Full text: Newspaper volume (1888, Bd. 1)

sîîàķM 
Beilage zum Nendsburger Wochenblatt Nr. 15. 
Dersuch einer beschichte der 
St. Warien-Kirche inHtendsöurg. 
Freitag, den 3. Februar 1888. 
(Fortsetzung.) 
Von dem Kaland zu Kiel sind die Statuten 
aufbewahrt und kennen wir daraus feine Ein- 
nchtung. Dieser „Priester-Kaland" ward zur 
^hre Gottes, seiner Mutter Maria, St. Johannis 
«cs Täufers und aller Heiligen Gottes zur Sclig- 
Nt aller Brüder und Schwestern gestiftet, damit 
Ne unter einander ihrer guten Werke theilhaftig 
werden möchten. Der Kalandsherren oder Priester 
Men 24 sein, doch konnte man deren Zahl auch 
vermehren. Eintrittsgeld 2 Ş 4 ß mtb 4 ß ju 
s Aten. 2 Zusammenkünfte jährlich. Die Priester 
Men dann die Vesper singen und Vigilien halten 
«uv die weltlichen Brüder und Schwestern dabei 
Vgenwärtig sein, ferner sollen die Priester ehrlich 
° Metten und Messen singen helfen und der 
Metzt aufgenommene an dem Altare des Kalands 
m Dienstage eine Seelenmesse singen, wobei der 
^aldachin (Boldyk) des Kalands entfaltet und die 
muandslichter angezündet werden sollten. Der 
ecan soll dann die Hochmcsse singen von Jo- 
yannes dem Täufer, und alle Priester, die zur 
^ruderschaft gehörten, sollen Seelenmessen halten, 
g " die Hochmesse beendigt ist, solle man 
^ommcndarien halten zur Seligkeit der Todten 
»us der Brüderschaft. Unter der Hochmesse sollen 
aus der Brüderschaft 12 arme Leute durch den 
ufter nach dem Kalandshause gesandt werden 
und dort Essen und Trinken empfangen; nach be 
endigter Hochmesse soll der Decan in der Kirche 
" armen Schülern die Füße waschen und küssen 
und unter diese sollen 12 Stücke gekochtes Fleisch 
«ertheilt werden und 12 Brote, darauf der Küster 
" 7 -5> unter die andern armen Schüler und 
»!**?•*& bic "'cht gespeist worden, vertheile», 
sehnlicher Gottesdienst soll bei der andern Ku- 
stunmeukunft gehalten werden. Der Küster soll 
à I tr f' , gieren die Orgel spielen und di- 
."Uten. Ber diesen beiden Hochmesscn solle 
auch die Prozession mit dem heil. Leichnan, ge 
halten werden. Die Gerichte bei der Mablreit 
nachdem die Vigilien beendigt, und am folgenden 
Tage waren vorgeschrieben; dabei wurde gutes 
Kieler Bier getrunken. Die Ucberbleibsel üelen 
den Armen zu. Ueber Tisch ward für die armen 
Schüler gesanimelt. Bei Todesfällen sollen in 
der Brüderschaft alle den Verstorbenen zu Grabe 
leiten, die Priester sollen Seelenmessen lesen und 
die Laien solches lesen lassen. Für verarmte und 
erkrankte Brüder soll bestens gesorgt werden. 
, Der Hamburger Kaland hatte ebenfalls zweimal 
m Jahr Zusammenkünfte. Jeder Laienbruder und 
şis, Sckpvcster hatte täglich 5 Paternoster und 
ii, t.*? Maria für das Seelenheil der Verstorbenen 
LhTo Ş« der Mahlzeit wurden 5 Gerichte 
Wein gereicht. Der Dithmarscher 
vern „herlicke Jnkömstc, Hues-Rath, sül- 
v-rne Becken, Keteln, Disch-Lakens und alles wat 
7° beritt uth allen Orden ricklich dartho ver- 
und ' - ^svselbc hatte ebenfalls 2 Zusammenkünfte 
uv ein eigenes Kalandshaus. Auch aus dem 
chmarscher Kaland wurde nach der Reformation 
l " Konsistorium. 
-ölt Lübeck gab cs 5 Kalande. Hier wird von 
"alandcn berichtet, daß sic 13 Arme bespeisten. 
