Full text: Newspaper volume (1894, Bd. 1)

Wo. 50. 
Mittwoch, den 28. Jebrucrr 
1894. 
Morgen-Depeschen. 
Berlin, 27. Febr. Die Kaiserin hat 
dem Vorstand des Vaterländischen Frauen- 
Vereins in Kiel 500 Mk. als Beitrag zu 
der Sammlung für die Hinterbliebenen der 
auf der „Brandenburg" Verunglückten über 
wiesen. 
Berlin, 27. Febr. Die „Nordd. Allg. 
Ztg." bezeichnet die gestrige Meldung der 
„Voss. Ztg-", wonach sich der Finanz- 
Minister Miguel in einem Privatgespräch 
gegen die Handelsvertragspolitik ausge 
sprochen haben sollte, als unwahr und fügt 
hinzu, daß alle preußischen Minister von 
der Nothwendigkeit der Annahme des deutsch 
russischen Handelsvertrages überzeugt seien 
und jederzeit dementsprechend gehandelt 
hätten. Auch die Meldung der „Voss Ztg." 
über die Haltung des Finanzministers 
Miguel zu der Frage über die Aufhebung 
der Staffeltarife sei unzutreffend. 
Berlin, 27. Febr. Die „Wirthschastliche 
Vereinigung" des Reichstages trat heute 
Vormittag unter dem Vorsitze des Abg. 
v. Plötz zusammen. Auf der Tagesordnung 
stand der Gesetzentwurf des Grafen Kanitz, 
betr. die Besteuerung der Margarine. Nach 
längerer Debatte wurde der Entwurf einer 
Kommission überwiesen. 
Prag, 27. Febr. An der czechischen 
Universität kamen zwischendenjungczechischen 
nnd altczechischen Studenten heftige Streitig 
keiten vor; die ersteren beschimpften den 
Vorsitzenden des altczechischen Studenten- 
Vereins Mastny und wollten thätlich gegen 
denselben vorgehen, so daß der Angegriffene 
flüchten mußte. Der akademische Senat 
beschloß, strenge Maßregeln gegen die Ur 
heber dieser Demonstration vorzunehmen. 
Brüssel, 27. Febr. Wie „Le Soir" 
meldet, sollen mehrere Arbeiter in dem 
Tunnel zwischen Welkenraedt und Dolhain 
fünf Dynamitpatronen gefunden haben, an 
denen die Zündschnur fehlte. Man nimmt 
an, daß diese von Anarchisten auf das 
Bahngeleise gelegt wurden, die aus Deutsch 
land kamen und befürchteten in Verviers 
durch den Zollamtsvorsteher verhaftet zu 
werden. 
Belgrad, 27. Febr. In eingeweihten 
Kreisen verlautet, daß Exkönig Milan zum 
Generalinspektor der serbischen Armee dem 
nächst ernannt werden soll, um ihm eine 
offizielle Stellung zu geben und ihm Schutz 
gegen die Angriffe der Radikalen zu ver 
schaffen. 
Deutscher Reichstag. 
58. Sitzung. 
Berlin, 27. Febr. 
Das Haus ist nur mäßig besetzt. Die erste 
Berathung des deutsch-russischen Handels 
vertrages wird fortgesetzt. Verbunden wird 
damit die Berathung über den Antrag v. Kar- 
dorfs auf Einführung einer gleitenden Zollskala 
für Roggen, Weizen und Mehl. 
Abg. v. Kardorff (Reichsp.): Der Abg. von 
Mirbach habe gestern ausgeführt, daß alle von 
Rußland gemachten Conzessionen durch die unter- 
werthige Valuta illusorisch würden. Der Antrag 
des Redners helfe den nachtheiligen Folgen ab, 
die bei der schwankenden Valuta für Deutschland 
entstehen könnten und bezwecke, den Abschluß von 
Handelsverträgen, gleichviel mit welchen Staaten. 
Der Antrag würde auch der ungesunden Speku 
lation an der Börse einen Riegel vorschieben. 
