Full text: Newspaper volume (1894, Bd. 1)

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Hìendsburaer 
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JnsertionSpreiS: pro Petitzeile 15 
-n> 87ster Jahrgang. 
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Wo. 63. 
Donnerstag, den 15. März 
1894. 
Morgen-Depeschen. 
Berlin, 14. März. Heute Mittag hielt 
der Kaiser über bas Alexander-Garde-Grc- 
nadier-Regiment Nr. 1, welchem er vor 
Kurzem die historischen Grenadiermützen 
verliehen, im Lustgarten eine Parade ab 
In einer Ansprache an das Regiment be 
tonte der Monarch, er habe dem Regiment 
die Mützen als Ziechen seiner Anerkennung 
verliehen. Er erwarte, daß die Grenadiere 
der Geschichte des Regiments stets eingedenk 
seien, dem Vaterlande stets Ehre machen 
werden und bei Angriffen äußerer und 
innerer Feinde stets treu zu ihrem Kaiser 
stehen. Der Oberst des Regiments erwi 
derte, daß die Grenadiere stets ihre Pflicht 
thun würden und schloß mit einem Hurrah 
auf den Kaiser. — Allgemein ist es auf 
gefallen, daß während des ganzen Zeit 
raumes ein russischer General neben dem 
Kaiser stand, mit welchem sich der Monarch 
angelegentlichst unterhielt und ihm wieder 
holt die Hand schüttelte. 
Berlin, 14. März. Ueber die Reise- 
Pläne des Kaisers für den Sommer ver 
lautet, daß diesmal mit der Nordlandreise 
auch ein Besuch von Finland verbunden 
sein soll. 
Berlin, 14. März. In den Kreisen der 
Berliner Anarchisten zirkulirt die Nachricht, 
daß^die Polizei in kürzester Zeit energische 
Maßregeln gegen den Anarchismus vor 
nehmen werde. Aus sicherster Quelle lvollen 
die Anarchisten wissen, daß u. A. auch das 
Erscheinen des „Sozialist" polizeilich ver- 
boten werden solle. Auf diese Meldung 
hin werden schon jetzt alle Vorbereitungen 
getroffen, um das Blatt int Falle der Kon- 
stsziriiug im Auslande Herstellen lassen zu 
können. Die Flucht Wilhelm Werner's 
welche unter Beihülfe der Genossen in's 
Werk gesetzt war, soll hiermit eng zusammen 
hängen, da Werner, wie bekannt, der re- 
daktionelle Leiter, Drucker und Verleger des 
„Sozialist" gewesen ist. 
Thorn, 14. März. Heute Morgen wurde 
der Kossäth Jakob Malinowski, der Mörder 
des Frhrn. v. d. Goltz, durch den Scharf 
richter Reindel aus Magdeburg hingerichtet. 
Wie», 14. März. Unter den städtischen 
Feuerwehrleuten greift die Mißstimmung 
über die ablehnende Haltung des Gemeinde- 
raths immer weiter um sich. Falls die 
Forderungen wegen Verbesserung der ma 
teriellen Lage durch den Gemeindcrath iu 
einen Streik eintreten. 
Abazzia, 14. März. Da sich das Wetter 
gebessert hat, konnte die Kaiserin bereits 
Spazierfahrten unternehmen. Sie drückte 
wiederholt ihre Zufriedenheit über den 
Aufenthalt in Abazzia aus. Wie hier ver 
lautet, beabsichtige die hohe Frau, länger 
als ursprünglich geplant, möglicherweise 
drei Monate hier zu verweilen 
Brüssel, 14. März. Der „Courier" 
meldet aus Lüttich, daß mehrere neue 
choleraverdächtige Fälle vorgekommen sind; 
ein Todesfall ist bisher noch nicht zu ver 
zeichnen. 
Paris, 14. März. Der Anarchist Henry 
schreibt im Gefängniß ein Buch, betitelt 
„Anarchismus des 19. Jahrhunderts und 
der kommenden Jahrhunderte." 
Loudon, 14. März. Wie aus Rio de 
Janeiro gemeldet wird, haben sich die 
Insurgenten nunmehr ergeben, nachdem 
die Regierungsflotte deren Schiffe stunden 
lang bombardirt hat. Nach heftigem 
Kampfe hißten die Aufständischen die 
weiße Flagge auf und traten mit dem 
Präsidenten Peixoto in Unterhandlungen, 
um den Frieden abzuschließen. Admiral 
de Gama erwartet auf dem portugiesischen 
Kriegsschiffe die Entschließung Peixotos, 
welcher noch immer großes Mißtrauen 
hegt, da de Gama in den Südstaaten Geld 
und neue Anhänger erwerben könnte. Die 
Offiziere der Jnsurgentenschiffe haben sich 
größtentheils auf fremde Kriegsschiffe be 
geben. 