ö Es hatten in Wagrien noch Kalande Eutin, 
wenburg, Heiligenhafen. Der Heiligenhafener 
bM ° şàb '"it einem Seclenbade in Ber 
ste ü” 9 ' bEV Kirchcngeschichte Schleswig-Hol- 
' -ns von Jensen-Michelscn sind noch eine Menge 
Krankheiten. St. Gertrud ist aber auch Todes 
göttin. Wenn die Seele den Leichnam verläßt 
so verweilt sic die erste Nacht bei St. Gertrud 
die zweite Nacht bei St. Michael (vgl. Michaelis) 
und gelangt erst in der dritten Nacht dahin, wohin 
sie verdient zu kommen. — Als Todcsgöttin ge 
hört die Gertrud zu den verwünschten Personen. 
In Norwegen heißt der rothhaubichte Schwarzspecht 
Gertrudsvogel. Einst wandelte unser Herrgott 
mit St. Petrus auf der Erde und kam zu einer 
Frau Gertrud, die eine rothe Haube trug. 
Hungrig und müde bat der Herr sie um ein Stück 
Kuchen. Sie nahm ein Stück Teig und begann 
zu backen. Der Teig aber wuchs an und füllte 
die ganze Pfanne. Da meinte die Frau, ein 
solcher Kuchen sei doch für einen Bettler zu groß 
und legte ein kleineres Stück in die Pfanne und 
als dieses zu gleicher Größe anwuchs, ein noch 
kleineres. Jedoch auch dieses Stückchen mehrte der 
Herr in gleicher Weise. Nun aber meinte Frau 
Gertrud: „Ihr müßt ohne Almosen gehen, all' 
mein Gebäck wird zu groß für euch." Hierüber 
zürnte der Herr und sprach: „Weil du mir nichts 
gönnst, sollst du zur Strafe ein kleiner Vogel 
werden, dein dürres Futter zwischen Holz und 
Rinde suchen und nicht öfter trinken, als wenn cs 
regnet." Kaum waren diese Worte gesprochen, 
so wandelte sich die Frau in den Gertrudsvogel 
und flog zum Küchenschornstcin hinaus und noch 
heute sieht man sie mit ihrer rothen Haube, ganz 
schwarz am übrigen Leib, weil der Schornstein sie 
schwärzte. Beständig hackt sie nach Futter in die 
Baumrinde und pfeift gegen das Regenwetter, 
denn sic durstet immer und hofft zu trinken. 
(Fortsetzung folgt.) 
10) Z>er lateinische Mauer. 
aus dem Schleswigschcn aufgeführt, es 
Rj'" zur Onentirung über den Nendsburger 
land vorstehende Notizen genügen. Der Grund- 
iU» der Kalande ist der Todtenkultus, wozu 
uch die Mahlzeiten gehören. Am stärksten her- 
aIS H°iligc dabei Maria und Johannes 
er Täufer. Auch dieser Umstand liegt im Heiden- 
Mmc begründet. Der Nendsburger Kaland jedoch 
)Lj besondere Heilige die Getrudes und geben 
v über sie die einschlägigen Notizen, 
di, /^Patronin der Kalandsbrüdcrschast also war 
1? aD^lillv Gertrud, deren Gcdächtnißtag der 
àns/âz. ist und somit in die Zeit des Frühlings- 
Mt. St. Gertrud von Nivelles war die 
tWv Mpins von Landen, gehörte also der 
w mll{ Karls des Großen an. Sie war Schiffs- 
Ņ>r°Nln, wie St. Nicolaus Schiffspatron. Ihre 
mu ward gleich der heidnischen Gottheit getrunken 
Ģ Zwar aus einem Glase oder Becher, das die 
m 7 "lies Schiffes hatte. Ihre Capelle steht 
l>esn„^"" î" ber Nähe des Rheines und wird 
e-New b °" Schiffern besucht. Sie wurde in 
^ib,» 9en umhergezogen, den man noch jetzt in 
ÎCt3t ' Unb ^ at man si* deshalb mit der 
berià. ^ verglichen, von welcher der Römer Tacitus 
»ufļ*. et - Ebenso bezieht man die St. Gertrud 
Mg “ c Göttinnen Nchalcnnia und die suevischc 
gefüT, Welche ebenfalls auf einem Wagen umher- 
îiiien ^.^vurden. Es handelt sich vermuthlich um 
fährt ^chişşêu>agen, welcher Land und Wasier k» 
cc s diesen Wagen bezieht man auch den 
Fleisch s I^eval, indem man nicht von caro vale, 
îêckìsşsk. ebt dwhl, sondern von carrus navalis 
die o,!? a9en (vgl. das Narrenschiff) ableitet. Um 
lieber v ^ Ģertrudàges (17. März) beginnt 
dag e; h ' 1 ' Schifffahrt, dagegen hält zu dieser Keit 
^t-in TJl mf a St. Gertrud holt den kalten 
die d-m Rhein (das Eis?) und bringt 
einer „ ^eszeit. Sie wird abgebildet mit 
Ş Spinnrocken. Die Maus beißt 
läge äb, d. h. es darf vom St. Gertruds- 
«t. Gerivi.v' s.. gesponnen werden. Um 
^Uch der Pflu/" mzum Feld hinaus. 