Wenn er nicht alle wirthschaftlichen Produkte um 
fasse, so sei der Grund der, daß der Redner den 
Zollbehörden keine allzugroßen Schwierigkeiten 
habe bereiten wollen. Oesterreich, das ja auch 
ein Goldagio habe, würde dieser Maßregel sicher 
zustimmen, weil es dadurch doch Rußland gegen 
über einen Vorzug genösse, da seine Valuta nicht 
so tief unterwerthig sei, wie der russische. Der 
Widerstand der kleineren Vertragsstaaten würde 
sich wohl beseitigen lassen. Der Antrag richte 
sich übrigens nicht so sehr gegen Rußland, wie 
gegen Indien und Argentinien, die für ihre Ein 
fuhr nach Deutschland in der unterwerthigen 
Valuta eine Exportprämie besäßen. Die Argu- 
nientation, daß das russische Getreide auf jeden 
Fall doch auf den Weltmarkt kommen würde, 
wenn Deutschland es ausschlösse, könne er nicht 
für richtig halten. Das sei das Argument, mit 
dem die Freihändler jeden Zoll bekämpfen. 
Roggen sei nicht so sehr Weltmarltartikel. Deutsch 
land sei aber Hauptabnehmer des russischen 
Roggens, und darum sei es für Rußland so 
außerordentlich unbequem, die deusche Grenze 
gesperrt zu sehen. Die Deduction, daß der 
Roggenkonsum immer mehr dem Verbrauch von 
Weizen weiche, sei sehr gefährlich; denn würde 
dies Thatsache, so würden die östlichen Provinzen, 
die nur Roggenboden besäßen, zur Einöde ver 
urteilt werden und Kiefern zu pflanzen. (Sehr 
richtig! rechts.) Mit der Bevölkerung der öst 
lichen Provinzen habe Friedrich der Große der 
ganzen Welt widerstanden. Ueber diese Be 
völkerung zur Tagesordnung übergehen, das 
hieße, über daS deutsche Reich zur Tagesordnung 
übergehen. (Zustimmung.) Redner wisse, daß es 
Leute gebe, die letzteres gern thäten, er gehöre 
aber nicht dazu. Den Todesstoß erhalte ja die 
deutsche Landwirthschaft durch diesen Vertrag 
nicht, den häßlichsten Stoß habe das Reich durch 
den österreichischen Vertrag erhalten. Der Abg. 
Rickert habe gesagt, wenn Fürst Bismarck den 
Antrag vorgelegt hätte, so würde er im Reichs 
tag allgemein Zustimmung gefunden haben. Aber 
der Fürst würde niemals euren Vertrag unter 
zeichnet haben, der die Bindung der landwirth- 
schaftlichen Zölle enthielte (Beifall), wenn er es 
aber gethan hätte, so würden Redner und seine 
Freunde, die das warnie wohlwollende Herz des 
Fürsten für die Landwirthschaft kennten, das 
Vertrauen zu ihm gehabt haben, daß er es ver 
standen haben würde, Conipensationen für die 
Landwirthschaft zu erzielen. (Beifall.) Das Ver 
trauen könne man zur gegenwärtigen Regierung 
nicht haben. Die Landwirthschaft habe die Er 
fahrung gemacht, daß von einem Wohlwollen für 
sie bis jetzt noch nicht die Rede gewesen sei. Eine 
Compensation würde sie in einer Aenderung der 
Währungsverhältnisse gefunden haben, wenn die 
Regierung sich entschlossen hätte, die Initiative 
zur Einführung der internationalen Doppel 
währung zu ergreifen. Eine Enquete sei ja zu 
sammenberufen, aber in die Commission habe 
man mehr als die Hälite solcher Leute berufen, 
die eine Rehabilitirung des Silbers als Unsinn 
betrachteten. Das habe wohl auch den Grasen 
Mirbach veranlaßt, aus der Commission auszu 
treten. Redner sei in der Commission geblieben, 
um zu zeigen, daß er in allen Punkten Rede und 
Antwort stehen könne. (Beifall rechts.) Die 
agrarische Bewegung bestehe nicht nur in Deutsch 
land, sondern in der ganzen Welt. In Frank 
reich wolle man den Getreidebau schützen. Die 
Regierung wisse sehr wohl, daß die militärische 
Stärke Frankreichs mit dem schwindenden Ge 
treidebau auch schwinden würde, deshalb habe sie 
den Getreidezoll auf 7 Mk. erhöht. Das sei die 
richtige Ansicht. Redner würde es für die größte 
Gefahr für den Bestand des deutschen Reiches 
halten, wenn durch Herabsetzung der Getreide 
zölle die Concurrenzfähigkeit' der Industrie er 
halten bleiben solle. Das sei, was er zu seinem 
Antrag zu sagen habe. Er könne nur bitten, den 
Vertrag abzulehnen, denn wenn das Haus ihn 
annehme, so nehme es eine größere Verantwort 
lichkeit auf sich, als wenn es ihn ablehne. (Bei 
fall rechts.) 
