Full text: Newspaper volume (1894, Bd. 1)

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87ster Jahrgang. 
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Wo. 60. 
Montag, den 12. März 
1894. 
Morgen-Depeschen. 
Berlin, 12. März. Die „Nordd. Allg. 
Ztģ." schreibt: Wenn in einzelnen Preß- 
organen auch neuerdings wieder der An 
nahme Raum gegeben wurde, die verbün 
deten Regierungen würden für die laufende 
Session darauf verzichten, die dem Reichs 
tag gemachten Stcuervorlagen durchberathen 
zu sehen, so sind wir in der Lage, aus 
bester Quelle versichern zu können, daß die 
verbündeten Regierungen unter allen Um 
ständen darauf bestehen, nicht nur über die 
Steuervorlagen, sondern auch über das 
Finanzrefornigesetz vom Reichstage eine be 
stimmte Antwort zu erhalten. 
Berlin, 12. März. Graf Doenhoff- 
Friedrichstein, der sich von den Wühlern 
die Freiheit, gegen den Handelsvertrag mit 
Rußland zu stimmen, zurückgeben ließ und 
deshalb von der Presse der äußersten 
Rechten heftig angegriffen wurde, ist aus 
der konservativen Partei des Reichstages 
ausgeschieden. 
Berlin, 12. März. Der Reichstags 
abgeordnete von Koszielski hat sein Man 
dat niedergelegt. Wie in parlamentarischen 
Kreisen verlautet, soll sein Rücktritt mit 
den in seiner Fraktion entstandenen 
Meinungsverschiedenheiten zusammenhängen, 
welche anläßlich der ablehnenden Halung 
der preußischen Regierung gegenüber den 
Wünschen der Polen im Abgeordnetenhause 
herbeigeführt wurden. Es sollen hierbei 
Herrn von Koszielski, der bisher Führer 
der Polen war, Borivürfe gemacht worden 
sein, u. A., daß er zu verlrauensselig sei. 
Äoliii, IO. März. Aus dern gestrigen 
Abendschnellzuge, der zwischen Prag und 
Wien verkehrt, sprang unweit der Station 
Ocmal ein Passagier, ohne sich zu verletzen, 
während der Fahrt heraus und entfloh. 
Er wurde jedoch von Feldarbeitern ergriffen 
und dem hiesigen Bezirksgericht übergeben. 
Dort gab er an, August Roehrig zu heißen, 
Töpfergehülfe und in Preußen gebürtig 
zu sein. Eine größere Geldsumme, die man 
bei ihm fand, und der allgemeine Eindruck, 
welchen der Flüchtling machte, bestätigten 
indeß die Vermuthung, daß man es mit 
einem ausländischen Anarchisten zu thun hat. 
Rom, 12. März. Fast die gesammte 
Presse drückt ihr Erstaunen darüber aus, 
daß das neuerliche Bombàattentat über 
haupt möglich gewesen sei, trotzdem schon 
seit längerer Zeit die ausgedehntesten Vor 
sichtsmaßregeln zum Schutze der Kammern 
getroffen worden waren und am 8. März 
wegen der eventuellen Ablehnung der Vor 
lage betreffend eine Ausstellungslotterie 
Demonstrationen befürchtete. Die „Tri- 
buna" hofft angesichts dieser Thatsache, 
daß das Polizeiwesen einer Neuorganisation 
unterzogen werden möge. 
Rom, 12. März. Der in Macomer 
(Sardinien) ansässige reiche englische Guts 
besitzer Perch wurde, als er mit seiner 
Schwester zu Pferde einen Ausflug unter 
nahm, von Briganten überfallen. 
Beide Ueberfallenen entkamen. Die Kleider 
Percys wurden von ihnen nachgesandten 
Kugeln durchlöchert. Er selbst blieb un 
versehrt. 
Rom, 12. März. Im Scalatheater in 
Biailand kam es bei der gestrigen Auf 
führung der Walküre zu einer heftigen 
Prügelei zwischen Wagnerianern und 
Antiwagnerianern. Die letzteren stnrm- 
ten das Orchester, schlugen den Dirigenten 
in die Flucht und erzwangen den Schluß 
der Vorstellung noch vor Beendigung des 
ersten Aktes. 