Deutl er Reichstag. 
l. Sitzung 
Berlin, 14. März. 
Die zweite Berathung des Reichshaushalts- 
tats wird beim litat der Zölle und Berbrauchs- 
steuern, sowie der Lversc fortgesetzt. 
Schatzsekretär Grasv. Posadowski-Wehner: 
Mit Rücksicht ans die allgemeine Geschäftslage 
und auf die Erfahrungen mit dem Posteiat beab 
sichtige Redner nicht, gegen die Beschlüsse der 
Budgetkommission noch anzukämpfen. Die Re 
gierung halte nach wü vor ihre Berechnung für 
richtiger und solider. Redner wolle nicht bestrei 
ten, das; die Einnahmen aus der Zuckersteuer 3 
Millionen mehr betraget, werde, aber es sei nicht 
angebracht, die Veranschlagung auf das Höchst 
möglichste zu berechnen, weil dann für etwaige 
außeretatsmäßige Ausgaben gar kein Spielraum 
bleibe. Redner bitte in erster Linie dem Vor 
schlag der Regierung zuzustimmen, ev. aber den 
Antrag Pansche anzunehmen. Auch bestreite Red (Lebhafter Beifall rechts) Die Art der Steuer 
unrichtig, weil inzwischen das Gesetz von 1892 
die Zuckersteuer auf eine ganz andere Grundlage 
gestellt habe. Die Production werde zunehmen, 
der Konsum sei von 9,5 Kg. per Kopf der Be 
völkerung aus 9,9 Kg. gestiegen. Der Januar 
des laufenden Jahres biete eine erhebliche Mehr 
einnahme. 
Abg. Kard o r ff (R.-P.) bezeichnet die Erhöhung 
des Titels um 5 Millionen als einen ganz will 
kürlichen Akt. der geeignet sei, ein ganz unrichti 
ges Bild unserer finanziellen Lage zu ergeben. 
Abg. Richter (freist Volksp.) erwidert, die 
Vorschläge der Kommission bezweckten gerade, ein 
richtiges Bild des Etats zu geben. Gerade die 
Zuckersteuer gestatte eine annähernd richtige 
Schätzung. 
Schatzsekretär Graf v. Posado wski-Mehner, 
Darauf, daß er, Redner, die Möglichkeit einer 
höheren Einnahme zugebe, dürfe man doch nicht 
den Staat basiren. Er bedürfe einer sicheren 
Grundlage. Wollte man mit Möglichkeiten rech 
nen, so würde man zu einem chronischen Defizit 
kommen. 
Abg. Richter: Er meine, die beantragte Er 
höhung durch die Kommission um 5 Millionen 
sei noch sehr bescheiden, mar. hätte den Anschlag 
um 10 Millionen erhöhen können, aber die Kom 
mission habe möglichst sicher gehen wollen. 
Abg. Kardorff (R.-P.) erklärt sich mit dem 
Vorschlage Paaschen einverstanden Den Antrag 
der Kommission halte er für unrichtig und über 
trieben. 
Nach einigen weiteren Beiilerkungen der Abgg. 
Richter, Panschen und v. Kardorff wird der Antrag 
der Budgetkommission angenommen. 
Bei Titel 51> (Branntweinverbrauchsabgaben, 
Zuschlag zu derselben) beantragen die Abgg. Auer 
und Genossen: Der Reichstag wolle den Reichs 
kanzler ersuchen, nach jeder Neubemessung der 
Jahresmengen an Branntwein, die die einzelnen 
Brennereien während der Kontingentsperiode zum 
niedrigeren Satze der Verbrauchsabgabe herstellen 
dürfen, spätestens bis Schluß des Betriebsjahres 
dem Reichstage ein nach Steuerdirektivbezirken 
und für jeden Steuerdirektivbezirk nach der Höhe 
des Kontingents geordnetes Verzeichniß ' der 
Brennereien vorzulegen, deren Kontingents minde 
stens 200 Hektoliter betrügt, unter Abgabe von 
Namen und Wohnsitz des Unternehmers jeder 
Brennerei, die nach ihrer Eigenschaft als land- 
wirthschaftliche oder gewerbliche aufzuführen ist. 