Reichskanzler Graf Capri vi: Auf den 
Antrag des Abg. von Kardorff weide »er nicht 
eingehen, sondern sich an den Vertrag selbst 
und die gestrtgen Verhandlungen halten. Der 
vorliegende Vertrag sei bestimmt, eine Brücke 
für den Verkehr zwischen zwei benachbarten 
großen Nationen zu bilden. Er sei in dieser 
Beziehung von außergewöhnlicher Tragiveitc, 
von Sachverständigen aller Art geprüft, die ge 
funden hätten, daß er gut sei Er trage sich 
selbst, da er auf rein wirthschasllichem Gebiet 
ausgebaut sei, nnd bedürfe deslialb der Stütze 
durch politische Gründe nicht Da aber gestern 
die allgemeitie Politik gestreift worden sei/könne 
er nicht umhin, einige Worte darüber zu sagen, 
Ebenso möchte er auch auf die Insinuationen 
in der Presse eingehen, das; zwischen den Bau 
leuten selbst S-.reit und Uneinigkeit ausgcbrochen 
sei. Man habe sich zunächst mit Redners Pe,son 
beschäftigt und habe den Wunsch ausgesprochen, 
der Bauleiter möchte bei dieser Gelegenheit vom 
Gerüste fallen. (Heiterkeit.) Das werde er aber 
nicht thun. Er habe den Vertrag durchgesetzt. 
Er sei vor 4 Jahren in seine Thätigkeit einge 
treten und werde darin ausharren, so lange es 
dem Kaiser gefalle und seine Kräfte genügten. 
Natürlich würde er nicht im Stande gewesen 
sein die Vcrtragsverhandlnngen durchzuführen 
ohne die ausgezeichnete Unterstützung, die er aus 
vielen Seiten gesunden hade. Das rechne er 
sich zur Ehre an. Niemals würde er aber diese 
Arbe-t unternommen haben, wenn er nicht ron 
der Ueberzeugung beseelt g-nvesen wäre, daß sie 
für die Wirlhichastspoiiîik nothwendig und heil 
sam sei. Auch nach anderer Richtung hin seien 
Insinuationen zu Tage getreten: es seien Streitig 
keiten nnd Spaltungen im preußischen Staais- 
mintsicrinm, Spaltungen im Reich, Spaltungen 
zwischen Reich und Preußen vorhanden. Bon 
Allem sei nichts wahr. Das preußische Staats 
Ministerium habe diesem Handelsvertrag ein 
stimmig zugestimmt, und wenn in früheren 
Stadien etwa verschiedene Meinungen geäußert 
worden seien, so sei dies ein Beweis dafür, wie 
ernst es das preußische Staatsministerium mit 
seiner Pflicht, nach jeder Richtung hin über den 
Vertrag klar zu werden, gciiomm-m habe, nicht 
aber dafür, daß Meinungsverschiedenheiten bc 
standen batten, deren vollständiger Ausgleich 
nicht erfolgt sei. Das preußische Staatsmini 
sterium, so erkläre er, stehe Mann für Mann 
hinter dem Vertrage und ebenso sei cs mit dem 
Bundcsrath, in dem der Vertrag einstimmig 
angenommen worden sei. Alle Insinuationen, 
die man ausgestellt habe, seien also hinfällig. 
Er wolle jetzt Herrn von Kardorff auf sein 
Spezialgebiet folgen und ihm bemcrklich machen, 
daß das, was dieser über Streitigkeiten oder 
Meinungsverschiedenheiten zwischen Preußen und 
dem Reich in Bezug auf die Währungscommis- 
fion gesagt habe, jeder Begründung entbehre. 