Paris, 10. März. Eine heftige Ex 
plosion verursachte in der letzten Nacht 
in Colombes große Aufregung. Es war 
eine Bombe unter dem Bette eines Ar 
beiters geplatzt. Dieser behauptet, die 
Bombe sei auf Veranlassung der Eigen- 
thümerin des Hauses gelegt worden, wäh- 
ivend die Eigenthümerin behauptet, der 
Arbeiter habe die Bombe selbst mitgebracht, 
um sie aus Rache zu todten. 
Rom, 10. März. Beim Beginn der 
Sitzung lvollte ein pensionirter Elementar 
schullehrer aus Ferrara, Namens Forti, 
die öffentliche Tribüne betreten und unter 
dein Vorwände, erkältet zu sein, den tteber- 
zieher anbehalten. Die Thürhüter ver 
weigerten ihm den Eintritt und fanden, 
als sie seine Kleidung untersuchten, Steine 
vor. Forti erklärte, er habe diese Steine 
in der Nähe der Trajansäule gesammelt 
und wollte ihr spezifisches Gewicht berechn 
nen. Forti wurde verhaftet und dem Po 
lizeibureau zugeführt. 
Madrid, 10. März. Der Alcalde und 
der Sacristan des Dorfes Fuenterrobollo 
wurden gestern durch die Explosion einer 
von unbekannten Individuen in verbreche 
rischer Absicht gelegten Dynamitpatrone 
verwundet. Beide sind in der Nacht ge 
storben. 
Aus Iokohama ivird telegraphirt, daß 
fast in allen Städten Japans bei den 
Wahlen die blutigsten Exzesse vorgekommen 
in großer Anzahl zu verzeichnen. Ein 
Komplott gegen den Kaiser, den Kron 
prinzen und die Minister wurde durch 
Polizisten entdeckt und glücklicherweise im 
Keime erstickt. Ueber 1000 Verhaftungen 
haben stattgefunden. 
. 'r, , • ”••• e üürqenraimen 
noch strenger gehandhabt wurden, weil nian seien. Todesfälle und Verwundungen seien 
' Wer wļckà Kölle. 
Kriminal Novelle von Gustav Höcker. 
»Es muß aber doch etwas Wahres daran 
sein," fuhr der Kommissar fort. „Sic sollen 
mit dem jungen Bredow eine Kahnfahrt auf 
dem Sec gemacht haben und bei dieser Ge 
legenheit hat er Sie geküßt." 
»Das hat er; ich konnte es nicht hindern," 
antwortete Flora ruhig. 
" V* er 2hnm dabei eine Liebeserklärung 
gemacht? 0 
„Natürlich! 
„RünmenSieein, das Frau Bredow einer 
He,rath zwischen Ihnen und ihre», Sohne crust- 
liche Hindernisse m den Weg gestellt haben 
würde?" 
„Ganz gewiß," sagte Flora überzugt. „Frau 
Bredow würde eine solche Hcirath nie zuge 
geben haben." 
Bis hierher hatte der Kriminalbeamte das 
Mädchen mit Blicken angesehen, die wie Dolche 
trafen aber sic prallten an der klassischen Ruhe 
ihrer Mienen ab und keine noch so leise Be 
wegung der Seele vermochten sic ans der 
unergründlichen Tiefe der dunklen Augen zu 
Tage zu fördern. 
»Es fehlt Ihnen hier am Orte wohl nicht 
stn q e ļ nb ™. ? " frug der Kommissar. 
,,1.'""ßtc nicht," antwortete Flora kopf 
schüttelnd. 
Damit war sic entlassen und auch dic Bor- 
untersuchung geschlossen. Die Akten derselben 
wanderten nach B., wo der Prozeß im Spät- 
herbste zur Verhandlung kommen sollte. 
Rudolf sollte bald Veranlassung finden, sich 
Zu fragen, ob denn jener unvergeßliche Abend 
auf dem Sec und das süße Gcstnndniß, welches 
Deutscher Merchstag. 
