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87ster Jahrgang.
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Wo. 60.
Montag, den 12. März
1894.
Morgen-Depeschen.
Berlin, 12. März. Die „Nordd. Allg.
Ztģ." schreibt: Wenn in einzelnen Preß-
organen auch neuerdings wieder der An
nahme Raum gegeben wurde, die verbün
deten Regierungen würden für die laufende
Session darauf verzichten, die dem Reichs
tag gemachten Stcuervorlagen durchberathen
zu sehen, so sind wir in der Lage, aus
bester Quelle versichern zu können, daß die
verbündeten Regierungen unter allen Um
ständen darauf bestehen, nicht nur über die
Steuervorlagen, sondern auch über das
Finanzrefornigesetz vom Reichstage eine be
stimmte Antwort zu erhalten.
Berlin, 12. März. Graf Doenhoff-
Friedrichstein, der sich von den Wühlern
die Freiheit, gegen den Handelsvertrag mit
Rußland zu stimmen, zurückgeben ließ und
deshalb von der Presse der äußersten
Rechten heftig angegriffen wurde, ist aus
der konservativen Partei des Reichstages
ausgeschieden.
Berlin, 12. März. Der Reichstags
abgeordnete von Koszielski hat sein Man
dat niedergelegt. Wie in parlamentarischen
Kreisen verlautet, soll sein Rücktritt mit
den in seiner Fraktion entstandenen
Meinungsverschiedenheiten zusammenhängen,
welche anläßlich der ablehnenden Halung
der preußischen Regierung gegenüber den
Wünschen der Polen im Abgeordnetenhause
herbeigeführt wurden. Es sollen hierbei
Herrn von Koszielski, der bisher Führer
der Polen war, Borivürfe gemacht worden
sein, u. A., daß er zu verlrauensselig sei.
Äoliii, IO. März. Aus dern gestrigen
Abendschnellzuge, der zwischen Prag und
Wien verkehrt, sprang unweit der Station
Ocmal ein Passagier, ohne sich zu verletzen,
während der Fahrt heraus und entfloh.
Er wurde jedoch von Feldarbeitern ergriffen
und dem hiesigen Bezirksgericht übergeben.
Dort gab er an, August Roehrig zu heißen,
Töpfergehülfe und in Preußen gebürtig
zu sein. Eine größere Geldsumme, die man
bei ihm fand, und der allgemeine Eindruck,
welchen der Flüchtling machte, bestätigten
indeß die Vermuthung, daß man es mit
einem ausländischen Anarchisten zu thun hat.
Rom, 12. März. Fast die gesammte
Presse drückt ihr Erstaunen darüber aus,
daß das neuerliche Bombàattentat über
haupt möglich gewesen sei, trotzdem schon
seit längerer Zeit die ausgedehntesten Vor
sichtsmaßregeln zum Schutze der Kammern
getroffen worden waren und am 8. März
wegen der eventuellen Ablehnung der Vor
lage betreffend eine Ausstellungslotterie
Demonstrationen befürchtete. Die „Tri-
buna" hofft angesichts dieser Thatsache,
daß das Polizeiwesen einer Neuorganisation
unterzogen werden möge.
Rom, 12. März. Der in Macomer
(Sardinien) ansässige reiche englische Guts
besitzer Perch wurde, als er mit seiner
Schwester zu Pferde einen Ausflug unter
nahm, von Briganten überfallen.
Beide Ueberfallenen entkamen. Die Kleider
Percys wurden von ihnen nachgesandten
Kugeln durchlöchert. Er selbst blieb un
versehrt.
Rom, 12. März. Im Scalatheater in
Biailand kam es bei der gestrigen Auf
führung der Walküre zu einer heftigen
Prügelei zwischen Wagnerianern und
Antiwagnerianern. Die letzteren stnrm-
ten das Orchester, schlugen den Dirigenten
in die Flucht und erzwangen den Schluß
der Vorstellung noch vor Beendigung des
ersten Aktes.
