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Dienstag, den 5. März
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Morrze» Depeschen.
Berlin, 4. März. Nach dem „Reichs
<m;." legt der Königliche Hof für den
verstorbenen Großfürsten Alexis Michaile
witsch von Rußland auf acht Tage
Trauer an.
Berlin, 4. März. Die „Nordd. Allg
Ztg." bezeichnet die Meldung einiger Pro.
vinzialblätter, wonach der Kaiser in seiner
Unterredung nach der Rückkehr aus Wien
mit dem Reichskanzler Fürsten Hohenlohe
die Mittheilungen, die er in Wien von
der weitgehenden in der Bevölkerung über
die Abänderungsvorschläge des Centrums
in der Umsturzkommission herrschenden
Aufregung erhalten hat, besprochen habe,
als jedenfalls auf Erfindung beruhend.
Desgleichen unrichtig sei die Mittheilung,
daß eine Regierungskundgebung bezüglich
ihrer Stellung zu dem Treiben der Dunkel.
Männer unmittelbar bevorstehe. Der An.
trag Rintelen sei ein persönlicher Vorschlag
eines einzelnen Abgeordneten, nicht ein
Antrag des Centrums; er habe nach dem
eigenen Urtheil der Centrumspresse keine
Aussicht auf nennenswerthe Unterstützung,
Mie sich denn auch die konservativen Mit-
glieder der Kommission gegen ihn ausge
sprochen haben, und an seine Aeceptirung
durch die verbündeten Regierungen nicht
8» denken sei.
Lübeck, 4. März. Vom Hamburger
Nachtschnellzug entgleisten kurz vor
der Einfahrt in den hiesigen Bahnhof drei
Drogen. Einer derselben fiel um. 4 0
Insassen erlitten zum Theil sehr
schwere Verletzungen. Ein Passa
gier wurde tödttich verwundet.
Posen 4 März. Bei einer Uebung
der sechsten Kompagnie des 4. Infanterie-
regiments ging beim Gewehrentladen eine
Platzpatrone los und verletzte den Gefreiten
Dopjchell schwer. Derselbe ist im Garnison-
lazareth bereits gestorben.
Triest, 4. März. Seit einigen Tagen
ist hier abermals starker Schnesall einge
treten. Triest ist von allen Verbindungen
abgeschnitten. Gleiche Meldungen kommen
aus Oberitalien.
Petersburg, 4. März. Die Studeitten-
demonstrationen dauern fort. Aus diesem
Ģrunde wurden auch die Vorlesungen an
der Petersburger Universität eingestellt.
Eine größere Anzahl Studenten wurde
ausgewiesen; weitere Ausweisungen sollen
bevorstehen
Paris, 4. März. Frankreich hat die
Einladung Deuischlands zur Theilnahme
an der Eröffnungsfeier des Nord-Ost
s e e-C a n a l s angenommen und entsendet
zwei Panzerschiffe und einen Aviso.
Sie Üufpien lies Ştastsrnths.
Nach einer Mittheilung der „Schles.
Ztg." sind die Vorlagen, die der am 12
d. Mts. zusammentretenden „engeren Ver.
sammlung" des Staatsraths zur Berathung
unterbreitet werden sollen, folgende:
1. Maßnahmen zur Hebung der Preise
landwirthschastlicher Produkte.
1) Zur Hebung des Getreideprctscs.
Die Nothlage der Landwirthschaft wird zumeist
als eine Folge der immer steigenden Unrentabilft
tät des Körnerbaues angesehen. Zur Hebung
dieses Mitzstandes sind aus den Kreisen Derer,
die sich mit dieser Nothstandsfrage beschäftigen,
Vorschläge gemacht worden, die wesentlich auf
dem Gedanken der Monopolisirung des Handels
mit Getreide bezw. mit Brot beruhen.