68. Sitzung 
Berlin, 10. März. 
Die abermalige Verlängerung des Handels 
provisoriums mit Spanien bis 15. Mai d. I 
wird in 1. und 2. Lesung ohne Debatte ange 
nommen. 
Das Haus tritt sodann in die zweite Berathung 
des deutsch-russischen Handelsvertrages. 
Abg. Frhr. v. M a n t e u f f e l (sons.) erklärt 
zur Geschäftsordnung, seine politischen Freunde 
bedauerten es auf's Lebhafteste, daß nur münd 
licher, nicht schriftlicher Bericht über die Com 
missionsberathungen den: Hause erstattet werde. 
Seine Partei sä der Meinung, daß für einen so 
wichtigen Antrag wie der Handelsvertrag, nach 
dem er so eingehend berathen worden, eine schrist 
jschc Berichterstattung hätte erfolgen müssen 
lBefall rechts.) Ein von Redner in der Com 
mission gestellter dahingehender Antrag sei abge 
lehnt worden. Die Situation sei aber doch wirk- 
lrch wunderbar. Als der österreichische Handels 
vertrag berathen worden sei, sei nicht einmal eine 
Commissionsberathung zugestanden, sondern die 
Berathung im Plenum vorgenommen. Als die 
sogenannten kleinen Handelsverträge zur Be 
rathung gestanden hätten, sei eine Commissions 
Berathung zugestanden und ein schriftlicher Be 
richt sei erstattet worden; jetzt, wo der große 
russische Vertrag berathen werde, habe man zwar 
eine Commissionsberathung beliebt, aber einen 
schriftlichen Bericht abgelehnt. Dies müsse doch 
im Lande den Anschein erwecken, als ob die kleinen 
Handelsverträge viel wichtiger gewesen seien al 
dieser. Aus. den angeführten Gründen könne 
Redner im Namen seiner Freunde nur dem leb 
haften Bedauern Ausdruck geben, daß ein schrift 
licher Bericht nicht erstattet sei (Lebhafter Bei 
fall rechts). 
Abg. Rickert (frs. Ver.). Cr habe in ter 
Commission die Gründe angegeben, die ihn ver 
anlaßt hätten, de-, Antrag auf schriftlichen Be 
richt abzulehnen. Es handle sich um einen sehr 
wichtigen Vertrag, dessen Zustandekommen von 
der gesummten Handelswelt in Deutschland mit 
größter Spannung erwartet werde. Am 20. März 
sollte der Vertrag fertig sein, jeder Tag Auf 
schub würde große Verluste zur Folge haben, 
es sei also Pflicht deä Reichstags, den Vertrag 
vor Ostern zu Ende zu führen. Die Konserva 
tiven hätten allerdings geglaubt, in der Com 
mission neue Gründe beigebracht zu haben, dies 
sei jedoch keineswegs der Fall. Redner habe dies 
bereits erklärt. Durch schriftlichen Bericht wür 
den 3—4 Wochen verloren gegangen sein. 
Abg. Dr. Bachem (Centr.) macht ebenfalls 
darauf aufmerksam, daß der Referent zu einem 
schriftlichen Berichte mindestens 14 Tage gebraucht 
j haben würde. Die Gegner des Vertrages hätten 
iin langer sachlicher Diskussion alle ihre Gründe 
'vorgebracht. 
Wz. Dr. H a »t m acher (natlib.) meint, die 
Gegner könnten ja diesen oder jenen Theil des 
Vertrages an die Commission zurückverweisen. 
Abg. Frhr. v. M a n t e u f f e l bezweifelt, ob 
sie von diesem Rechte Gebrauch machen könnten, 
da sie befürchten müßten, gegen die Mehrheit 
nichts ausrichten zu können. 
Nach einer Erwiderung des Abg. Dr. Häm 
in a ch e r tritt das Haus ein in die Berathung 
des Art. l (Gleichstellung der Angehörigen eines 
fremden Staates mit den Einheimischen in Bezug 
auf Handel und Gewerbebetrieb und Zusicherung 
der Meistbegünstigung, auch was das Paßwesen 
anbetrifft.) 
