Full text: Newspaper volume (1894, Bd. 1)

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->> 87ster Jahrgang. 
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Wo. 
Mittwoch, den 28. März 
1894. 
Morgen-Depeschen. 
Berlin, 28. März. Der „Reichsanz." 
veröffentlicht die Verleihung des Rothen 
Adler-Ordens 4. Kl. an den vortragenden 
Rath in der Reichskanzlei, Günther, und 
des Königl. KroneN'Ordcns 3. Kl. an den 
Vorsteher der Geheimen Kanzlei des Aus 
wärtigen Amtes, Ziegler. 
Berlin, 28. März. Im Reichspostamt 
ist eine wichtige Personalverändcrung ein 
getreten. Ministerialdirektor Sachse hat 
seinen Abschied genommen. Er hat vor 
läufig einen dreimonatigen Urlaub ange 
treten, sich jedoch bereits von den Beamten 
verabschiedet. 
Berlin, 28. März. Der Luftschiffer 
Otto Merkel aus Leipzig, welcher am 2. 
Osterfeiertage in Velten einen Aufstieg in 
einem mit heißer jLuft gefüllten Ballon 
unternahm, stürzte, als der Ballon kaum 
zwei Minuten lang von der Erde entfernt 
war, von diesem herunter auf das Dach 
eines Hauses und trug schwere innere Ver- 
letzungen davon, sodaß sein Leben in Ge- 
fahr steht. Der Ballon war in ziemlich 
bedeutender Höhe plötzlich geplatzt. 
Abbazia, 28. März. Es herrscht hier 
das prächtigste Sommerwetter. Die Bora 
hat sich vollständig aufgelöst und das Meer 
liegt spiegelglatt da. Die ganze kaiserliche 
Familie unternahm gestern mit der „Chri- 
stable" eine mehrstündige Partie nach der 
Bucht von Buccari. Der Kaiser ist ge 
sonnen, bei andauernd gutem Wetter bis 
Mitte April hier zu verweilen. — Graf 
Philipp Eulenburg, der preußische Gesandte 
in München, ist hier einaetrosien. 
Abbazia, 28. März. Es steht nunmehr 
fest, daß der Kaiser von Oesterreich am 
Donnerstag, Morgens 7 Uhr 40 Min. in 
Mattuglie ankommen wird. Von dort be- 
giebt er sich mittelst Wagens nach Abbazia. 
Budapest, 28. März. Am Freitag, deni 
Tage des Eintreffens der Leiche Kossuths, 
sowie am Sonntag, wo die Bestattung 
derselben stattfindet, bleibt das Theater ge 
schlossen. 6000 hiesige Bürger bilden eine 
Bürgerwehr zur Aufrechterhaltung der Ord 
nung, wodurch Polizei- und Militärbesatzung 
in den Straßen überflüssig gemacht werden 
soll. König Humbert hat den Hinterblie 
benen Kossuths sein Beileid aussprechen 
lassen. 
Budapest, 28. März. Der Abt Köpper 
in Ncusalz verweigerte die Aufhissung der 
Trauerfahne auf der dortigen katholischen 
Kirche. Infolgedessen sind 240 Katholiken 
zur reformirten Sekte übergetreten. 
Rom, 28. März. Die radikalen Blätter 
fahren fort, gegen die Politik Crispi's 
energisch zu Protestiren, indem sie behaust 
ten, das Land eines Cavour und Garibaldi 
habe es nicht nöthig, das Mittel gegen 
eine Krisis, die weit weniger gefährlich sei, 
als zur Zeit des Risorgumente, in einer 
Diktatur zu suchen. Nur durch die Freiheit 
und mit ihr wurde damals die Krise be 
seitigt und ebenso müffe es auch heute sein. 
Rom, 28. Mürz. Der Direktor und der 
Sekretär des Münzamtes wurden von einem 
Diener durch Messerstiche leicht verletzt. 
Der Attentäter entleibte sich sodann durch 
einen Revolverschuß. Als Ursache des 
Attentats wird angegeben, daß der Diener 
sich wegen der ihm bevorstehenden Dienst 
entlassung rächen wollte. 