Folgende Vorschläge stehen jetzt im Vorder
gründe der Erörterung:
a. die Monopolisirung des Handels mit aus
ländischem Getreid- in Verbindung mit einer
Bestimniung der Preise für das eingeführte
ausländische Getreide nach Maßgabe des
Preisstandes im Jnlande innerhalb der
letzten 40 Jahre;
1>. die Monopolisirung des Handels mit aus
ländischem und inländischem Getreide;
c. die Contingentirung der Einfuhr von aus
ländischem Getreide;
4. die Besteuerung des zum Verbrauche ins
Inland eingeführten ausländischen Getreides
in Stasfelsorm;
e die Einführung eines staatlichenBrotmonopols;
1. der Ankauf von Getreide seitens des Staates
und die Verarbeitung desselben zu Mehl in
fiskalischen Mühlen.
Es fragt sich:
Sind diese Vorschläge geeignet, den er
strebten Endzweck zu erreichen?
Sind sie praktisch durchführbar?
Referenten: 1) Landrath v. Kardorff zu Oels,
2) Kammerherr v. Helldorss auf Bedra.
2) Zur Hebung des Zucker- uns Spiritus-
preises
Welche Maßregeln sind zur Bekämpfung der
gegenwärtigen Krisis in der Zuckerindustrie und
zur ^Verbesserung der Lage des Branntwein-
Brennerei-Gewerbes zu ergreifen?
Referenten bezüglich der Zuckerindustrie: 1)
Amtsrath von Zimmermann auf Benkendorf,
2) Landes - Oekonomierath von Kaufmann zu
Steuerwald; bezüglich des Branntwein-Brennerei-
Gewerbes: 1) Gutsbesitzer Seydel auf Chelchen,
2) Gras v. Zieten-Schwerin auf Wustrau.
II. Maßnahmen auf dem Gebiete der
Währungspolitik.
Welche Folgerung sind aus dem Ergebniß der
Berathungen der „Silbcrkommission" zu ziehen?
_ Insbesondere: Sind zur Hebung und Be
festigung des Silberpreises im gegenwärtigen Zeit
punkte Maßregeln zu ergreifen?
Referenten : 1) Generalconsul Rüssel zu Berlin,
Graf v. Mirbach auf Sorquitten.
IH. Maßnahmen zur Verbilligung der
landwirth sch östliche« Production und zur
Erleichterung des Absatzes der Erzeug
nisse
Ist zur Verbilligung der landwirthschaftlichen
Production und zur Beförderung des Absatzes
landwirthschastlicher Erzeugnisse eine wirksame
Herabsetzung der Eisenbahntarife auf weitere
Entfernungen zu empfehlen?
Sind von einer derartigen Regelung der Eisen
bahntarife bestimmte Artikel der landwirthschaft-
lichen Roh- und Hülfsstoffe und der landwirth
schaftlichen Erzeugnisse auszuschließen?
Liegt es im Jnterefle der Landwirthschaft, durch
eine sachgemäße Regelung der staatlichen Schisf-
fahrtsgebühren (Ersatz der Unterhallungskosten,
Verzinsung und allmähliche Tilgung der Anlage
kosten) auf _ eine angemessene Festsetzung der
Frachten aus den Wasserstraßen, die vorzugs
weise für die Einfuhr landwirthschastlicher Erzeug
nisse des Auslandes dienen, hinzuwirken?
Referenten: 1) Dr. Freiherr v. Schorlemeo
Alst auf Alst, 2) Graf v. Kanitz auf Podangen.
IV. Maßnahmen zur Seßhaftmachung
der ländlichen Arbeiterbevölkcrnng, ins
besondere in den östlichen Provinzen
der Monarchie
durch wirksame Unterstützung der Rentenguts
bildung für kleine Stellen (Arbeiterstellen).
Referenten: 1) Staatsminister Graf v. Zedlitz-
Trütschler auf Nieder-Großen-Borau, 2) Präsident
Dr. v. Wittenburg in Posen.
V. Maßnahmen auf dem Gebiete der
Creditoraanisaiion.
Leistet der bisherige Zustand des Jmmobiliar-
und Personalkreditwesens den berechtigten An
forderungen der Landwirthschaft Genüge, oder
welche Aenderungen sind anzustreben?
Insbesondere:
1. Ist das bestehende Verhältniß der beiden
Creditformen ein angemessenes, oder empfiehlt
es sich, den Jmmobiliarcredit zu Gunsten
des Personalcredits einzuschränken, um auf
diesem Wege zugleich auf eine spätere Ver
minderung der Gesammtverschuldung des
Grundbesitzes hinzuwirken?