Seht. «Ä ^lch'V zu dieser Zeit ins Feld 
b-g-n ~ St. Gtttrud schützt 
f fraß, aber auch gegen Pest und andere 
Erzählung von Kicronymus Lorm. 
Nachdruck verboten. Alle Rechte vorbehalten. 
,u Seltsame Vorgänge spielen sich in einein solchen 
Gemüth ab. . Obgleich er den Verkauf unter so 
günstigen ^Bedingungen als eine Rettung aus den 
ärgsten Wirren betrachten mußte und, wenn der 
Handel noch gescheitert wäre, Ursache zur äußersten 
Verzweiflung gehabt hätte, so war ihm doch anderer 
seits das Aufgeben dieses B-sitzthums und der damit 
verbundenen äußeren Ehren ein so großer Schmerz 
heimlich wünschte, der Verkauf würde ihm 
durch ein Unglück auf der Eisenbahn, das den 
Käufer , treffen konnte, noch im letzten Augenblick 
unmöglich gemacht. Der Himmel schien diesen 
frommen Wunsch nicht erhören zu wollen; er be 
gnügte sich, einen starken Regen herabzusenden, und 
rat zum Schutz davor dicht verschlossener Wagen 
näherte sich ans der Straße, die Schluck inr Auge 
„So sind denn die Würfel gefallen!" sagte er 
şich' „und es bleibt nichts übrig, als das Lied der 
Aelpler m Raimunds „Menschenfeind" anzustimmen: 
„So leb denn wohl, du stilles Haus, wir ziehn 
betrübt von dir hinaus." 
Er ging noch . einige Mal im Zimmer hin und 
her, dann trieb ihn die innere Unruhe zu der ge- 
deckten Einfahrt hinab, wo eben der Wagen stille 
hielt. Man öffnete den Schlag, mühsam und 
ächzend wand ,ich eine beleibte Gestalt hervor; — 
Wendelin Schluck war in Gefahr, niederzustürzen, 
er erkannte seinen Reisegefährten Urban Wald 
brenner. 
„Jetzt kommt er, jetzt erst!" konnte sich Schluck 
mcht bezwingen, laut auszurufen, fügte aber in 
Gedanken hinzu, daß es vielleicht noch immer nicht 
zu spat ivar. Er begrüßte den Ankömmling mit 
tonende^ Phrasen und reichte ihm den Arm, um 
ihn die -Lreppe hinauszuführen. Zugleich gab Schluck 
Befehl, wenn Herr Melchior eintreffe, ihn und 
seinen Begleiter zu ersuchen, in der Stube, die er 
dafur bezeichnete, zu warten. In seinein eigenen 
Cabinet machte er eS dem Gast behaglich, ließ Ev- 
srlschungcn auftragen, bot ihn, auch eine gute 
Pfeife und es dauerte nicht lange, so waren stein 
ein tiefes Ge,prach versunken. 
Mittlerweile hatte sich Graf Sigisuiund Oldfrcd 
wieder bei den Frauen melden lassen. Ulrike be- 
stand darauf, daß er empfangen werde. 
„Wir brauchen Erheiterung, Dorchen, und wer 
weiß, ivann >vir wieder dazu koinmen. Er ist lustig 
wahrhaftig, ich wollt', ich hätte Dein Alter, statt 
daß ich blos — das Alter habe. Er wird Augen 
machen, ivenn er uns nicht mehr hier findet, vielleicht 
morgen schon; hab' ich nicht schon im Kloster ge 
sungen: „Rosen auf den Weg gestreut und des 
Hanns vergessen, eine kurze Spanne Zeit" — 
lawohl, wir wollen noch nach Rosen schauen." 