Paris, 10. März. Eine heftige Ex
plosion verursachte in der letzten Nacht
in Colombes große Aufregung. Es war
eine Bombe unter dem Bette eines Ar
beiters geplatzt. Dieser behauptet, die
Bombe sei auf Veranlassung der Eigen-
thümerin des Hauses gelegt worden, wäh-
ivend die Eigenthümerin behauptet, der
Arbeiter habe die Bombe selbst mitgebracht,
um sie aus Rache zu todten.
Rom, 10. März. Beim Beginn der
Sitzung lvollte ein pensionirter Elementar
schullehrer aus Ferrara, Namens Forti,
die öffentliche Tribüne betreten und unter
dein Vorwände, erkältet zu sein, den tteber-
zieher anbehalten. Die Thürhüter ver
weigerten ihm den Eintritt und fanden,
als sie seine Kleidung untersuchten, Steine
vor. Forti erklärte, er habe diese Steine
in der Nähe der Trajansäule gesammelt
und wollte ihr spezifisches Gewicht berechn
nen. Forti wurde verhaftet und dem Po
lizeibureau zugeführt.
Madrid, 10. März. Der Alcalde und
der Sacristan des Dorfes Fuenterrobollo
wurden gestern durch die Explosion einer
von unbekannten Individuen in verbreche
rischer Absicht gelegten Dynamitpatrone
verwundet. Beide sind in der Nacht ge
storben.
Aus Iokohama ivird telegraphirt, daß
fast in allen Städten Japans bei den
Wahlen die blutigsten Exzesse vorgekommen
in großer Anzahl zu verzeichnen. Ein
Komplott gegen den Kaiser, den Kron
prinzen und die Minister wurde durch
Polizisten entdeckt und glücklicherweise im
Keime erstickt. Ueber 1000 Verhaftungen
haben stattgefunden.
. 'r, , • ”••• e üürqenraimen
noch strenger gehandhabt wurden, weil nian seien. Todesfälle und Verwundungen seien
' Wer wļckà Kölle.
Kriminal Novelle von Gustav Höcker.
»Es muß aber doch etwas Wahres daran
sein," fuhr der Kommissar fort. „Sic sollen
mit dem jungen Bredow eine Kahnfahrt auf
dem Sec gemacht haben und bei dieser Ge
legenheit hat er Sie geküßt."
»Das hat er; ich konnte es nicht hindern,"
antwortete Flora ruhig.
" V* er 2hnm dabei eine Liebeserklärung
gemacht? 0
„Natürlich!
„RünmenSieein, das Frau Bredow einer
He,rath zwischen Ihnen und ihre», Sohne crust-
liche Hindernisse m den Weg gestellt haben
würde?"
„Ganz gewiß," sagte Flora überzugt. „Frau
Bredow würde eine solche Hcirath nie zuge
geben haben."
Bis hierher hatte der Kriminalbeamte das
Mädchen mit Blicken angesehen, die wie Dolche
trafen aber sic prallten an der klassischen Ruhe
ihrer Mienen ab und keine noch so leise Be
wegung der Seele vermochten sic ans der
unergründlichen Tiefe der dunklen Augen zu
Tage zu fördern.
»Es fehlt Ihnen hier am Orte wohl nicht
stn q e ļ nb ™. ? " frug der Kommissar.
,,1.'""ßtc nicht," antwortete Flora kopf
schüttelnd.
Damit war sic entlassen und auch dic Bor-
untersuchung geschlossen. Die Akten derselben
wanderten nach B., wo der Prozeß im Spät-
herbste zur Verhandlung kommen sollte.
Rudolf sollte bald Veranlassung finden, sich
Zu fragen, ob denn jener unvergeßliche Abend
auf dem Sec und das süße Gcstnndniß, welches
Deutscher Merchstag.
68. Sitzung
Berlin, 10. März.