2. Ist durch Maßnahmen auf dem Gebiete des
Crcditwesens eine Beseitigung der jetzt theil-
weise vorhandenen Ueberschuldung zu er
reichen ?
3. Wird durch die bestehenden Grundcredit-
Jnstitute dem Grundbesitze ein genügend
weit ausgedehnter, unkündbarer, möglichst
wohlfeiler und leicht zugänglicher Credit mit
allmählicher Tilgungsoerpfpchtung gewähr
leistet?
Wird von den communalen Sparkassen
nach ihrer gegenwärtigen Verfassung ein
solcher Credit in ausreichendem Maße ge
währt oder welche Aenderungen sind in
dieser Beziehung anzustreben.
4. Ist für eine etwa als nöthig erachtete Re
form die Neubildung großer Creditorgani
sationen, oder die Fortbildung der über
kommenen landschaftlichen und kommunalen
Creditinstitute ins Auge zu fassen?
5. Ist speziell den Bedürfnissen des Meliorations-
credits bereits ausreichend Rechnung ge
tragen, oder sind auf diesem Gebiete' Aen
derungen anzustreben, eventuell unter Ge
währung eines gesetzlichen Vorrechts für
Meliorationskreditc gegenüber den bereits
eingetragenen Schulden?
Referenten: 1) Freiherr v. Hoiningen gen.
Huene auf Groß-Mahlendorf, 2) Landesdirektor
Dr. Klein zu Düsseldorf.
MEmw.
Rumänien.
Bukarest, 4. März. In dem Orte Jtz
kany fand während der Nacht in einer
Brennerei eine Keffelexplosion statt. Die
Decke des Hauses barst und viele Arbeiter,
welche in dem ersten Stockwerk schliefen,
fielen in den siedenden Kessel, wo sie ge>
tödet wurden.
Rußland.
Man schreibt der „Wiener Allgem. Ztg."
aus Warschau: In einem hiesigen Klub
erregte seit einiger Zeit ein Herr B. durch
sein ungewöhnliches Glück im Karten
spiel allgemeines Aufsehen. Alles war
erstaunt und verwundert. Sollte er Diel'
leicht seinem Glücke selbst ein bischen nach
helfen, so ein ganz klein wenig corriger ] a
fortune? Unmöglich! Wer denn Mann
kannte, wies einen solchen Verdacht ent
rüstet zurück. Das war ein vollendeter
Gentleman, kein Zweifel. Durch seine
liebenswürdigen Umgangsformen hatte er
alle Herzen gewonnen; die Leute machten
sich förmlich ein Vergnügen daraus, ihr
Geld an ihn zu verlieren. Uebrigens war
der Mann ein Sonderlirg. So schleppte
er zum Beispiel überall eine Niesen-
Z igarettendos e mit sich herum, die be-
queum sechzig bis siebzig Zigaretten faßte.
Auch beim Spiel trennte er sich von diesem
Monstrum nicht. Da steckie er es vor sich
auf den Tisch und offerirte von Zeit zu
Zeit in ausgiebigster Weise den Mitspielen-
den aus dem Inhalte der Dose. Und
mittlerweile häuften sich vor ihm die
glänzenden Goldfüchse und die knisternden
Rubelscheine. Niemand ahnte, welche be
deutende Rolle dieser großen Dose von
dem liebenswürdigen Herrn zugewiesen war.
Endlich aber klärte sich Alles aus, das
riesige Glück im Spiel, sowie die Be-
deutung und der Zweck der Zigarettendose.
Die Sache verhält sich nämlich so: Wenn
Herr B. beim Baccarat die Bank hietl,
gab er die Karten in der Weise aus, daß
er sie über der spiegelglatten und glänzen
den Zigarettendose, die hier also die Stelle
eines Spiegels vertrat, austheilte; auf der
Dose erschien nun das Bild der Karte,
und der ehrcnwerthe Herr B. wußte nun
ganz genau, welche Karten seine Partner
bekommen hatten. Dieses Kvnststückchen
gelang ihm lange Zeit hindurch und Herr
B. gewann große Summen. Eines Tages,
als der liebenswürdige Mann gerade Bank
hielt, sah ein neben ihn, sitzender Herr,
wie über dem glatten Rücken der Dose
das Herzaß hinwegtanzte und gleich darauf
der Treffbub. Da ging den Herren erst
ein Licht auf, und plötzlich fanden sie
nichts Wunderbares mehr an dem fabel
haften Glück des Herrn B. Was nun
weiter geschah? Was in solchen Fällen in
Klubs gewöhnlich zu geschehen pflegt. Die
Dose war aber «ns dem Klub verschwunden.