Herr von Kardorff sei falsch unterrichtet, wenn 
er glaube, das preußische Staatsministerium 
habe den Zusammentritt der Währungs-Enquete- 
Commission veranlaßt Dies sei vom Redner 
direct veranlaßt worden und die Commission 
verfolge keinerlei andere Ziele, als die vom 
Slaatsministcrium dargelegten. Der vorliegende 
Bertrag habe bei den competcntesten Bcurtheilcrn 
des Jii- und Auslandes Zustimmung gesunden 
und auch hier habe mau den Versuch gemacht, 
dlc ein - oder andere irrige Meinung zu ver 
breiten. Redner wolle deshalb aussprcchen, daß 
die leitenden Staatsmänner Oesterreich-Ungarns 
und Italiens ihm ihre Freude über das Zu 
standekommen dieses Vertrages ausgesprochen 
hä ten. (Hört, hört.) Es sei also nichts mit 
den Schwierigkeiten, die man in die Sache hin 
einlegen wolle. Wie stehe aber der Bertrag zu 
der auswärtigen Politik des Reiches? Und wie 
stehe diese Politik mit der Wirthschoftspolitik im 
Zusammenhang? Er halte es für richtig, die 
Frage zu stellen, welches die Ziele der Politik 
Deutschlands seien und wie weit der Handels 
vertrag diesen entspreche? Die Ziele der deutschen 
Politik seien seit Jahrzehnten die Erhaltung 
des Friedens, die Wahrung deutschen Ansehens, 
deutscher Ehre und Würde) Bei dem Handels 
vertrag mit Oesterreich sei schon ausgesprochen 
worden, er werde im Interesse des Friedens 
geschlossen. Der Dreibund sei erneuert worden 
um ins Friedens will-.n. Bei der Arme«vorläge 
ist wieder betont worden, daß sie in erster Linie 
bestimmt sei, den Frieden zu erhalten. Man 
werde nicht dehauprcn wollen, daß der russische 
Handelsvertrag nicht das gleiche Ziel verfolge. 
Der Vertrag fei nur die Consequenz früherer 
Vertiäge. Ihn nicht zu schließen, liege um so 
weniger Grund vor, als er die Landwirtbschaft 
nicht schädige. Dem Ansehen Deutschlands 
werde genützt, wenn dieser Vertrag zur An 
nahme gelange. Würde er abgelehnt, so sei die 
Folge eine Fortsetzung des Zollkrieges, was doch 
wobt die Gegner dcS Vertrages nicht mit 
leichtem Herzen aus sich nehmen würden. Rainent- 
lich würden die Ostprovinzen schwer geschädigt 
werden, der Schmuggel würde wieder aufleben 
und Grcnzstreitigkcitcn würden sich ihm an 
schließen. W r könne übersehen, wohin das 
führen würde? Der Handel würde durch eine 
hohe chinesische Mauer beschränkt werden. So 
günstige Umstände, wie augenblicklich vorlägen, 
kehrten nicht wieder. Wenn die von Rußland 
ausgestreckte Hand jetzt zurückgewiesen werde, 
nehme der Panslavismus zu und die Ablehnung 
würde eine wirthschastliche Verstärkung Ruß 
lands zur Folge haben. Ueber alle diese Fragen 
werde am besten in der Commission berathen 
werden. 
Abg. Dr. König-Witten iAntis.) wendet sich 
scharf gegen den Vertrag und polemisirt gegen 
Rickert. Fürst Bismarck würde, meint er, die 
Verträge richt eingebracht haben. Er ist gegen 
den Vertrag, weil derselbe den Bauernstand 
schädigen würde, der das Rückgrat des Staates 
sei. Nicht der Bund der Landwirthe, sondern 
die Handelsverträge säen Zwietracht zwischen 
Handel und Industrie. Die Gegner des Ver 
trages folgen nicht einem imperativen Mandate, 
sondern ihrer Ueberzeugung. Die Regierung 
sollte doch die symptomatische Bedeutung der 
Kundgebungen des Bundes der Landwirthe 
nicht unterschätzen. Im übrige» bringt der 
Redner die bekannten Darstellungen gegen die 
Juden vor. 