Abg. Dr. Schönlank (Soz.) bezeichnet als 
Zweck des Antrags, endlich einmal zu erfahren, 
wer eigentlich die Stipendiaten der Liebesgabe 
eien. Der Reichstag habe ein Börsenrcgisür 
verlangt. Seine Partei sei damit einverstanden, 
verlange aber dagegen ein Liebesgaben-Schnaps- 
register. Die Kosten würden nicht hoch sein, 
höchstens 800—600 Jt 
Staatssekretär von Posadowsky: Er glaube 
dem Hause einen Gefallen zu thun, wenn er auf 
die Frage der Liebe-gabe jetzt nicht eingehe. 
sich die Contingcntirung aus die einzelnen Pro 
vinzen in Bezug auf die Höhe vertheile, sei schon 
von dem Abg. Barth vorgebracht worden. Ein 
solches Verzeichniß sei im Jahre 1890/91 dem 
Hause vorgelegt und die Regierung werde jeder 
zeit bereit sein, es bis auf die Gegenwart sortzu- 
sühren. Herr Schönlank wolle nicht nur einen 
Adreßkalender von Contingentinhabern, sondern 
eine Proscriptionsliste derselben. (Lebhafter Bei 
fall rechts.) Für Schönlank habe die Sache keine 
sozialpolitische, sondern nur eine agitatorische Be 
deutung. (Unruhe bei den Sozialdemokraten, 
lebhafter Beifall rechts.) Es scheine ihm, daß 
diesem Antrage nur der Versuch zu Grunde 
liege, in die gewerblichen Verhältnisse des Ein 
zelnen einzudringen und sie klarzustellen, wie dies 
bei keinem anderen Gewerbe der Fall sei. Das 
ginge weit über die berechtigten Wünsche hinaus 
und die verbündeten Regierungen würden sich 
dazu nicht entschließen. (Lebhafter Beifall rechts.) 
Abg. von Kardorff (R.-P.): Er werde nach 
Ostern eine Abänderung des Branntweinbesteue- 
rungsgesetzes dahin beantragen, daß man nicht 
mehr von einer Liebesgabe sprechen könne. 
Abg. Schön lank (Soz.): Auf den Namen 
komme es nicht an, ein Trinkgeld bleibe unter 
jedem Namen ein Trinkgeld. 
Der Titel, sowie der Rest deS Etats und der 
Etat der Reichsstempelabqabe werde ohne weitere 
Debatte bewilligt. 
Das Haus geht nun über zu dem Titel Er 
richtung eines Nationaldenkmals für Kaiser Wil 
helm I., I. Rate, 1,100,000 Mk. 
Die Commission schlägt vor, den Titel wie 
folgt zu fassen: Einmalige Bewilligung von 4 
Millionen zur Errichtung eines Reiterstandbildes 
für Kaiser Wilhelnt I., '1. Rate, 1,100,000 Mk. 
ner, daß durch die hohe Veranschlagung des Etats 
durch die Kommission die Frage der Kostendeckung 
der Militürvorlage und des.Defizits gelöst werde. 
Die Frage sei nicht gelöst sondern nur ver 
schoben. 
Abg. Richter (freist Volksp.) stellt das Letztere 
in Abrede, jedenfalls sehe man jetzt klarer. Wenn 
die Regierung sich bei ihrer Veranschlagung auf 
den dreijährigen Durchschnitt Ritze, so sei dies 
und die Contingentirung ließen sich jeden Augen 
blick durch den Nachweis rechtfertigen, wie sich 
die Verwerthung der Kartoffeln zur Spiritus- 
production stelle und daß, wenn die Brennereien 
weiter belastet würden, der Kartoffelbau im gegen 
wärtigen Umfang nicht mehr möglich sei. (Leb 
hafter Beifall rechts). Damit werde der größte 
Theil der Landwirthschaft überaus geschädigt 
werden. Ter Gedanke eines Nachweises, wie 
Ausland. 
Außereuropäische Gebiete. 
Rio de Jauciro, 14. März. Gestern 
Nachmittag bombardirten die Regie 
rungsforts aufs heftigste die Forts der 
Insurgenten, die das Feuer nicht erwider 
ten. Um 4 Uhr lief das Regierungsge- 
schlvader in die Bai ein und nun strichen 
die Schiffe und Forts der Insurgenten 
die Flagge. Die Offiziere der Aufständi- 
schen zöget, sich^auf die französischen und 
portugiesischen Schiffe zurück. Der Ad- 
miral da Gama soll sich an Bord des 
englischen Kreuzers „Sirius" befinden. 