Der Graf trat ein, und Jsidora's Blässe machte 
i)n glauben, daß es nicht ein Vorwand geivesen, 
wenn er Tags früher wegen eines Leidens der 
jungen -Lame nicht vorgelassen worden. Lustigkeit, 
meinte er, sei die beste Erholung; und so bemühte 
er sich, die jüngsten Vorgänge im àeise der Aristo- 
kratie zu erzählen und heiterer Wirkung zu bringen. 
Ulrike wollte ihren Liebling nicht durch das Aus 
bleiben des Erfolges beschämen und sagte ihm daher 
geradezu, daß es. nicht seine Schuld sei, ivenn sic 
nicht zur Heiterkeit gestinnnt würden, da ein Ver- 
hangniß auf dem Hause laste und sie möqlicher- 
iveise diesen Orck, an den, sie so viele gute Stunden 
zusammen verlebten, für immer verlassen ivürden. 
„In der Stadt", setzte sie hinzu, „empfangen 
wir nun die Geschäftsfreunde meines Bruders." 
Er ivar zu discret, um nach den Ursachen zu 
orschen, auch ubertvog in der That seine Bctroffen- 
hkit über die braorstehende Trennung seit:- Neugier. 
In klagenden Worten, als ob inan ihm persönlich 
em Leid zufügen wollte, warf er Isidora vor, ihn 
nicht auf das Unglück vorbereitet, seinen Antheil 
se,ne Thätigkeit nicht in Anspruch genomnien zu 
lmtrb f ş°. luarm «nd wendete sich so 
ausschließlich an das junge Mädchen, daß Ulrike 
die noch immer hoffte, mitten ans dem Elend heraus 
könnte^ sich ein Umschwung der Verhältnisse minde 
stens fur Isidora ergeben, leise das Gemach verließ. 
Er hat zwar nichts — sagte sie sich still —, aber 
er ist em Graf Oldfred und einen solchen läßt die 
Sippschaft doch nicht ganz im Stich — und am 
Ende — besser im Elend eine Gräfin Oldfred, als 
eines verkommenen Sattlermeisters ledige Tochter 
zu sein. 
Kühl und besonnen antwortete indessen Isidora 
auf die dringenden Mahnungen des jungen Mannes 
sich ihm ganz anzuvertrauen, ihm zu sagen, ivie sie 
sich ihre Zukunft vorstelle und ivie sie sich dieselbe 
wünschte. Sie ivußte nicht, iveshalb er ihr gerade 
in diesem Augenblick, ivelcher der letzte zwischen ihnen 
sein konnte, einen minder angenehmen Eindruck ver 
ursachte, als ivährend der ganzen Zeit, seit sie ihn 
kannte. Doch blieb sie auch diesmal für die Zart 
heit und Gefälligkeit seines Wesens, wenn es auch 
f°st weiblichem Style war, nicht ganz nnem- 
Ģņgļrch. Zwar siel ihr der Mangel an Mann- 
lichkeit zum erltenmal aus, aber er war so unendlich 
liebenswürdig, sprach und bewegte sich in so feinen 
Formen, daß sie sich im Innersten selbst schalt, für 
die vielen durchaus schönen und fröhlichen Momente 
die er m ihr Leben gebracht hatte, in der Stunde 
eines wahrscheinlichen Scheidens nicht dankbar genug 
M sein. Als er daher mit einem nicht gewöhnlichen 
Ernste betheuerte, er könne nicht leben, wenn sie 
ihm nicht, bevor sie das Gut verließ, eine geheime 
Zusamnienkunft geivähre, um ihr ungestört Alles 
sagen zu können, was sein eigenes Schicksal war 
und was sein Herz bedrückte — da schnitt sie ihm 
die Hoffnung nicht ab, seine Erklärung entgegenzu 
nehmen, obgleich sie selbst im Innersten nicht wußte 
wie sie sich zu einem Geständuiß seiner Liebe ver 
halten ivürde. 
Sie war weder tief bewegt, noch sonderlich be- 
fangen, als er sie verlassen hatte, und ivar froh, 
daß gleich darauf Abdul Hassan bei ihr eintrat. 
Ohne Stocken und ohne Erröthen erzählte sie ihm 
den Vorfall und fügte hinzu: 
„Vielleicht wäre dies der Augenblick, glücklich zu 
werden, wenn der böse Räuber Arnold Melchior 
nnr nicht alle Luft und iLtimmung genommen hätte, 
auch nur daran zu denken." 