Die Sozialdemokratie sei natürlich für den 
Vertrag. Denn wenn es der Landwirthschaft 
schlecht gehe, dann blühe ihr Weizen. Aus 
einigen Tarifsätzen will Redner ersehen, daß 
den Vortheil nicht sowohl die Industrie, sondern 
vielmehr der spekulative Handel haben werde. 
Ausland. 
Norwegen. 
Hammcrsest, 26. Febr. In der vergan- 
genenWoche haben orkanartige Stürme 
geherrscht, wodurch großer Schaden ange 
richtet wurde. Mehrere Menschen sind ums 
Leben gekommen. Die Wallfischfänger- 
Station bei Troldfjord ist vom Sturme 
ganz fortgerissen worden. 
England. 
London, 27. Febr. Eine Feuersbrunst 
zerstörte die an der Rotherhithe-Street ge 
legenen mächtigen Getreidespeicher der 
Firma Bellamy & Co. Der Schaden be 
trägt über eine Million Mark. 
London, 27. Febr. Heute früh waren 
auf's Neue Gerüchte von der angeblich 
unmittelbar bevorstehenoen Demission 
des Premierministers Gladstone 
verbreitet, als deren Grund die Schwäche 
des Sehvermögens Gladstone's angegeben 
wurde. Durch diese Schwäche werde 
Gladstone absolute Ruhe auferlegt. 
Serbien. 
Belgrad, 26. Febr. Eine ganze Serie 
radikaler Koryphäen ist mit hohen russischen 
Orden bldacht, darunter der frühere Mi 
nister des Aeußeren, Andra Nikolitsch, mit 
dem Großkreuze des Annen-Ordens. 
Hus dim Mm puîps Spiclns. 
14) Erzählung von Otto Trendies. 
Fränzchcn machte eine freudige Bewegung. 
Die Mutter griff nach der Hand des Kindes 
und versuchte sich zu erheben, aber die Kräfte 
verließen sic und sie fiel in die Kissen zurück. 
Dann faßte sie hastig nach ihrem Herzen, 
ein dumpfer Seufzer, ein letzter tiefer Athem 
zug und — sie war todt. — Werner blieb 
stumm und regungslos, als ob nichts geschehen 
märe, und doch schien er zu weinen. Aber 
es waren keine lindernden Thränen, die seinen 
brennenden Augen entfielen, es waren einzelne, 
kalte Tropfen, wie sic aus einer versiegenden 
Quelle träufeln. Dann griff er in die Tasche, 
holte einige Geldmünzcn hervor und ließ sie 
spielend durch die Finger gleiten, indem er 
sie auS der einen Hand in die andere schüttete. 
Fränzchcn wußte nicht, daß sie neben ihrer 
todten Mutter saß. Sie glaubte sic leidend, 
darum beugte sie sich über sie, streichelte ihre 
Wangen und sagte: „Meine liebe, gute 
Mutter, warte nur noch ein Weilchen, unser 
gute Doctor kommt gleich, der wird Dir ge 
wiß helfen." Dann strich sie mit ihrer Hand 
liebkosend über die geschlossenen Augen der 
Todten und schmiegte ihr Köpfchen an deren 
Brust. Frau Schmidt, welche in banger Er 
wartung immer noch nach dem Doctor zum 
Fenster hinaus blickte, hatte von dem traurigen 
Vorgang, der sich in wenigen Minuten voll 
zogen hatte, keine Ahnung. 
Endlich fuhr der Wagen vor, der Doctor 
stieg aus und schnell eilte sie ihm entgegen. 
^ „Nehmen Sie es ja nicht übel," begann 
Frau Schmidt. „Keine unnütze Entschuldi 
gung," unterbrach sie der Doctor, „Ihr 
Mann hat es ja sehr dringend gemacht." 
Als der Arzt eintrat, sah Werner ängst 
lich auf den ihm fremden Mann und unter 
brach sein Spiel mit dem Gelde, indem er 
es hastig verbarg. 
Der Doctor war an das Bett getreten. 