Die abermalige Verlängerung des Handels
provisoriums mit Spanien bis 15. Mai d. I
wird in 1. und 2. Lesung ohne Debatte ange
nommen.
Das Haus tritt sodann in die zweite Berathung
des deutsch-russischen Handelsvertrages.
Abg. Frhr. v. M a n t e u f f e l (sons.) erklärt
zur Geschäftsordnung, seine politischen Freunde
bedauerten es auf's Lebhafteste, daß nur münd
licher, nicht schriftlicher Bericht über die Com
missionsberathungen den: Hause erstattet werde.
Seine Partei sä der Meinung, daß für einen so
wichtigen Antrag wie der Handelsvertrag, nach
dem er so eingehend berathen worden, eine schrist
jschc Berichterstattung hätte erfolgen müssen
lBefall rechts.) Ein von Redner in der Com
mission gestellter dahingehender Antrag sei abge
lehnt worden. Die Situation sei aber doch wirk-
lrch wunderbar. Als der österreichische Handels
vertrag berathen worden sei, sei nicht einmal eine
Commissionsberathung zugestanden, sondern die
Berathung im Plenum vorgenommen. Als die
sogenannten kleinen Handelsverträge zur Be
rathung gestanden hätten, sei eine Commissions
Berathung zugestanden und ein schriftlicher Be
richt sei erstattet worden; jetzt, wo der große
russische Vertrag berathen werde, habe man zwar
eine Commissionsberathung beliebt, aber einen
schriftlichen Bericht abgelehnt. Dies müsse doch
im Lande den Anschein erwecken, als ob die kleinen
Handelsverträge viel wichtiger gewesen seien al
dieser. Aus. den angeführten Gründen könne
Redner im Namen seiner Freunde nur dem leb
haften Bedauern Ausdruck geben, daß ein schrift
licher Bericht nicht erstattet sei (Lebhafter Bei
fall rechts).
Abg. Rickert (frs. Ver.). Cr habe in ter
Commission die Gründe angegeben, die ihn ver
anlaßt hätten, de-, Antrag auf schriftlichen Be
richt abzulehnen. Es handle sich um einen sehr
wichtigen Vertrag, dessen Zustandekommen von
der gesummten Handelswelt in Deutschland mit
größter Spannung erwartet werde. Am 20. März
sollte der Vertrag fertig sein, jeder Tag Auf
schub würde große Verluste zur Folge haben,
es sei also Pflicht deä Reichstags, den Vertrag
vor Ostern zu Ende zu führen. Die Konserva
tiven hätten allerdings geglaubt, in der Com
mission neue Gründe beigebracht zu haben, dies
sei jedoch keineswegs der Fall. Redner habe dies
bereits erklärt. Durch schriftlichen Bericht wür
den 3—4 Wochen verloren gegangen sein.
Abg. Dr. Bachem (Centr.) macht ebenfalls
darauf aufmerksam, daß der Referent zu einem
schriftlichen Berichte mindestens 14 Tage gebraucht
j haben würde. Die Gegner des Vertrages hätten
iin langer sachlicher Diskussion alle ihre Gründe
'vorgebracht.
Wz. Dr. H a »t m acher (natlib.) meint, die
Gegner könnten ja diesen oder jenen Theil des
Vertrages an die Commission zurückverweisen.
Abg. Frhr. v. M a n t e u f f e l bezweifelt, ob
sie von diesem Rechte Gebrauch machen könnten,
da sie befürchten müßten, gegen die Mehrheit
nichts ausrichten zu können.
Nach einer Erwiderung des Abg. Dr. Häm
in a ch e r tritt das Haus ein in die Berathung
des Art. l (Gleichstellung der Angehörigen eines
fremden Staates mit den Einheimischen in Bezug
auf Handel und Gewerbebetrieb und Zusicherung
der Meistbegünstigung, auch was das Paßwesen
anbetrifft.)