London, 28. März. Wie der Berliner 
Korrespondent des „Standard" erfährt, hat 
die dEsche Regierung die Initiative für 
internationale Maßregeln gegen die Anar 
chisten ergriffen. Demnächst soll die inter- 
nationale Konferenz in Berlin zusammen- 
treten. 
Roubaix, 28. März. Anarchistische Kir- 
chenräuber wurden in voriger Nacht in 
einem Nachbardorfe verhaftet. Bei den 
selben fand sich eine große Anzahl ge 
raubter Gegenstände vor. 
%n WkllußA«!. 
Es wurde jüngst mitgetheilt, daß der 
Kaiser ein besonderes Interesse an der 
Ausführung des Mittelland-Kanals nehme 
und .ut dessen lebhafter Ner0--u„^o <,<>. 
legentlich des Diners beim Finanzminister 
Dr. Miguel Landkarten mitgebracht habe. 
Dieser Kanal bezweckt die Herstellung einer 
Wasserstraße quer durch Deutschland von 
Westen nach Osten, er ist der letzte Theil 
der Kanalverbindung zwischen Rhein, Weser 
und Elbe, außer der als Theil des Dort- 
mund-Emshafenkanals im Bau begriffenen 
Strecke Dortmund-Bevergern und der ge 
planten Kanalverbindung von Dortmund 
nach dem Rhein. Der Mittellandkanal 
soll bei dem bereits genannten Orte Be 
vergern am nördlichen Abhänge des Teuto- 
burger Waldes von der Emshafenlinie in 
östlicher Richtung von Osnabrück-Minden- 
Hannover-Lehrte durch den Drömling unter 
halb Magdeburg gegenüber der Mündung 
des Plauencr Kanals die Elbe erreichen. 
Der Mittellandkanal wird daher nicht nur 
die Verbindung des Rheins und des rheinisch 
westfälischen Industriegebietes mit der Elbe, 
sondern vermittelst des Plauener Kanals 
auch mit den märkischen Wasserstraßen mit 
dem Centrum Berlin und durch diese mit 
der Oder und mittelst der Netze, des Brom 
berger Kanals und der Brahe mit der 
Weichsel herstellen. Mit seiner Vollendung 
besteht sonach eine in den Abmessungen 
allerdings nicht überall gleiche Wasserstraße 
von Westen bis zum Osten Preußens, von 
den Kohlen- und Eisendistrikten Rheinlands 
und Westfalens bis zu dem östlichen Pro 
duktionsgebiete von Brotfrucht, Holz und 
vielen anderen Erzeugnissen der Land- und 
Forstwirthschaft. 
Neben der Möglichkeit, so wichtige Ver 
kehrsplätze wie Osnabrück, Minden, Han- 
nover, Braunschweig, Hildesheim, Magde> 
bürg mittelst Stichkanälen unmittelbar an 
die von Westen und Osten durchgehende 
Wasserstraße anzuschließen, eröffnet sich für 
Bremen die Aussicht, durch Kanalisirung 
der oberen Weser bis Nienburg und Her 
stellung eines Kanals von dort zum Mittel 
landkanal die ihm wegen der ungenügenden 
Fahrtiefe der Weser bisher versagte leistungs 
fähige Wafferverbindung mit Mittel- und 
Westdeutschland zu erlangen. 
Die Trace des Kanals steht im Ein 
zelnen noch nicht fest. Die Vorarbeiten 
unterliegen zur Zeit noch der Prüfung der 
höheren Baubehörden; dasselbe gilt von den 
Kostenanschlägen. Die nachstehenden An- 
gaben verstehen sich daher mit dem sich 
hieraus ergebenden Vorbehalt. 
