je 
überschauert, war gewichen, der Herzog stand, kein 
derber, allzeit irdisch aufgetaner Mensch mehr, ne 
ben ihm und sprach tröstend aus erwachten Aeonen 
zu dem noch Lebenden, über.den sich dennoch sch-on 
das letzte Geheimnis wie ein guter Bruder neigte. 
Es gab keine Angst mehr in ihm, das stetig verhehlte 
Wort Tod sprach vertraulich und stieg aus dem glei 
chen Born, der immer wieder das neue Leben zeu-gte 
uu-d in dem Anfang und Ende treulich zusanrmen» 
flössen. 
Am anderen Morger: hielt John ein Gedicht in 
Händen, das ihn: Goethe zum Abschreiben auf den 
Tisch gelegt. Immer wieder sah er auf das Blatt 
mit den ruhigen, sich selbst gewissen Zeilen, und er 
griffen setzte er unter die den Mondaufgang mit 
klarem Silberstift nachzeichnenden Strophen das 
freudige Bekenntnis zum ewig wachen, tätigen Tag: 
„So hinan denn! Hell und heller, 
Reiner Bahn, in voller Pracht! 
Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller, 
Deutscher, se-i deiner Gegenwart tapfer, weil du 
der Erbhalter Bist grösserer Dinge, als die an dem 
Tag hängen: Gutes und Böses will werden, wie 
Unkraut und Saat wird, und der Acker bist du! 
Wilhelm Schäfer. 
Todesstunde Goethes dieses weisesten Dichters 
und Vorkämpfers der Menschlichkeit zu ge 
denken. 
Rechts: Der Römer in Frankfurt a. M., der 
Geburtsstadt Goethes. Im Kaisersaal des 
Römers findet am 22. März eine grosse Feier 
statt, in der der Dichter, Philosoph und Arzt 
Albert Schweitzer sprechen wird. 
Zur Rnlerliaitung
	        
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