Berichterstatter Dr. Möller referirt über die
Verhandlungen der Commission.
Dr. Hasse (natl.) Schon in der ersten Lesung
habe Dr. Osann Bedenken gegen den Artikel aus
gesprochen. Er theile auch jetzt noch diese Be
denken, die durch die Erklärungen der Regierungs-
vertreter für ihn nicht beseitigt worden seien.
Auch bezüglich Art. 22 des Schlußprotokolls hege
erim Hinblick auf die russischen Juden Besorg
nisse. Die Bestimmungen seien hier nicht klar
und es bedürfe der Aufklärung wegen der Juden,
die nicht_ Reichsangehörige seien. ' Die Einwan
derung sei früher eine sehr starke gewesen, dieser
Uebelstand müsse gehoben werden. Es handle
sich vorzüglich um die russischen Arbeiter, denn es
habe sich herausgestellt, daß ihr Eindringen nicht
etwa die Folge, sondern die Ursache der Sachsen
gängerei sei. Das halte aber seine Partei nicht
ab, für den Artikel 1 zu stimmen. Vielleicht gebe
jetzt schon die Regierung eine Erklärung über die
Staffeltarife ab.
Reichskanzler Graf Caprivi: In Bezug
auf die Staffeltarife könne er erklären, daß die
verbündeten Regierungen mit den Ausführungen
des Staatssekretärs in der Kommission überein
stimmten. Was den Termin der Aufhebung be
treffe, so seien die Erwägungen zwar noch nicht
ganz abgeschloßen, aber wirthschastliche Bedenken
gegen den 1. August als Aushebungstermin
schienen nicht vorzuliegen. Es sei die Frage, ob
inan dauernd die Aushebung fixiren solle. Die
preußische Regierung könne sich nicht formell bin
den, die aufgetretenen^ Zweifel würden sich aber
dadurch erledigen, daß die wesentlichen Motive
der preußischen Regierung für die Aufhebung der
Staffeltarife im Zusammenhange mit bent Han
delsverträge und der Aufhebung des Jdentitäts-
iiachweises ständen. Da sei doch die Schluß
folgerung der Staffeltarife für Cerealien während
der Dauer der Handelsverträge wieder einzu
führen. Immerhin habe der Staatssekretär mit
vollem Recht erklärt, daß eine bindende Ver
pflichtung^ in dieser Hinsicht nicht übernommen
werden könne. Es könnte ja nothwendig wer
den, im Interesse nothleidcnder Laudestheile die
Staffeltarife wieder einzuführen. Argwöhnische
Gemüther hätten daraus geschloffen, die Staffel
tarife würden nicht auigehoben, um dem Handels
vertrag zur Annahme zu helfen. Dies liege nicht
in der Meinung der preußischen Regierung; sie
wolle völlig loyal vorgehen Ob die Fracht auf
Mühlenfabrikate günstiger gestellt werden könne,
müsse die .Erfahrung lehren Man sage mit
Recht, mit der Aufhebung des Identitätsnach
weises mache man einen Sprung ins Dunkle.
Deshalb müsse man aber, um Consequenzen dar
aus ziehen zu können, auch warten, bis es etwas
heller geworden sei. Erst dann könne man der
Aufhebung der Staffeltarife nähertreten. Die
er damals mit der Geliebten ausgetauscht, nur
ein schöner Traum gewesen sei? Obwohl er
nun mit ihr allein im Geschäfte war und ihr
im Laden helfend zur Seite, wich sie doch jedem
vertraulichen Gespräche aus, auch hatte sie
für ihn nicht mehr das berauschende Lächeln,
welches ihn einst beglückte und ermuthigte.