Yokohama. Die japanischen Blätter 
bringen eine Meldung von Korea, derzufolge 
ein Komplott zur Ermordung des Königs, 
des Thronfolgers und der Staatsminister 
entdeckt morden ist. Die Verschwörer 
wollten Schießpulver in den Schrein der 
Vorfahren des Königs legen und auf diese 
Weise den gesammten Hof in die Luft 
sprengen. Es sind 100 Personen verhaftet, 
die in die Verschwörung verwickelt sein 
sollen. 
Ein schlimmes Ende hat nach Mel 
dungen ausAmerika der frühere berliner Haus 
eigenthümer und Besitzer der Segelyacht 
„Störtebecker", Paasche, genommen, der 
unter Zurücklassung seiner Familie mit 
einer Summe von etwa 15000 Mk. und 
einer Bierdonna nach Amerika gegangen 
war. Paasche ist dort von seiner Be 
gleiterin, die ihm sein Geld gestohlen hatte, 
verlassen worden, und hat sich aus Ver< 
ziveiflung darüber das Leben genommen, 
şşraukretm. 
Im Madeleine-Hotel in Paris brach dieser 
Feuer aus, das eine große Panik hervor 
rief unter den Gästen. Um Mitternacht 
wurden diese durch starken Rauchgeruch ge 
weckt, an der Flucht jedoch dadurch ver 
hindert, daß das Treppenhaus in vollen 
Flammen stand. Die Feuerwehr löschte 
den Brand und konnte die Damen, die zum 
Fenster hinausspringen wollten, bei Zeiten 
retten und weiteres Unheil verhüten. 
Italien. 
Während eines Begräbnisses stürzte 
in Grossotto in der italienischen Provinz 
Sondrio am Dienstag ein Theil der Um 
fassungsmauer des Friedhofes ein und ver 
schüttete zahlreiche Personen, von denen 5 
getödtet und 36 verwundet wurden. 
England. 
Der „Entdecker der Affensprache", Mr. 
Garner, hat in London in der Prinzeß 
Hall einen Vortrag über seine neuen „epoche 
machenden" Forschungen gehalten. Er er 
zählte, daß er sich tvieder nach Afrika be 
geben wolle, um noch mit anderen Gorillas 
zu „sprechen", obwohl er, wie er mit Stolz 
sagen könne;, deren schon mehr gesehen habe, 
als irgend ein anderer Forscher. Er werde 
wieder seinen Käfig benutzen, der gegen 
wärtig einem Negerstamme als Fetischtempel 
dient. Außerdem werde er den ihm gege 
benen Rath befolgen und sich schwarz 
arbeit, weil da die Gorillas ein 
größeres Zutrauen hätten! Im 
Uebrigen habe er bemerkt, daß sein kleiner 
Neger die beiden Chimpanses, welche Mr. 
Garner's intimste Freunde sind, weit besser 
verstehe, als er, der Professor selber. Diese 
Chimpanses — „Moses" und „Aron" — 
verstehen bereits, sich verständlich auszu 
drücken und verlangen beispielsweise „Bier, 
Brod, Tabak" in ganz bestimmten, leicht 
unterscheidbaren Lauten. In Borneo, wohin 
Mr. Garner dann auch gehen will, sollen 
„Aron" und „Moses" seinen Käfig theilen, 
damit der „Professor" auf diese Art auch 
Gespräche zwischen civilisirten und un- 
" Inte fisi’iuViita Misse. 
Kriminal Novelle von Gustav Höcker. 
„In der Nacht, die diesem Auftritte folgte, 
wurde meine Mutter ermordet," sagte Rudolf 
schaudernd. „Ohne die Tante hätten wir 
me erfahren, daß zwischen Beiden eine so 
Nsgc Scene vorgefallen und daß Flora die 
1 c von der Mutter gekündigt worden 
S "ly Züllicke, dessen Haar man noch in 
' iênc K???. Ermordeten fand, dessen ab- 
gcuffene Kravatte auf ihrem Bette lag, dessen 
Behauptung, mit Kandier um die Zeit des 
Mordes «nt Grünen Kreuz znsammenAtroffen 
zu sein, so schmählich Lügen gestraft wurde 
— hatte der etwa am Tage vorher keinen 
Auftritt mit Deiner Mutter gehabt? Es war 
ganz klug von Flora, über ihr eigenes 
Aergerniß zu schweigen. Oder hätte sic an 
gesichts der Todten den ganzen Zank noch 
einmal aufwärmen sollen, hätte sie sich an 
die Aufkündigung einer Stelle, in der sic ihr 
Brot verdiente, binden sollen, da nach dem Tode 
der Mutter die Kündigung doch null und 
nichtig war? Wie?" 