Herr B. hat sie wahrscheinlich mitgenom
men; er braucht sie vielleicht noch.
Frankreich.
Paris, 2. März. Der Erzbischof von
Paris verweigerte für den im Duell ^ge<
tödteten Redakteur Percher das kirchliche
Begräbniß.
Schweiz.
Zürich, 4. März. Der Zürich see,
welcher seit fünf Tagen in seiner ganzen
Ausdehnung bis zum Ausflüsse der Limmat
zugefroren ist, hat am letzten Sonntag
eine ganze Reihe Opfer gefordert. Es
war herrliches Wetter, warm schien die
Sonne vom azurblauen Firmament, und
in voller Schönheit grüßten die Spitzen
der Alpen, greifbar nahe, herüber. Da
war es kein Wunder, daß Tausende sich
ans der spiegelglatten Fläche tummelten.
Eine wahre Völkerwanderung ging nach
dem oberen See, wo das Eis wenigstens
zuverlässig tragfähig war. Aber auch das
Züricher Seebecken erschien schwarz von
Menschen, die mit wahrer Tollkühnheit
hin und her eilten. Rothe Plakate hatten
vor dem Betreten des Eises dringend ge-
warnt, aber Niemand kümmerte sich darum,
und die Polizei mußte sich bei der großen.^
Ausdehnung der Ufer darauf beschränken,
Verunglückte nach Möglichkeit zu retten.
Denn Unglücksfälle blieben natürlich nicht
aus; mit Bestimmtheit beklagt man 5
Todte, aber geradezu dutzendweise ge-
riethen die Leute in das Wasser, aus dem
sie nur mit Mühe herausgefischt werden
konnten An einer Stelle brachen 6 Kna-
den zusammen ein, an einer anderen eine
ganze Familie, und die Rettungsmannschaf-
ten hatten alle Hände voll zu thun, um
die Unvorsichtigen vor dem nassen Tode
zil bewahren. Jetzt bedeckt eine wohlthätige
Schneedecke das Eis, sodaß Niemand mehr
hinauszugehen wagt.
U) Junge AEuger.
Novelle von Gustav Höcker.
Der Rentier schien sich zu besinnen, über
ieine Stirn flogen dunkle Wolkenschatten, seine
Nasenflügel bewegten sich.
„Guter Freund," sagte er mit mühsam
zurückgedrängtem Zorn, „vorgestern Abend
laßen wir beide bei einem Glase Wein fidel
beisammen, so weit ich mich besinne, nicht
wahr t
„Allerdings, Herr
."Ņ, hä des Guten zn viel gethan, was
Mir seit langen Jahren nicht pafsirt ist. Wer's
n Spaß erlaubt hat.
Mich absichtlich besoffen zu Machen weiß ich
Mcht, genug ich war's. Ob das nun für so
nnen alten Kerl, Me ich bin, eine Schande
'st oder nicht, das geht Niemanden was an.
Ich bezahle meinen Wein und habe Geld
Aeniig, für drei Dutzend solcher Kerlchen, wie
Şie sind, an eineni Abende auffahren zu
affen, daß zuletzt 36 unter'm Tische liegen.