Er wußte sich nicht zu erklären, was in ihr
vorging. Das einzige Hinderniß, welches
zwischen den Liebenden gestanden hatte, war
behoben, die strenge Mutter mit dem unbeug
samen Willen ruhcte draußen auf dem Kirch
hofe, und nun schien sich plötzlich Flora's
Sinn gewendet zu haben, als verschmähe sic
ein Glück, welches nicht mehr durch heiße
Kämpfe errungen zu werden brauchte.
Rudolf beobachtete, daß jeden Tag cmc
frische Rose Flora's Busen schmückte. Brach
sic die schönsten Rosen des Gartens mit eigner
Hand? Bei Lebzeiten der Mutter gehörte dies
zu den verbotenen Dingen; setzte sich Flora
min darüber hinweg? Nein das glaubte
Rudolf nicht, aber er paßte am thaufrischcn
Jiorgen dem Rosendiebe auf. Dem Diebe?
, cs war kein Dieb, denn die Hand,
welche die Rosen brach, war in ihrem Rechte,
sie nahm, was ihr gehörte — der tägliche
Rosenspmder war Rudolfs Vater.
Der junge Mann begann den Sinn dieser
Blmumsprache zwischen seiner erkaltete» Ge
liebten und dem Wittwer zu ahnen Oft
fand er Beide in angelegentlichem Zwiegespräch,
welches sie dann stets^ abbrachen; aber nicht
lange scheuten diese Heimlichkeiten das Licht
des Tages.
„Höre Rudolf," sagte eines Morgens der
Vater, als ihn der Sohn wieder beim Ab
schneiden einer Rose im Garten betraf, „das
Vermögen der Mutter gehört uns zu zwei
Frage der Aufhebung sei übrigens von der in
Preußen entscheidendsten Stolle ausgegangen.
Staatssekretär v. Marsch all: Die deutsche
Regierung behalte vollkommen freie Hand, aus
Rußland über die Grenze kommende Individuen
abzuschieben, oder zurückzusenden. Verschieden da
von sei es, wie solche Leute zu behandeln seien,
die die russische Staatsangehörigkeit verloren und
eine neue nicht erworben hätten. Artikel 22 ent
halte Vorschriften darüber, daß Rußland ver
pflichtet sei, solche wieder aufzunehmen, wozu es
bisher nicht gezwungen gewesen sei.
Abg. Lotze (D. R.-P.): In Artikel 1 sei die
nationale Gefahr der Einwanderung der russischen
Juden unterschätzt. Der Abg. Rickert werde wohl
noch darauf eingehen. Redners Partei müsse den
Artikel 1 ablehnen. Mit dem Vertrag lenke man
wieder in freihändlerische Bahnen ein.
Abg. Rickert (frets. Ver.): Die Erklärung
des Reichskanzlers über die Staffeltarife habe er
dahin aufgefaßt, daß eine generelle Reform der
Eisenbahntarife nicht ausgeschlossen sei. Eine
Rede über die Judenfrage habe er in der Kom
mission nicht versprochen und auch im Reichstage
werde er sich der Enthaltsamkeit in diesem Punkte
befleißigen, damit der Vertrag recht bald erledigt
werde und in Kraft treten könne. Nationale Ge
fahren erblicke er in Artikel 1 nicht. Derartige
Bestimmungen würden in alle Verträge ausge
nommen und es würde seltsam ausgesehen haben,
wenn sie in diesem weggeblieben wären.
Abg. v Liebe rm an n (Antis.) besteigt mit einem
großen Stoß von Papieren die Tribüne, was
vom Hause mit allgemeiner Heiterkeit begrüßt
wird. Er erklärt sich von je als Gegner der
Handelsvertragspolitik. Mit Artikel 1 stehe und
falle der Vertrag. (Redner führt dies in sehr
breiter Weise aus, der Vizepräsident o. Buol
ermahnt ihn, sich an die Sache zu halten. Abg
v. Liebermann droht dann, bei jedem ein
zelnen Artikel das Wort zu ergreifen.) Bei
diesem Vertrage liege der Vortheil auf Seiten
Rußlands. (Ruf: Zur Sache!) Es sei bekannt,
daß es keinen schlechteren Markt gebe als den
russischen. (Ruf: Das ist Genei aldiskussion!)