Die Länge der ganzen Linie vom Rhein 
bis zur Elbe wird sich auf etwa 475 Kilo-. 
ttx'ti'r sşellļ-u Länap d-« Miitâà 
kanals betragt emschneßüch der Hafentanale 
nach Osnabrück, Minden, Hannover und 
Magdeburg etwa 360 Kilometer. Davon 
entfallen aber 245 Kilonicter auf die 
schleusenlose Scheitelhaltung von Osnabrück 
bis Oebisfelde. Sie soll im Westen mittelst 
zweier Kanalschleusen erstiegen werden, im 
Osten sollen sodann zur Entwässerung des 
Drömlings zwei weiter? Schleusengefälle 
vorgesehen werden, während es im Plane 
liegt, in's Elbethal mittelst eines etwa 10 
Meter hohen Schiffshebewerks herunterzu 
steigen. Da die Strecke von Bevergern 
bis zum Rheine 2 Schiffshebewerke und 
4 Kanalschleusen erhalten soll, würden 
zwischen Rhein und Elbe im Ganzen 11 
Schleusen, mithin erst auf durchschnittlich 
43 Kilometer eine zu errichten sein. Die 
Tiefe des Kanals ist mit 2 '/ 2 Metern, die 
Drempeln der Schleusen mit 3 Metern, 
die Sohlenbreite mit 18 Metern, die 
Breite des Wasserspiegels mit 30 Metern, 
die nutzbare Länge der Kanalschleusen mit 
67 Metern, deren Thorweite mit 8,6 
Metern, die lichte Höhe der Brücken auf 
4 Meter in Aussicht genommen. Die Kosten 
werden auf nahezu 150 Millionen Mark 
geschätzt. 
Ausland. 
Uì'Mkreikļ!. 
In der Nacht vom 24. d. M. wurde in 
Roubaix von unbekannten Uebelthätern ein 
Friedhof geplündert und verwüstet. Sechs 
Grabmäler und Kapellen wurden erbrochen 
und zerstört, Kränze, Statuen und Kreuze 
forlgeschleppt und auf dem nahen Eisen 
bahngeleise verstreut. Die Bevölkerung ist 
über diese Rohheit in hohem Grade auf- 
gebracht und wallfahrtete zu Tausenden 
nach der Stätte der Verwüstung. 
Seinem Leben machte in Marseille der 
Italiener Jamama, ein zwanzigfacher 
lillionär, auf eigenthümliche Weise 
ein Ende. In einer geräumigen Gruft 
auf seinem Landgute zündete er Stöße von 
Kohlen und Kienholz, die er vorbereitet 
hatte, an und athmete, auf einem Ruhe 
bette liegend, das todtbringende Gas ein. 
Spanien.. 
Madrid, 25. März. Benito Barragan 
Ocana, der vor 20 Jahren in Granada 
wegen M o r d e s zu lebenslänglicher 
Zwangsarbeit verurtheilt wurde, ist jetzt, 
einer Meldung des Amtsblattes zufolge, 
begnadigt worden. Der Begnadiguugserlaß 
Der genannte wahrend der zwanzig ìzayre, 
die er im Presidio (Bagno) zu Kluta abge 
sessen, nicht allein ein nmsterhaftes Betragen 
beobachtet hat, sondern sich sogar die Zu 
neigung und Liebe der Behörden und Pri 
vatpersonen zu erwerben gewußt, so sehr, 
daß die vornehmsten Familien der 
Stadt Kluta demselben die Erziehung 
und den Unterricht ihrer Kinder an 
vertraut haben. (Wörtlich in der amtlichen 
Gaceta de Madrid zu lesen.) Man sollte 
es nicht für möglich halten. 
Madrid, 27. März. Eine Kundgebung 
von 2000 Arbeitern hat in San Lucar 
stattgefunden, wobei zahlreiche Diebstähle 
von Brot vorgekommen sind. Der Bürger 
meister telographirte nach Cadix uni Hülfe. 
Barcelona, 26. März. Es geht das 
Gerücht, der kürzlich im hiesigen Gefäng 
niß verstorbene Anarchist Racher sei von 
seinen mit eingekerkerten Genossen aus 
Furcht, er werde kompromittirende Ge 
heimniffe der Anarchisten enthüllen, ver 
giftet worden. Das Gericht hat die Aus 
grabung und Obduktion der Leiche ange 
ordnet. 
Barcelona, 26. März. In Horta (Ca- 
talonicn) fand gestern ein Kind eine 
Dynamitpatrone und spielte damit. 
Dieselbe platzte und verwundete das Kind 
tödtlich. 
Italien. 
Rom, 26. März. Wie man der „Pol. 