Ein Blick aus die regungslos Daliegende 
sagte ihm sofort was geschehen war. . Er 
faßte ihre Hand, nach einigen Augenblicken 
erklärte er bewegt: „Ich komme zu spät, 
die arme Frail ist todt." „Todt!?" rief 
Frau Schmidt voll Schreck. Sic war so 
erschüttert, daß sie sich, um nicht umzusinken, 
an ihrem Mann festhalten mußte, welcher 
mit dem Doctor eingetreten war. „Und 
wäre sie nicht zu retten gewesen? fragte sie 
weinend den Arzt. 
„Vielleicht," erwiderte dieser, „doch möchte 
ich es bezweifeln. Ein Herzschlag hat ihrem 
ohnehin schwachen Leben ein plötzliches Ende 
gemacht." 
Fränzchcn hatte verstanden, was der gute 
Doctor sagte. Sie faltete ihre Händchen 
und richtete einen Blick ans ihre Mutter, so 
traurig und sehnsuchtsvoll, dann schloß sie 
die Augen und ließ den Kopf ans die Brust 
sinken. 
Was in dem Kinde vorging, wußte Nie 
mand, denn cs sagte nichts mehr und weinte 
auch nicht mehr. 
Nun wandte sich der Doctor an Werner, 
der noch imitier stumm und still auf dem 
Bettende saß. 
„Sie sind der Mann?" fragte er ihn. 
Werner stand auf, er strich sich mit der 
Hand über die Augen; dann stammelte er 
fast unverständlich und wie sich besinnend: 
„Ja, ja ich bin der Mann, ja der Mann," 
und seine wirren Blicke hefteten sich an die 
Todte. 
Der Doctor trat ihm aufmerksam näher, 
legte seine Hand auf dessen Schulter und 
sagte ernst vorwurfsvoll: „Begreifen Sie, 
daß Sjc die Schuld an diesem Unglück tragen?" 
„Die Schuld," wiederholte Werner und 
ein wehmüthiges Lächeln umspielte seinen 
Mund. „Ja, ja, ich die Schuld, ich allein," 
fuhr er leise fort, dabei nahm er das Geld 
wieder hervor und setzte sich, damit spielend, 
zu Füßen seiner todten Frau. 
Dem kundigen Arzt blieb kein Zweifel 
übrig, er wußte, wen er vor sich hatte, einen 
Wahnsinnigen. 
Frau Schmidt, welcher das Betragen 
Werner's höchst sonderbar erschien, fragte 
besorgt den Doctor, was mit dem Mann 
sei. Dieser erwiderte, um sie nicht zu ängstigen, 
daß das traurige Ereigniß ihn sehr erschüttert 
habe, daß cs Nervcnabspannung sei, die ihn 
so theilnahmlos mache, daß aber wohl nichts 
Schlimmes 31t befürchten wäre. Sollte sich 
sein Zustand indessen nicht bessern, so würde 
er für seine Unterbringung im Krankenhause 
sorgen. 
„Haben die Leute denn keine Verwandten, 
Niemand, der sich in ihrer traurigen Lage 
um sie kümmert?" fragte er nach einigem 
Nachdenken. 
„So viel ich weiß, sichen Sie allein," 
erwiderte Frau Schniidt. 
„Nun, so wird Ihnen wohl nichts übrig 
bleiben, als daß Sic sich der Verlassenen 
annehmen und vor allen Dingen für das 
Begräbniß der Frau sorgen. Natürlich sollen 
Ihnen nicht etwa noch Kosten erwachsen, ich 
werde mich an geeigneter Stelle für die ar 
men Leute verwenden. Vorläufig stelle ich 
Ihnen einen Todtenschcin aus. Geben Sic 
mir bitte Feder und Papier." 
Während Frau Schmidt das Verlangte 
herbeiholte, hatte sich der Doctor an dm 
Tisch gesetzt und einen Blick in dm vor ihm 
liegenden Zettel geworfen; es war der von 
dem Vorsteher ausgestellte Depositenschein. 
„Was ist das?" fragte er erstaunt, indem 
er das Blatt zur Hand nahm. 
Frau Schmidt erzählte nun, was sie wußte. 
Der Doctor hatte gespannt zugehört. 