Der Art. 1 bringt die Gefahr der Ueberschwem-
mung Deutschlands mit russischen Juden mit
sich. Die deutschen Unterhändler haben die Noth
lage Rußlands nicht genügend ausgenutzt. Man
hat auch mchts dazu gethan, urn für unsere
deutschen Stammesgenossen in den russischen
Ostseeprovinzen einzutreten. Wir hätten auf
diesem politischen Gebiete manches erreichen kön
nen in einem Zeitpunkt, wo Rußland uns wrrth-
schaftlich bedrohte. Ein kalter Wasserstrahl müßte
einmal gegenüber den Kriegsdrohungen der
russischen Presse nach Rußland geschickt werden.
Wozu haben Sie denn sonst die „Nordd. Allg.
Ztg." (Heiterkeit.) Dann hätten die russischen
Zeitungen nicht die Unverschämtheit, uns mit
Krieg zu drohen, wenn wir den Vertrag ab
lehnen. Anstatt dieser Kosakenfurcht entgegenzu
treten, stimmten die liberalen Zeitungen in die
Heulmeierei ein. (Zustimmung rechts.) Fürst
Bismarck hat neulich dementirt, daß er de» Krieg
uit Fall der Ablehnung des Vertrages in Aus
sicht stellte. (Bravo! rechts.) Wenn die Russen
eilt“» Krieg wollen, mögen sie nur kommen.
(Lebhafte Zustimmung rechts, Lachen links.) Herr
Richter unterbricht mich immer. (Abg. Richter:
Das ist gar nicht wahr, ich habe einen Brief
geschrieben. Sie wollen sich durch Berufung auf
gleichen Hälften und jeder hat genug, um da
von ohne Sorgen leben zu können. Von
Dir weiß ich, daß Du nicht aufs Geld er
picht bist. 'Oder sollte ich unch irren? Wäre
es Dir etwa darum zu thun, auch dereinst
meinen Antheil uugeschwächt zu erben?"
„Nein, Vater," entgcgncte Rudolf ahnungs
voll, „so weitgehend und selbstsüchtig sind
meine Berechnungen nicht. Du kannst mit
Deinem Vermögen machen, was Du willst."
„Ich war von meinem braven Sohne im
Boraus überzeugt, daß er so sprechen würde,"
nickte Bredow freundlich. „Sieh', Rudolf, ich
bin noch lange kein alter Mann, meine 45
Jahre drücken mich nicht, und ich sehe nicht
ein, warum ich mein Leben nicht noch genießen
sollte. Habe ohnehin bis jetzt verdammt wenig
davon gehabt. Ich habe mich daher entschlossen,
wieder zu heirathen."
„Ich dachte mir cs bereits," entgcguctc
Rudolf, sich zusammennehmend.
„Nun, dann wirst Du auch wohl wissen,
auf wen ich mein Augenmerk gerichtet habe,"
fuhr der Vater fort. „Zu einem gewöhnlichen
Ladenmädchen würde ich mich nicht herabge
lassen haben. Flora aber stammt aus einer
besseren Familie, hat eine feine Bildung —
kurz mit ihr kann sich ein jeder Mann sehen
lassen. Hättest Du etwas gegen ihre Heirath?"
„Nein, dazu achte ich Deine Willens
freiheit zu sehr," versetzte Rudolf.
„Ich hoffe, Du wirst Dich mit Deiner
künftigen Stiefmutter gut vertragen," sagte
Bredow.
„Es fragt sich sehr, ob ich dieses neue
Glück überhaupt genießen werde, Vater."
Wie meinst Du das?
Ich habe noch wenig von der Welt gc-
chcn; es zieht mich hinaus, fort über Länder!
und Meere. Nun, da die Mutter todt ist,
hält mich ja hier nichts zurück."