E Inzwischen saßen Schluck und Waldbrennermoch 
tiefen Gespräch. Der Erstere hatte um 
ständlich seine Lage dargethan. Die Hypotheken 
waren ihm gekündigt worden, und ivenn er nicht die 
Schande einer gerichtlichen Feilbietung seines Besitz- 
thnms erleben wollte, so mußte er sich glücklich 
schätzen, emeu Käufer gefunden zu haben, der so zu 
sagen den Zukunftswerth des Gutes mitbezahlen 
»vollte. Natürlich aber wäre er noch viel glücklicher, 
wenn er den Verkauf vermeiden könnte, wenn ihm 
à..^^àaucn ans seine Thatkraft und sein gutes 
Gluck ein einsichtiger Mann ein Capital vorstreckte, 
wodurch noch Alles sich zum Besten wenden ließe. 
.Urban Waldbrenner hatte so lange geschwiegen, 
als seine Pfeife noch Rauch gegeben, denn er liebte 
es mchr, während des Iiauchens zu sprechen. Jetzt 
legte er die Pfeife >veg, leerte ein halb gefülltes 
Glas bis zur Neige und sagte: 
„Was schon einmal im Poststellwagen meine 
Meinung war, daran hat sich nichts geändert. 
Die Leute, die Geld haben, sind nicht so dumm, 
was sie durch eigene Speculation gewonnen haben,' 
durch die Speculation eines Anderen verlieren zu 
wollen. Für nichts ist nichts; ich ivundere mich, 
dafl ich das einem alten Geschäftsmann erst sagen 
muß. Nichts also haben Sie mehr, wie ich sehe 
wie Sie selber die Sachen ansehen. Dafür also, 
wie gesagt, ist nichts. Aber, sapperlot! Sie haben 
noch was, Sie haben noch was zum Versetzen, zum 
Verkaufen, zum Vertauschen, kurz, uni ein Geschäft 
damit zu machen. Sie haben eine Tochter." 
Er sah Schluck mit listigen Augen an, und 
diesem ücf es kalt über den Rücken. 
„Wie meinen Sie das, Urban Waldbrenner?" 
stammelte er und wollte doch eine gewisse Feierlich 
keit in die Frage legen. 
„Ich mein halt", erwiderte der Letztere, „die 
Tochter müßten S' mir zu einer Heirath überlassen." 
Wendelin war es, als müßte er sich aus dem 
Fenster stürzen — und dennoch! die Gier nach deul 
Wiederaufbau seiner Verhältnisse war so mächtig in 
ihm, daß ihm jeder Preis annehmbar erscheinen wollte. 
^ „Wie alt sind Sie?" fragte er mit leiser Stimme, 
ķ »'an spricht, ivenn man zu einer verbrecherischen 
That^ den Anfang macht. 
„Ich werde auf Martini neunundsechziq Jahre 
alt erwiderte Urban gleichmüthig und griff wieder 
à" ber ^ Pselfe, hielt sie ^ mit den Zähnen und zog 
aus der -Lasche Feuerstein und Schtvanim, um sie 
anzubrennen. 
„Und da denken Sie noch daran, um die Kiand 
eines blutjungen Mädels zu werben!" rief Wendelin 
mit einem Zorn, der ihn plötzlich übermannt hatte. 
Dem Müller vom Tabor fiel die Pfeife aus 
dem Munde, denn ein erschütterndes Lachen setzte 
seinen ganzen Körper in Bewegung. Nur abge 
brochen, fast erstickend war er im Stande, nach 
und nach die Worte hervorzustoßen: 
„Ich — ich — könnt mir einfallen — ha, 
ha! —• Mein Sohn!" 
Wendelin athmete auf. Er niußte sich ein Glas 
Wein einschenken, so sehr hatte ihm bisher unnennbare 
Angst die Kehle zusammengepreßt. 
Sohn?» fa9 ‘ C er - "à', was ist Ihr 
„Sie haben ihn ja gesehen", erwiderte der Alte, 
Feuer ,chlagend; „Arnold Melchior Waldbrenner." 
Er paustrte, aber nicht lange, denn auf ihm ruhten 
die Äugen Wendelm's noch immer so fragend, daß 
sich Urban gedrängt fühlte, die Pfeife wieder ab 
zulegen, um Aufklärung zu geben. 
Was er in breiter Redeweise und mit umständ 
lichen Nebenbeziehungen auseinandersetzte, läßt sich 
kürzer zusammenfassen. 