Dann sagte er tief bewegt: „Welch eine 
Frau war das!" Und nach einer Pause 
fuhr er fort: „Es hat sich hier ein Familien- 
Drama ereignet, welches kein Dichter er 
greifender schildern könnte." 
„Nein, nein, gewiß nicht," seufzte Frau 
Schmidt, „und dazu die Noth." 
„Der ist nun wohl durch die deponirte 
Summe abgeholfen", sagte der Doctor. „Der 
Vorsteher wird sich nicht weigern das Geld 
zurückzugeben. Sollte er es dennoch thun, 
so werde ich mich ins Mittel legen." Er 
hatte den Todtmschein geschrieben, war auf 
gestanden und zu Fränzchcn gegangen. „Wie 
geht cs Dir, mein Kind?" fragte er im 
väterlichen Ton. „Mir geht es gut", ant 
wortete Fränzchcn, „denn noch bin ich bei 
meiner Mutter. Aber sic wird wohl bald 
begraben werden, und dann bin ich allein. 
Ach! Und ich möchte so gern bei meiner 
lieben Mutter bleiben." Dabei blickte sie zum 
Doctor ans, mit Augen, welche in dieser Welt 
nicht mehr zu leben schienen. 
„Unser Familiendrama ist noch nicht zu 
Ende", sagte kopfschüttelnd der Arzt zu Frau 
Schmidt. „Das Kind gefällt mir garnicht. 
Bringen Sie cs sobald, wie möglich, zu Bett. 
Ich weiß noch nicht, woran' ich mit ihn; 
bin und werde morgen wieder kommen." 
Dann trat er noch einmal zu Werner heran. 
Dieser hörte ihn nicht, er schreckte heftig zu 
sammen als der Doctor ihn auf die Schulter 
klopfte und sah ihn ängstlich fragend an. 
„Ich will Ihnen nur „adieu" sagen, Werner" 
dabei reichte er ihm die Hand hin. 
Werner schien das nicht zu verstehen, denn 
er ließ die dargebotene Hand unberührt, stand 
auf nnd wollte sich schlveigcnd entfernen. 
Der Doctor hielt ihn zurück. „Sind sie 
krank?" fragte er theilnahmsvoll. 
„Krank? Nein," erwiderte Werner, „krank 
bin ich nicht." Und sein Gesicht nahm jenen 
schmerzlich lächelnden Ausdruck an, der uns 
durch die Seele schneidet. 
„Mich friert", sagte er zusammenschauernd, 
und ich bin müde." 
„Dann legen Sie sich nieder und ruhen 
Sie, das wird Ihnen gut thun," rieth ihm 
der Doctor. 
Werner schüttelte den Kopf, gehorchte aber 
und ging ohne ein Wort zu sagen in seine 
Schlafkammer. Dort warf er sich auf sein 
Bett und kauerte sich fröstelnd zusammen. 
_ „Sie werden schwere Tage haben, liebe 
Schmidt," begann der Doctor, „aber ihr 
Mann wird Ihnen wohl helfen." 
„So viel mein Dienst mir erlaubt gewiß," 
erwiderte dieser. „Es ist ja Menschenpflicht," 
sagte Frau Schmidt, „und was in meinen 
Kräften steht will ich auch gerne thun." 
„Ich weiß, Sie sind eine verständige, 
resolute Frau. Sollten Sie sich indeß ein 
mal keinen Rath wissen, so kommen Sic ge 
trost zu mir, wenn Sic keinen Bessern finden, 
ich werde Sie nicht im Stiche lassen." 
Dann verabschiedete er sich und ging hinaus. 
An der Treppe blieb er nachdenkend stehen: 
„Da fällt mir ein, den Werner werde ich 
doch wohl an geeigneter Stelle unterbringen 
-K> Kvfcheint täglich, 
»cheublaü. 
vezugs-reis: 
Vierteljährlich 2 frei ins Haus geliefert 
2 Jt 15 Ķ 
für Auswärtige, durch die Post bezogen 
2 Ji 25 
incl. Postpro»isi»n re., jedoch ohne Bestellgeld. 
JnsertiouSpreiS: pro Petitzeile 15 Ķ 
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