„Und die Hcirath mit Deiner Cousine,
welche dic Mutter so gern gesehen hätte?"
„Ich werde niemals heirathen," versicherte
Rudolf mit bitterem Lächeln.
„Und ich bin natürlich weit entfernt, Dir
irgend welche Vorschriften machen zu wollen,"
sagte der Vater, „Nur das Geschäft macht
mu: Sorge. Ich habe mich schon lange
nicht mehr darum bekümmert, und es allein
fortzuführen, dazu verspüre ich keine sonder
liche Lust."
„Vielleicht fände sich ein Käufer dafür,"
meinte Rudolf. Der Vater nickte. „Wir
wollen es in die Zeitung setzen lassen. So
lange aber diese Sache nicht geregelt ist,
darf ich wohl auf Dich rechnen, Rudolf, daß
Du das Geschäft nicht im Stiche läßt. Es
ist Dein eigener Vortheil, denn Du bist
daran bcthciligt, so gut >vic ich. Besorge
also das Zeituugsinserat. Auch müssen wir
immerhin auf einen Ersatz für Flora bedacht
sein, und das so bald wie möglich, denn
in vier Wochen will ich mit ihr Hochzeit
halten."
„Wie? So bald schon nach der Mutter
Lode?" frug Rudolf betroffen. „Ich glaubte,
Du würdest wenigstens das übliche Trauer
jahr erst vorübergehen lassen."
„Das ist doch nur eine leere Ceremonie,"
entgegnete der Vater in herbem Tone. „Ich
habe dic Tyrannei der Mutter, dic Gott
clig haben möge, lauge genug getragen, als
daß ich diesem strengen Regiment auch noch
ein langes Andenken widmen möchte. Zu
dem erregt cs Anstoß, wenn Brautleute zu
sammen unter dem gleichen Dache wohnen.
Soll ich mich erst noch einmal von meiner
Braut trennen? Nein, das ist mir zu
umständlich, da mache ich lieber kurzen Prozeß
und feiere so bald wie möglich Hochzeit . .
An demselben Tage benutzte Rudolf einen
freien Augenblick, wo keine Käufer im Laden
waren, zu Flora zu sagen: „Mein Pater
hat mir heute seinen Entschluß mitgetheilt,
sich wieder zu verhcirathen. Erlauben Sie
mir daher, Ihnen Glück zu wünschen."
Nicht so leicht verrieth sich eine innere
Bewegung in Flora's Gesicht. 'Bei diesen
Worten aber ergoß sich über dasselbe eine
dunkle Nöthe.
„Ich danke Ihnen," antwortete sie, „wenn
auch Ihr Glückwunsch mehr wie ein bitterer
Vorwurf klang. Aber sollte das gehässige
Geflüster der Leute nie zu Ihren Ohren ge
drungen sein? Wissen Sie nicht, was man
über Sie und mich spricht?"
„Ich habe von einigen meiner näheren
Bekannten Anspielungen zu hören bekommen,
daß ich mein Herz an Sic verloren hätte,
Flora,^ erwiderte der junge Mann. „Etwas
Gehässiges habe ich darin nicht gefunden."
„Es giebt aber Leute, welche dic Sache
nicht von dieser Seite allein betrachten,"
sagte Flora. „Man weiß, daß Ihre Mutter
duffe Verbindung nicht geduldet haben würde,
und nun heißt cs, cs hätte uns nichts will-
kommener sein können, als ihr plötzlicher Tod.
Wenigstens behauptet man das von mir."
„Und diesem Vvrürtheile der Welt haben
Sie mich zum Opfer gebracht?" frug Rudolf
trübe.
.Ich thue, was ich uns Beiden schuldig
bin," entgcgncte Flora schmerzlich. „Ich
suche dic bösen Zungen zum Schweigen zu
bringen, indem ich die Werbung des Vaters