Korr." schreibt, hat sich der Jesuitenpater 
Ferrari, ein Schüler des berühmten 
Astronomen P. Secchi und dessen Nach 
folger im vatikanischen Observatorium, eine 
Eigenmächtigkeit zu Schulden kommen 
lassen, die in den kirchlichen Kreisen großes 
Aufsehen erregt. P. Farrari verwendete 
nämlich einen bedeutenden Betrag, man 
spricht von einigen hunderttausend Francs, 
der ihm für die Erhaltung des Observato 
riums angewiesen war, für wohlthätige 
Zwecke, ohne seine Vorgesetzten hierüber zu 
befragen. Sobald die Sache aufkam, wurde 
P. Ferrari wegen seiner unbegreiflichen 
Handlungsweise aus der Gesellschaft Jesu 
ausgestoßen. Der Papst war von dem 
Zwischenfall sehr peinlich berührt. 
Serbien. 
Belgrad, 26. März. Der Professor 
für Staatsrecht beim König Alexander, 
der Franzose Malet, welcher einen her 
vorragenden Antheil am Staatsstreich des 
vorigen Jahres hatte, wurde, trotzdem sein 
Evntrakt noch bis Oktober läuft, gestern 
KuMÄv. 
Der „Köln. Ztg." schreibt man aus 
Petersburg von gestern: Wie verlautet, 
wird der Thronfolger von Rußland 
bei der Hochzeit des Großherzogs von 
Hessen einer der Brautführer sein und 
dabei die Prinzessin Alix von Hessen 
führen. —- Gerüchtweise verlautet, der 
russische Botschafter in Paris, Baron 
Mvhrenheim, solle durch den Botschafter 
in Konstantinopel Nelidow und letzterer 
durch den bisherigen Adjunkten des Mi 
nisters des Auswärtigen, Schischkin, ersetzt 
werden. Dem Fürsten Lobanow, Bot 
schafter in Wien, werde wahrscheinlich das 
Portefeuille des Auswärtigen zufallen, 
wenn der Zustand des Ministers v. Giers 
sich verschlechtern sollte. 
Oesterreich. 
Wien, 26. Marz. Der österreichische 
sozialdemokratische Parteitag wurde 
4 Still eigen Killt. 
Original-Roman von Gustav Lange. 
Die Schatten der Nacht begannen sich be 
reits über Berg und Thal zu lagern und 
wieder neigte ein sonnenklarer Tag sich seinem 
Ende zu; wie purpurroth übergössen beleuchtete 
das Abendroth die dunklen Umrisse der Berges- 
kuppeln, während hinter denselben die klare 
Sichel des Mondes sichtbar wurde und immer 
höher und höher stieg Frederik van Dalcn- 
bourg, durchmaß mit ruhelosen Schritten den 
halbdunklen Raum eines Zimmers und trat 
zuweilen an das geöffnete Fenster, wo eine 
frische kräftige Bcrgluft herein strömte. Aber 
weder die Stille der Abcndruhe, noch der 
Reiz der Dämmerung vermochten irgend 
welchen Eindruck auf ihn hervorzubringen, 
seinen Geist mochten ganz andere Dinge be 
schäftigen. 
„O Gott, warum muß denn mich immer 
das" Schicksal mit solcher grausamen Härte 
verfolgen. Mit welcher Hoffnung trat ich 
die Reise nach Tannenburg an, fest an die 
Worte Rosenhagens glaubend und nun erweist 
sich mein Plan als ein Hirngespinst," murmelte 
er vor sich hin. „Aber noch soll er nicht 
triumphiren und sollte ich das Aeußerste wagen, 
denn wenn ich an meine Zukunft denke, . die 
in der schrecklichsten Gestalt vor mir liegt, 
so bleibt mir auch nur diese Möglichkeit!" 