Ein Ehrenmann kann dem andern wohl
^"rwürfe machen, wenn er einmal über den
sträng gehauen hat, aber schlechte Witze und
mberne Anspielungen erlauben sich nur dumme
Zungen! Wenn so ein dunimer Junge mir
einem solchen Abende, wo ich meinen
3'iunden Verstand in die Weinlese geschickt
şibe, einen Floh in's Ohr setzt, und mir
n"!ķ<- daß er sich verlobt habe und
achstens Hochzeit halten werde, oder daß er
von Ļoos gewonnen hätte, oder Kaiser
erreich geworden wäre, oder von einer
mag m bra ^° nb şşûckgekehrt sei, — so
idiirAf şiâ> gratulircn, wenn ich seinen
i chtcn Spaß nicht merke und den andern
Tag, Dank meinem schwachen Gedächtnisse
für solche Weinhausschnurren, keine Silbe
mehr davon weiß. Wenn man aber die
Unverschämtheit besitzt, hinterdrein, am lichten
Tage noch auf Mondrciscn, Kaiserthrone,
großes Loos oder Hochzeiten anzuspielen, so
bin ich der Mann, der Jemandem den Rücken
braun und blau und die Knochen im Leibe
',u Mehl schlagen könnte, wenn mir dieser
Jcniand nicht zu klein wäre."
Der Rentier war kirschroth im Gesicht
geworden. Er ballte seine Fäuste, gewann
aber soviel über sich, daß er die letzteren nur
dazu gebrauchte, seinen Hut von der Laden
tafel zn nehmen und aufzusetzen.
Die letzten Sätze hatte er mit so donnern
der Stimme gesprochen, daß Druck erschrocken
aus dem Comptoir getreten war. Der Ren
tier klopfte diesen auf die Achsel, daß er, ob
wohl es nur freundschaftlich gemeint war, fast
zusammen gebrochen wäre, und sagte:
„Leben Sie wohl, Herr Leidlich, oder Herr
Druck, oder, was weiß ich, Herr Druck und
Leidlich, wir bleiben Freunde; aber den hier
^ v . ff'Pc auf Leidlich), den schicken Sie, wo-
ŗņûP'âl.uoch heute in's Narrenhans!"
Damit ging er seine Wege.
Leidlich zitterte wie Espenlaub. Es dauerte
lange^ ehe er sich einigermaßen erholte, um
die Sprache wieder zu gewinnen. Auf Ein
mal rief er :
„Druck! Schlange! Verführer! schaffe mir
meine Gelder wieder! schaffe mir sie wieder!
Verflucht sei der Baumeister, der unsre engen
Wände durchbrach: verflucht der Tischler, der
diese Säulen aufführte! Der Teufel hole diese
Giftpflanze —" . setzte er wüthend hinzu und
wollte sich auf die Riesen-Nclke stürzen. Aber
Druck hielt ihn auf, und Leidlich wandte sich
um, riß den Türken aus dem Schaufenster
heraus, gab ihm ein Dutzend Ohrfeigen, schüt
telte ihn tüchtig beim Kragen und prügelte
ihn wie einen Schulbuben, so lange, bis er
seine eigene Hand nicht mehr fühlte. —
Druck stand ernst und ruhig zur Seite,
bis Leidlich sich ausgerast hatte und sich zu
schämen anfing.
„Für mich ist nun alles verloren," sagte
Leidlich ruhiger , zu Druck, „liebe Du nun
Mathilden nach Herzenslust, heirathe sie mor
gen, heirathe sie meinetwegen auf der Stelle,
mir soll's recht sein; ich kann nur dabei ge
winnen!"
7.
Ein gordischer Knoten.
Druck's Befürchtung, daß der Rentier mach
dem heftigen Auftritte mit Leidlich seine Be
suche einstellen möchte, bestätigte sich nicht. Am
nächsten Morgen war schon der Alte zur ge
wohnten Stunde wieder da.
Leidlich ließ sich nicht sehen und der Ren
tier fragte nach ihm.
Mohrenhaupt war nicht der Mann, der
sich eines solchen Zwischenfalles wegen von
einer süßen Gewohnheit hätte abbringen lassen.
Vor einer unfreundlichen Aufnahme fürchtete
er sich nicht, weil er überhaupt nicht daran
dachte, denn die glücklichen Verhältnisse, in
denen er sich schon seit vielen Jahren bewegte,
hatten ihm das beneidenswerthe Bewußtsein
der Sicherheit im höchsten Grade verliehen.
Dazu kam sein überhaupt schwer zugängliches
Wesen, das ihn wie eine Hornhaut gegen
viele unangenehme Berührungen von Außen
s stützte.