„Die Stunde ist zu diesen Erörterungen 
schlecht gewählt, Vater," sagte Rudolf mit 
einem bitterm Lächeln. „Du bist in der 
Hochzeitsstimmting, Du sichst Dich am Ziele 
T einet Wünsche und hast natürlich kein Auge 
für den Flecken des Verdachts, der plötzlich 
aus Deine Braut fällt. Es würde ja Dein 
Glück vernichten. Ich aber sehe mit den Augen 
des Sohnes, den seine Mutter liebte, trotz 
aller Eigenheiten, die ihr anhaften, und der 
sich vor dem Gedanken entsetzt, vielleicht ihre 
Mörderin an ihre Stelle treten zu sehen." 
„Nein, ich will Dir sagen, mit was für 
Augen Du die Sache ansiehst," raunte Brcdow 
dem Sohne zu^dicht an denselben herantretend: 
dm Augen des Eifersüchiigm, der die 
schöne Braut lieber selbst heimgeführt hätte, 
und dem es, da er dies nicht kann, große 
Freude machen würde, durch einen schändlichen 
Verdacht die Hochzeit zu stören und das 
Mädchen, welches dem Vater vor dem Sohne 
den Vorzug gab, in unsägliches Elend zu 
stürzen. Das sind die Augen, mit denen 
Du siehst!" 
„Eine Antwort hierauf wäre meiner un 
würdig!" entgegncte Rudolf mit männlicher 
Offenheit und folgte feinem Vater in das 
Zimmer zurück, wo die kleine Hochzeitsgesell 
schaft versammelt war. 
Bald darauf rasselten die Wagen nach dem 
Rathhausc und von da zur Kirche. 
VIII. 
„Ei, Gott zum Gruße! Also endlich 
wieder zurück von der Hochzeitsreise? Na, 
das ist ja erfreulich. Wie lange warm Sie 
mn fort? Drei Wochen? Immer gutes 
Reisewetter gehabt?" 
Mit diesen Worten wurde Herr Bredrw 
'egiiißt, als er sich nach mchrwöchentlick'er 
Abwesenheit nt der neben seinen, Hause ge- 
lcgenen Brauern zu einem Abmdtrunke einsund. 
Die Begrüßenden waren Doktor Scheffer 
der erste Arzt des Stüdchms, und der Bürger 
meister. 
„Wann sind Sic denn gekommen?" frug 
der Letztere, nachdem Brcdow am Tische ^latz 
genommen hatte. 
„Vor einer Stunde," war die Antwort. 
„Da haben Sie wohl auch schon von 
dem neuesten Ercigniß gehört", frug Doktor 
Scheffer. 
„Ein Grenzjäger sei im Walde erschossen 
worden, sagt man mir." 
„Vorgestern Nacht." 
Ist der Thäter schon ermittelt. 
„Nein." 
Wahrscheinlich war's ein Schmuggler?" 
„Das ist außer Zweifel." 
„Den wird man schwerlich erwischen," 
meinte Brcdow, „cs giebt ihrer zu viel in 
unserer Gegend." 
„Dieser Eine ist aber gezeichnet," bemerkte 
der Bürgermeister. „Er ist verwundet denn 
cs fanden sich Blutspuren." 
„Konnten die nicht von dem erschossenen 
Grenzjägcr herrühren? " 
„Nein,die Leiche lag zwanzig Schritt davon. 
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Grcnz- 
jäger zuerst geschossen und den Mann ver 
wundet. Dieser hat dann ebenfalls Feuer 
gegeben —" 
„Mit Mordwaffen sind ja diese Burschen 
immer versehen —" 
„Und hat seinen Gegner gleich tödtlich 
getroffen." 
„Wo ist denn eigentlich die That geschehen?" 
erkundigte sich Brcdow. 
„Gar nicht weit vom Grünen Kreuze." 
„Konnte man die Bliitspuren nicht ver 
folgen?" 