Berichterstatter Dr. Möller referirt über die 
Verhandlungen der Commission. 
Dr. Hasse (natl.) Schon in der ersten Lesung 
habe Dr. Osann Bedenken gegen den Artikel aus 
gesprochen. Er theile auch jetzt noch diese Be 
denken, die durch die Erklärungen der Regierungs- 
vertreter für ihn nicht beseitigt worden seien. 
Auch bezüglich Art. 22 des Schlußprotokolls hege 
erim Hinblick auf die russischen Juden Besorg 
nisse. Die Bestimmungen seien hier nicht klar 
und es bedürfe der Aufklärung wegen der Juden, 
die nicht_ Reichsangehörige seien. ' Die Einwan 
derung sei früher eine sehr starke gewesen, dieser 
Uebelstand müsse gehoben werden. Es handle 
sich vorzüglich um die russischen Arbeiter, denn es 
habe sich herausgestellt, daß ihr Eindringen nicht 
etwa die Folge, sondern die Ursache der Sachsen 
gängerei sei. Das halte aber seine Partei nicht 
ab, für den Artikel 1 zu stimmen. Vielleicht gebe 
jetzt schon die Regierung eine Erklärung über die 
Staffeltarife ab. 
Reichskanzler Graf Caprivi: In Bezug 
auf die Staffeltarife könne er erklären, daß die 
verbündeten Regierungen mit den Ausführungen 
des Staatssekretärs in der Kommission überein 
stimmten. Was den Termin der Aufhebung be 
treffe, so seien die Erwägungen zwar noch nicht 
ganz abgeschloßen, aber wirthschastliche Bedenken 
gegen den 1. August als Aushebungstermin 
schienen nicht vorzuliegen. Es sei die Frage, ob 
inan dauernd die Aushebung fixiren solle. Die 
preußische Regierung könne sich nicht formell bin 
den, die aufgetretenen^ Zweifel würden sich aber 
dadurch erledigen, daß die wesentlichen Motive 
der preußischen Regierung für die Aufhebung der 
Staffeltarife im Zusammenhange mit bent Han 
delsverträge und der Aufhebung des Jdentitäts- 
iiachweises ständen. Da sei doch die Schluß 
folgerung der Staffeltarife für Cerealien während 
der Dauer der Handelsverträge wieder einzu 
führen. Immerhin habe der Staatssekretär mit 
vollem Recht erklärt, daß eine bindende Ver 
pflichtung^ in dieser Hinsicht nicht übernommen 
werden könne. Es könnte ja nothwendig wer 
den, im Interesse nothleidcnder Laudestheile die 
Staffeltarife wieder einzuführen. Argwöhnische 
Gemüther hätten daraus geschloffen, die Staffel 
tarife würden nicht auigehoben, um dem Handels 
vertrag zur Annahme zu helfen. Dies liege nicht 
in der Meinung der preußischen Regierung; sie 
wolle völlig loyal vorgehen Ob die Fracht auf 
Mühlenfabrikate günstiger gestellt werden könne, 
müsse die .Erfahrung lehren Man sage mit 
Recht, mit der Aufhebung des Identitätsnach 
weises mache man einen Sprung ins Dunkle. 
Deshalb müsse man aber, um Consequenzen dar 
aus ziehen zu können, auch warten, bis es etwas 
heller geworden sei. Erst dann könne man der 
Aufhebung der Staffeltarife nähertreten. Die 
er damals mit der Geliebten ausgetauscht, nur 
ein schöner Traum gewesen sei? Obwohl er 
nun mit ihr allein im Geschäfte war und ihr 
im Laden helfend zur Seite, wich sie doch jedem 
vertraulichen Gespräche aus, auch hatte sie 
für ihn nicht mehr das berauschende Lächeln, 
welches ihn einst beglückte und ermuthigte. 