, Druck faßte sich ein Herz und schickte
seinen Brief, den er nicht zerrissen, sondern
als einen Secundawechsel aufbewahrt hatte,
an Mathilde Mohrenhaupt ab. —
Jeder Mensch kommt einmal in die Lage,
in welcher er sich noch nie befunden hat nnd
worin er sich trotzdem nicht um ein Haar
anders benimmt, als tausende vor ihm sich
in gleicher Lage benommen haben, ohne daß
es ihm Jemand gesagt oder gelehrt hatte.
So Mathilde, als sie Druck's Brief em
pfing. Sie erröthetc über und über, als sie
ihn las; sie las ihn immer wieder von Neuem
und verbarg ihn in ihrem Busen. Sie ver
mied an diesem Tage ängstlich das Fenster
und verbrachte hierauf eine schlaflose Nacht.
Das einfachste, durchsichtigste Frauengemülh
wird zu einem gordischen Knoten, sobald es
sich der Liebe erschließt, und wer da glaubt,
daß Mathilde am nächsten Tage nichts Eili
geres zu thun hatte, als zur Feder greifen
und den verliebten Nachbar durch Erhörung
zu beglücken, — der kennt die Mädchen
schlecht! Schon gestern, als sie den Brief
zum ersten Male las, schwirrte ihr ein kleii es
„Aber" durch die Sinne. Es war ein un
klarer Widerspruch, über den sie sich selbst
nicht Rechenschaft zu geben vermochte. An
die Möglichkeit, daß ein Mann sie nur ihres
irdischen Reichthums wegen zur Frau begehren
könne, dachte sie nicht, denn sie war sich
dieses Vorzugs, den sie schon in der Wiege
besessen hatte, so wenig bewußt, als man
das Gewicht des eignen Körpers fühlen kann.
Der unklare Widerspruch trat zuerst in
Gestalt eines leisen Vorwurfs auf, den sie
sich selbst machte — darüber, daß ihr Be
nehmen überhaupt Jemandem Veranlassung
gegeben hatte, sich über die Straße hinweg
in sie zu verlieben und sogar an ihre Gegen
liebe glauben zu dürfen.
Nach und nach wälzte sie diese Selbstan-
ktage von sich ab, indem sie sich einredete, daß
Druck allzu stürmisch zu Werke gegangen sei.
Beide hatten ja erst wenige Worte zusammen
gewechselt, sie hatte ihm nur ganz zarte An-
deutungen gegeben und jetzt sollte sie ihm so
ohne Weiteres schwarz ans weiß erklären: Ja!
ja! ich bin Dein, nimm mich hin; sprich mit
meinem Vater?! „Unmöglich!" rief sie laut
und unter Lachen. Btitten in seinen nüchter
nen Berufsgeschäften hatte Druck das Ver
hältniß begonnen und weiter gesponnen.
Vielleicht aus Langeweile, um müßige Augen
blicke auszufüllen?! Ebensogut hätte er einen
Roman zur Hand nehmen und darin lesen
können! Ob er weiß, wie schwer ein Mädchen-
bcrz zu erobern ist und welche Kämpfe darum
bestanden werden müssen? „Unmöglich," wie
derholte Mathilde am Schluß dieser Reflexionen,
aber diesmal sprach sie es leise und träumerisch
vor sich bin, ein unerklärliches weiches Gefühl
beschlich sie und aus ihrem Auge brachen ein
paar Thränen. Zuletzt stand sie auf einem
wahren Scheiterhaufen voll brennender Wider
sprüche.
Noch ehe sie selbst recht wußte, was sie
that, hatte sie der Haushälterin Auftrag ge
geben, den Rosenstock vom Fenster zu entfer
nen, Dann packte sie ihre Handarbeiten, mit
denen sie sich zu beschäftigen pflegte, sowie
ihre Bücher zusammen und räumte sie in ein
Hinterzimmer, dessen Fenster in den Garten
herabgingen; kurz, sie entfernte jede Spur
ihres Daseins aus dem Zimmer, zu welchem
Er hinaufblickte, dessen Brief sie noch immer
in ihrem Busen sorgfältig verwahrt hielt.
So oft sie ausging, hüllte sie ihr Antlitz
in einen dichten Schleier, und wußte es, wenn
sie^aus dem Hausflur trat, so geschickt zn