«Nur fünfzig bis sechzig Schritt weit, bis 
zum Bache. Dort hörten sie auf. Am 
Bache hat der Schmuggler seine Wunde jeden 
falls gewaschen und verbunden." 
„Könnte es übrigens nicht auch ein Wilderer 
gewesen sein?" meinte Bredow. 
„Nein, den» man hat die Hucke mit dem 
ganzen Waarcninhalt in dem Gebüsch beim 
Grünen Kreuz versteckt gesunden. Die Last 
ist dem Verwundeten offenbar zu schwer ge 
worden." 
„Wie cs scheint, soll unser Städtchen gar 
nicht mehr aus der Aufregung herauskommen," 
bemerkte Bredow. „Nächsten Monat kommt 
übrigens Züllickc vor's Schwurgericht. Bin 
gespannt, was es absetzen wird, ob Zucht 
haus oder —" 
„Der wird zum Tode vcrurtheilt, das ist 
ja selbstverständlich," fiel der Bürgermeister 
ein. „Vollendeter Mord mit vorausbedachter 
Absicht. Der Vertheidiger wird einen sehr 
schweren Stand haben." 
„Hat sich noch kein Käufer für Ihr Ge 
schäft gefunden, Herr Bredow?" frug der 
Arzt. 
„Es haben sich schon mehrere gemeldet," 
gab der Gefragte zur Antwort, „aber ich 
konnte mich noch mit keinem einigen, die 
Angebote waren mir zu niedrig. Mein 
Sohn freilich — der gäb's billig her, wenn's 
auf ihn allein ankäme; der weiß noch nicht, 
wie schwer Geld zil verdienen ist, und kann's 
nicht erwarten, in die weite Welt hinans- 
zufliegcn." 
„So hält er also an btefent Plane fest?" 
„Jawohl," nickte Brcdow. „Ich gehe 
übrigens ebenfalls stark mit dem Gedanken 
einer Ortsveränderung uni." 
„Oho!" rief der Bürgermeister, „Sie 
werden uns doch nicht untren werden wollen." 
„Wird wohl so kommen," bekräftigte 
Brcdow. „Ich will nach B. ziehen. Einer 
jungen Frau muß nian doch etwas bieten, 
hier gefällt cs ihr nicht mehr." 
Eben trat die Wirthin an den Tisch, um 
ebenfalls den zurückgekehrten Nachbar zu be 
grüßen, worauf sic sich an den Arzt wandte 
mit der thciliichmcndcn Frage: „Es steht 
wohl sehr schlimm mit dem Kinde? Soeben 
hat Jette Kandier wieder Eis bei uns ge 
holt. Heute schon zum dritten Male." 
Doktor Scheffer schüttelte etwas verwundert 
den Kopf. „Ich weiß von nichts." 
„Haben Sie denn das Kind nicht in 
Behandlung, Herr Doktor?" frug die Wir 
thin. „Es hätte Gehirnentzündung, sagte 
mir die Frau, als ich sie frug, wozu sie 
das Eis braucht." 
„Hm! DaS ist doch unverantwortlich," 
wunderte sich der Arzt, „bei einem so 
schweren Krankheitsfälle nicht einmal den 
Arzt zu Rathe zu ziehen. Ich begreife diese 
Leute nicht! Sic haben schon ein Kind 
verloren, das ich ihnen vielleicht retten konnte, 
wenn sie mich gerufen hätten, aber diese 
traurige Erfahrung scheint sie nicht klüger 
gemacht zu haben." 
„Lieber Himmel, es ist ja auch nur die 
Stiefmutter," sagte die Wirthin unter be 
dauerndem Achselzucken. Die hat kein Herz 
für die Kinder!" 
„^pch will doch einmal nach der Kleinen 
sehen," murmelte Doktor Scheffer. Er trank 
sein Bier ans, bezahlte, empfahl sich der 
Gesellschaft und ging. 
Es war in der siebenten Abendstunde, 
aber schon herrschte vollständige Dunkelheit, 
denn nian befand sich in der ersten Hälfte 
b/ö Oktobers. Die Lüden in dem Kandler'schen 
Häuschen waren geschlossen, doch schinimcrte 
Licht hindurch. Der Arzt mußte wiederholt 
klopfen. 
___ „Wer ist da?" ftug endlich Jette's 
Stimme. 
„Doktor Scheffer," tönte die Antwort. 
Es dauerte eine Weile, ehe von Innen 
der Riegel zurückgeschoben wurde und Jette 
den Ankömmling einließ. Sie war über den
	        
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