Er wußte sich nicht zu erklären, was in ihr 
vorging. Das einzige Hinderniß, welches 
zwischen den Liebenden gestanden hatte, war 
behoben, die strenge Mutter mit dem unbeug 
samen Willen ruhcte draußen auf dem Kirch 
hofe, und nun schien sich plötzlich Flora's 
Sinn gewendet zu haben, als verschmähe sic 
ein Glück, welches nicht mehr durch heiße 
Kämpfe errungen zu werden brauchte. 
Rudolf beobachtete, daß jeden Tag cmc 
frische Rose Flora's Busen schmückte. Brach 
sic die schönsten Rosen des Gartens mit eigner 
Hand? Bei Lebzeiten der Mutter gehörte dies 
zu den verbotenen Dingen; setzte sich Flora 
min darüber hinweg? Nein das glaubte 
Rudolf nicht, aber er paßte am thaufrischcn 
Jiorgen dem Rosendiebe auf. Dem Diebe? 
, cs war kein Dieb, denn die Hand, 
welche die Rosen brach, war in ihrem Rechte, 
sie nahm, was ihr gehörte — der tägliche 
Rosenspmder war Rudolfs Vater. 
Der junge Mann begann den Sinn dieser 
Blmumsprache zwischen seiner erkaltete» Ge 
liebten und dem Wittwer zu ahnen Oft 
fand er Beide in angelegentlichem Zwiegespräch, 
welches sie dann stets^ abbrachen; aber nicht 
lange scheuten diese Heimlichkeiten das Licht 
des Tages. 
„Höre Rudolf," sagte eines Morgens der 
Vater, als ihn der Sohn wieder beim Ab 
schneiden einer Rose im Garten betraf, „das 
Vermögen der Mutter gehört uns zu zwei 
Frage der Aufhebung sei übrigens von der in 
Preußen entscheidendsten Stolle ausgegangen. 
Staatssekretär v. Marsch all: Die deutsche 
Regierung behalte vollkommen freie Hand, aus 
Rußland über die Grenze kommende Individuen 
abzuschieben, oder zurückzusenden. Verschieden da 
von sei es, wie solche Leute zu behandeln seien, 
die die russische Staatsangehörigkeit verloren und 
eine neue nicht erworben hätten. Artikel 22 ent 
halte Vorschriften darüber, daß Rußland ver 
pflichtet sei, solche wieder aufzunehmen, wozu es 
bisher nicht gezwungen gewesen sei. 
Abg. Lotze (D. R.-P.): In Artikel 1 sei die 
nationale Gefahr der Einwanderung der russischen 
Juden unterschätzt. Der Abg. Rickert werde wohl 
noch darauf eingehen. Redners Partei müsse den 
Artikel 1 ablehnen. Mit dem Vertrag lenke man 
wieder in freihändlerische Bahnen ein. 
Abg. Rickert (frets. Ver.): Die Erklärung 
des Reichskanzlers über die Staffeltarife habe er 
dahin aufgefaßt, daß eine generelle Reform der 
Eisenbahntarife nicht ausgeschlossen sei. Eine 
Rede über die Judenfrage habe er in der Kom 
mission nicht versprochen und auch im Reichstage 
werde er sich der Enthaltsamkeit in diesem Punkte 
befleißigen, damit der Vertrag recht bald erledigt 
werde und in Kraft treten könne. Nationale Ge 
fahren erblicke er in Artikel 1 nicht. Derartige 
Bestimmungen würden in alle Verträge ausge 
nommen und es würde seltsam ausgesehen haben, 
wenn sie in diesem weggeblieben wären. 
Abg. v Liebe rm an n (Antis.) besteigt mit einem 
großen Stoß von Papieren die Tribüne, was 
vom Hause mit allgemeiner Heiterkeit begrüßt 
wird. Er erklärt sich von je als Gegner der 
Handelsvertragspolitik. Mit Artikel 1 stehe und 
falle der Vertrag. (Redner führt dies in sehr 
breiter Weise aus, der Vizepräsident o. Buol 
ermahnt ihn, sich an die Sache zu halten. Abg 
v. Liebermann droht dann, bei jedem ein 
zelnen Artikel das Wort zu ergreifen.) Bei 
diesem Vertrage liege der Vortheil auf Seiten 
Rußlands. (Ruf: Zur Sache!) Es sei bekannt, 
daß es keinen schlechteren Markt gebe als den 
russischen. (Ruf: Das ist Genei aldiskussion!) 