Die Augen des jungen Mannes leuchteten 
bei den letzten Worten in einem seltsamen 
Feuer und der Ausdruck seines Gesichts hatte 
etwas Unheimliches und die Züge verzerrten 
sich zu einem lauten hönischcn Lachen. Mit 
einen Male schreckte er empor. Aus dem 
Park herauf wurden jetzt deutlich lachende 
Stimmen und heiteres Geplauder hörbar und 
da die Windrichtung eine günstige war, so 
konnte er so ziemlich den Inhalt der Unter 
haltung hören. Er trat an das geöffnete 
Fenster und blickte hinab; seine Vermuthung 
bestätigte sich, denn deutlich konnte er trotz der 
Dämmerung noch erkennen, wie Kurt und 
Kunigunde mit verschlungenen Armen aus 
dem Dunkel der Bäume heraustraten und 
dem Schloßcingang zuschritten und jedes Wort 
was sie sprachen, drang wie ein zweischneidiges 
Schwert in sein Innerstes. 
Eine unsägliche Bitterkeit beschlich ihn, denn 
während er hier in dem stillen Gemach qual 
volle Stunden der Reue, Ungewißheit und 
Sorge um die Zukunft durchlebte, und sich 
vergebens mühte einen Ausweg aus dem 
Labyrinth zu finden, in das ihn sein widriges 
Geschick und die eigene Schuld geführt, er 
gingen sich da unten zwei Menschen in der 
ungestörten Freude ihres Glückes und Nicniand 
dachte an ihn, den einsamen Mann. 
Es war ein Aufwallen, ein Fluthen von 
Empfindungen in ihm, über welche er sich keine 
Rechenschaft zu geben vermochte. Die Trauer, 
welche er Anfangs gefühlt, verwandelte sich 
allmählich in Haß, Haß gegen sich selbst, 
gegen die ganze Menschheit. Er hatte gehofft 
und diese Hoffnung war jäh zerstört worden. 
Die beiden Nachtwandler waren endlich 
verschwunden und Frederik trat vom Fenster 
zurück, dasselbe schließend und da die Dunkel 
heit überhand genommen, so zündete er einen 
Wachsstock auf dem silbernen Armleuchter an, 
dann trat er an den eleganten Schreibtisch 
und wühlte in den aufgehäuften Papieren; 
endlich hatte er gefunden was er suchte — 
ein kleines Miniaturportrait, welches ein junges 
Mädchen in der einfachen aber kleidsamen 
Tracht der Küstenländerinnen und einen jungen 
Mann darstellte. 
Dalenbonrgs Blick ruhte lange forschend 
auf dem Bilde, aber nicht die Schönheit des 
Mädchens erweckte ein so lebhaftes Interesse 
in ihm, seine Betrachtung galt vielmehr dem 
jungen Manne an ihrer Seite. Dunkles 
krauses Haar umrahmte lockig ein kühn ge 
schnittenes scharf markirtes Gesicht, in wel 
chem zwei dunkelblaue Augen feurig und 
lebhaft blitzten. Ein blonder, wohlgepflegtcr 
Schnurrbart, mit fein gedrehten langen Spitzen 
beschattete die Oberlippe unter der kräftigen, 
leicht gebogenen Nase. Die schönen, vor 
nehmen Züge wurden durch den stolzen Ge 
sichtsausdruck noch merklich erhöht. 
„Rodenstein! Rodenstcin! Welch selt 
sames Zusammentreffen der Namen und 
dann diese Aehnlichkeit, — wahrhaftig, ich 
könnte glauben, daß — doch wohin führen 
mich meine Gedanken. Jener junge Mann 
war ja nur der Sohn eines bürgerlichen 
Kaufmannes, wie sollte der stolze Aristokrat 
Freiherr von Rodenstein mit diesem Manne 
einst identisch gewesen sein! Nein, der bloße 
Gedanke bringt mich schon auS der Fassung! 
Wenn es aber trotzdem der Fall!" 
Er hielt in seinem Selbstgespräch inne 
und schloß dann daS Portrait wieder in den 
Schreibtisch. Seine Stirne brannte heiß und 
die Brust hob und senkte sich vor Aufregung, 
daß er die heftigen Schläge seines unruhigen 
Herzens zu hören meinte, so hatte der An 
blick des Bildes ihn elektrifirt. 
„Ich muß Gewißheit haben und sollte ich 
darüber zu Grunde gehen, denn der Preis 
ist zu kostbar und dann meine Rache!" 
murmelte Dalcnbourg abermals vor sich hin 
und warf sich daun wie erschöpft in einen 
der gepolsterten Lehnsessel, sein Antlitz in 
beide Hände bergend. 