Der Art. 1 bringt die Gefahr der Ueberschwem- 
mung Deutschlands mit russischen Juden mit 
sich. Die deutschen Unterhändler haben die Noth 
lage Rußlands nicht genügend ausgenutzt. Man 
hat auch mchts dazu gethan, urn für unsere 
deutschen Stammesgenossen in den russischen 
Ostseeprovinzen einzutreten. Wir hätten auf 
diesem politischen Gebiete manches erreichen kön 
nen in einem Zeitpunkt, wo Rußland uns wrrth- 
schaftlich bedrohte. Ein kalter Wasserstrahl müßte 
einmal gegenüber den Kriegsdrohungen der 
russischen Presse nach Rußland geschickt werden. 
Wozu haben Sie denn sonst die „Nordd. Allg. 
Ztg." (Heiterkeit.) Dann hätten die russischen 
Zeitungen nicht die Unverschämtheit, uns mit 
Krieg zu drohen, wenn wir den Vertrag ab 
lehnen. Anstatt dieser Kosakenfurcht entgegenzu 
treten, stimmten die liberalen Zeitungen in die 
Heulmeierei ein. (Zustimmung rechts.) Fürst 
Bismarck hat neulich dementirt, daß er de» Krieg 
uit Fall der Ablehnung des Vertrages in Aus 
sicht stellte. (Bravo! rechts.) Wenn die Russen 
eilt“» Krieg wollen, mögen sie nur kommen. 
(Lebhafte Zustimmung rechts, Lachen links.) Herr 
Richter unterbricht mich immer. (Abg. Richter: 
Das ist gar nicht wahr, ich habe einen Brief 
geschrieben. Sie wollen sich durch Berufung auf 
gleichen Hälften und jeder hat genug, um da 
von ohne Sorgen leben zu können. Von 
Dir weiß ich, daß Du nicht aufs Geld er 
picht bist. 'Oder sollte ich unch irren? Wäre 
es Dir etwa darum zu thun, auch dereinst 
meinen Antheil uugeschwächt zu erben?" 
„Nein, Vater," entgcgncte Rudolf ahnungs 
voll, „so weitgehend und selbstsüchtig sind 
meine Berechnungen nicht. Du kannst mit 
Deinem Vermögen machen, was Du willst." 
„Ich war von meinem braven Sohne im 
Boraus überzeugt, daß er so sprechen würde," 
nickte Bredow freundlich. „Sieh', Rudolf, ich 
bin noch lange kein alter Mann, meine 45 
Jahre drücken mich nicht, und ich sehe nicht 
ein, warum ich mein Leben nicht noch genießen 
sollte. Habe ohnehin bis jetzt verdammt wenig 
davon gehabt. Ich habe mich daher entschlossen, 
wieder zu heirathen." 
„Ich dachte mir cs bereits," entgcguctc 
Rudolf, sich zusammennehmend. 
„Nun, dann wirst Du auch wohl wissen, 
auf wen ich mein Augenmerk gerichtet habe," 
fuhr der Vater fort. „Zu einem gewöhnlichen 
Ladenmädchen würde ich mich nicht herabge 
lassen haben. Flora aber stammt aus einer 
besseren Familie, hat eine feine Bildung — 
kurz mit ihr kann sich ein jeder Mann sehen 
lassen. Hättest Du etwas gegen ihre Heirath?" 
„Nein, dazu achte ich Deine Willens 
freiheit zu sehr," versetzte Rudolf. 
„Ich hoffe, Du wirst Dich mit Deiner 
künftigen Stiefmutter gut vertragen," sagte 
Bredow. 
„Es fragt sich sehr, ob ich dieses neue 
Glück überhaupt genießen werde, Vater." 
Wie meinst Du das? 
Ich habe noch wenig von der Welt gc- 
chcn; es zieht mich hinaus, fort über Länder! 
und Meere. Nun, da die Mutter todt ist, 
hält mich ja hier nichts zurück." 
„Und die Hcirath mit Deiner Cousine, 
welche dic Mutter so gern gesehen hätte?" 
„Ich werde niemals heirathen," versicherte 
Rudolf mit bitterem Lächeln. 
„Und ich bin natürlich weit entfernt, Dir 
irgend welche Vorschriften machen zu wollen," 
sagte der Vater, „Nur das Geschäft macht 
mu: Sorge. Ich habe mich schon lange 
nicht mehr darum bekümmert, und es allein 
fortzuführen, dazu verspüre ich keine sonder 
liche Lust." 
„Vielleicht fände sich ein Käufer dafür," 
meinte Rudolf. Der Vater nickte. „Wir 
wollen es in die Zeitung setzen lassen. So 
lange aber diese Sache nicht geregelt ist, 
darf ich wohl auf Dich rechnen, Rudolf, daß 
Du das Geschäft nicht im Stiche läßt. Es 
ist Dein eigener Vortheil, denn Du bist 
daran bcthciligt, so gut >vic ich. Besorge 
also das Zeituugsinserat. Auch müssen wir 
immerhin auf einen Ersatz für Flora bedacht 
sein, und das so bald wie möglich, denn 
in vier Wochen will ich mit ihr Hochzeit 
halten." 
„Wie? So bald schon nach der Mutter 
Lode?" frug Rudolf betroffen. „Ich glaubte, 
Du würdest wenigstens das übliche Trauer 
jahr erst vorübergehen lassen." 
„Das ist doch nur eine leere Ceremonie," 
entgegnete der Vater in herbem Tone. „Ich 
habe dic Tyrannei der Mutter, dic Gott 
clig haben möge, lauge genug getragen, als 
daß ich diesem strengen Regiment auch noch 
ein langes Andenken widmen möchte. Zu 
dem erregt cs Anstoß, wenn Brautleute zu 
sammen unter dem gleichen Dache wohnen. 
Soll ich mich erst noch einmal von meiner 
Braut trennen? Nein, das ist mir zu 
umständlich, da mache ich lieber kurzen Prozeß 
und feiere so bald wie möglich Hochzeit . . 
An demselben Tage benutzte Rudolf einen 
freien Augenblick, wo keine Käufer im Laden 
waren, zu Flora zu sagen: „Mein Pater 
hat mir heute seinen Entschluß mitgetheilt, 
sich wieder zu verhcirathen. Erlauben Sie 
mir daher, Ihnen Glück zu wünschen." 
Nicht so leicht verrieth sich eine innere 
Bewegung in Flora's Gesicht. 'Bei diesen 
Worten aber ergoß sich über dasselbe eine 
dunkle Nöthe. 
„Ich danke Ihnen," antwortete sie, „wenn 
auch Ihr Glückwunsch mehr wie ein bitterer 
Vorwurf klang. Aber sollte das gehässige 
Geflüster der Leute nie zu Ihren Ohren ge 
drungen sein? Wissen Sie nicht, was man 
über Sie und mich spricht?" 
„Ich habe von einigen meiner näheren 
Bekannten Anspielungen zu hören bekommen, 
daß ich mein Herz an Sic verloren hätte, 
Flora,^ erwiderte der junge Mann. „Etwas 
Gehässiges habe ich darin nicht gefunden." 
„Es giebt aber Leute, welche dic Sache 
nicht von dieser Seite allein betrachten," 
sagte Flora. „Man weiß, daß Ihre Mutter 
duffe Verbindung nicht geduldet haben würde, 
und nun heißt cs, cs hätte uns nichts will- 
kommener sein können, als ihr plötzlicher Tod. 
Wenigstens behauptet man das von mir." 
„Und diesem Vvrürtheile der Welt haben 
Sie mich zum Opfer gebracht?" frug Rudolf 
trübe. 
.Ich thue, was ich uns Beiden schuldig 
bin," entgcgncte Flora schmerzlich. „Ich 
suche dic bösen Zungen zum Schweigen zu 
bringen, indem ich die Werbung des Vaters
	        
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