Wie lange er so dagesessen, wußte Dalen- 
bourg selbst nicht, als er endlich aufsprang 
und sich die Augen rieb, als wollte er den 
Schlaf, der ihn umfangen hatte, daraus ver 
treiben und dann verwundert auf die Uhr 
sah, die eine weiter vorgerückte Stunde zeigte, 
wie er vermuthet haben mochte, schüttelte er 
ungläubig den Kopf. Die ungewöhnliche 
Stille im Schlosse verrieth, daß man sich 
bereits zur Ruhe begeben, ein gleiches zu 
thun war aber offenbar nicht seine Absicht, 
denn nachdem er Feuerzeug und ein Wachs 
licht an sich genommen und aus seinem 
Koffer mehrere Schlüssel hervorgeholt, ver 
ließ er das Gemach. 
Langsam jedes störende Geräusch sorgsam 
vermeidend, schritt er den dunklen Korridor 
entlang, bis er das Arbeitszimmer des Frei 
herrn erreicht, welches er trotz der Dunkel 
heit von den übrigen Gemächern zu unter 
scheiden vermochte, da die wenigen Tagen 
seines Hierseins für ihn genügt hatten, die 
Räumlichkeiten und Einrichtung des Schlosses 
so ziemlich kennen zu lernen. 
Einen Augenblick blieb Dalcnbourg stehen, 
als kämpfe er mit cincni festen Entschluß. 
Noch einmal stellte er sich die Tragweite 
der beabsichtigten Handlungsweise vor und 
cs schien fast, als sollte sein besseres Ge 
fühl die Oberhand gewinnen, denn seine 
Haltung wurde immer unschlüssiger und 
schon wollte er wieder umkehren, als ein 
anderes Bild vor seiner Seele aufstieg: Ein 
ehrwürdiger Greis, mit dem Tode ringend, 
reicht ihm noch einmal die Hand und flüstert 
mit gebrochener Stimme, nachdem er ihm 
eine lange Geschichte, die seines ciaenen 
Lebens erzählt: „Mein Sohn, Du kennst 
nun die Ursache des Schmerzes und den 
Kummer, die mich frühzeitig zum Greise ge 
macht und mir die Tage meines Lebens ver 
kürzt; durchreise die ganze Welt und wenn 
Du jenen Elenden gefunden, der mir mein 
höchstes Glück und meinen Stolz in den 
Staub getreten und mit den heiligsten Ge 
fühlen ein frevelhaftes Spiel getrieben, dann 
laß ihn durch Deine Hand die wohlverdiente 
Strafe treffen — das ist mein Bermächtniß." 
—- Dann war der Greis verschieden und 
Dalcnbourg hatte an seinem Sterbebette ge 
schworen, diesen letzten Wunsch eines Ster 
benden zu erfüllen. Diese Erinnerung an 
die vergangene Zeit gab ihm die Entschlossen 
heit wieder. 
Es kostete ihm keine allzugroßc Mühe, 
mit einem der mitgebrachten Nachschlüssel 
das Arbeitszimmer bes Freiherrn van 
Rodenstcin zu öffnen, dann trat er in das 
selbe ein. Auf der Schwelle blieb er stehen, 
um sein Auge erst an die ihn umgebende 
Finsterniß zu gewöhnen. Wie leicht konnte 
er durch das geringste Geränsch seine An 
wesenheit verrathen und so sein Vorhaben 
vereitelt werden. 
Einige Zeit hatte er regungslos in seiner 
Stellung verharrt, als plötzlich das fahle Licht 
des Mondes, der bis dahin hinter dem Ge 
wölk verdunkelt gewesen, durch die Fenster fiel 
und den Raum spärlich erleuchtete, sodaß cs 
ihm möglich wurde, die nächste Umgebung 
zu unterscheiden und that nun vorsichtig einige 
Schritte vorwärts. Da die den Fußboden 
bedeckenden Teppiche seine Tritte fast unhvr- 
bar dämpften und nichts sich regte, schwand 
mehr und mehr das Gefühl der Unsicherheit; 
es war ja auch nur thörichte Furcht gewesen
	        
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