Er ,var seit fünfundvierzig Jahren Müller am 
Tabor und hatte die großen Kriegsstürme, mit 
welchen die Franzosen im Anfang des Jahrhunderts 
wiederholt über Wien hereinbrachen, zu seinem großen 
Vortheil auszubeuten verstanden. Es gab Momente, 
in denen sein Mehl allein Armeen ernährte, die 
Folge der günstigen Lage seines Anivesens. Als 
ausgezeichneter Lieferant war er den französischen, 
wie den österreichischen Militärbehörden bekannt. 
Daraus ^entwickelten sich Verbindungen mit dem 
Offiziersstand, die tveit in die Friedenszeit hinein 
fortdauerten. Der junge Adel im Heere braucht 
immer Geld, und die Art, tvie Urban zu Hülfe 
kam, ohne geradezu Wucher zu treiben, machte ihn 
immer gesuchter imi immer beliebter und brachte 
sein Vermögen aus eine ungewöhnliche Höhe, woran 
auch das fortwährend florirende Mahl- und Ge 
treidegeschäft großen Antheil hatte. 
Seine Frau war schon seit Jahren todt. Sie 
hatte ihm drei Söhne und zwei Töchter gebracht 
Die Letzteren waren gut verheirathet; von den 
Söhnen war ihm nur der jüngste am Leben ge 
blieben. Ihn hätte er gern in eine dem Vermögen, 
das er ihm hinterlassen konnte, entsprechende Welt 
stellung gebracht. Die beiden früh Verstorbenen 
waren dazu ganz geneigt gewesen und hatten, als 
Cadetten in Militärinstituten erzogen, bald die Rolle 
von Cavalieren gespielt. Der jüngste Sohn, Arnold 
Melchior, ivar hingegen ans Feld und Nkühle nicht 
hmwegzubringen getvesen. Er mußte zur Land- 
wirthschaft bestimmt tverden und arbeitete zu diesem 
Ziveck ans dem entfernten Gute eines Schwagers 
wie ein gemeiner Knecht. Vom Militärdienst mußte 
rhu der Vater loskaufen, wie es damals den Wohl 
habenden frei stand, denn zu diesem Dienst verspürte 
Melchior^nicht die geringste Lust. Dafür war das 
Bedürfniß nach allgemeiner Bildung in ihm auf 
gegangen, ivas dem Vater, der gern mit ihm in 
irgend einer Richtung etwas Höheres erreicht hätte, 
äußerst ivillkommen war. So besuchte Melchior 
jahrelang deutsche Universitäten, hörte Vorlesungen 
m verschiedenen Fächern, natürlich ohne an ein Brot- 
studium zu denken, und bereitete, als er endlich zurück 
gekehrt war, seinem Vater große Enttäuschung. 
Denn dieser hatte geglaubt, die weiten Reisen, die 
Melchior auch nach Frankreich, England und der 
Schtveiz ausgedehnt, würden in Verbindung mit 
den gelehrten Studien aus Melchior einen vollkom 
menen Mann von Welt machen, fähig und geneigt, 
sich in den elegantesten Kreisen der Hauptstadt mit 
Gewandtheit als ein Gleichberechtigter zu bewegen. 
Ob er mm die Fähigkeit dazu gehabt hätte, blieb 
unentschieden; seine fast leidenschaftliche Abneiquna 
aber gegen gesellige Beziehungen solcher Art unterlag 
keinem Zweifel. Er wollte ein Bauer sein und 
für nichts Anderes gelten. 
(Fortsetzung folgt). 
Vermischtes. 
Gera, 1. Febr. Der hiesige Konsularagent der 
vereinigten Staaten hat seinem Staatsdepartement 
einen interessanten Bericht über den Stand der 
Industrie in Gera und die Lage der hiesigen Fabrik 
arbeiter übersandt, ivelchem die amerikanischen Nicht 
arbeiterblätter die Uebcrschrift geben: „Arbeiter- 
elend in Deutschland." Man sieht aus dem 
selben, daß sich die deutschen Arbeiterzustände trotz 
der gouvernementalen Sozialpolitik für unbefangene 
Augen doch nicht so rosig darstellen, wie man öfters 
glauben machen will. Gera mit seinen 35,000 
Einivohnern hat 30 Wollfabriken aufzuweisen, deren 
einige bis zu 1000 Webstühle haben; ferner 3 
Kammgarnspinnereien, 7 Teppichfabriken, 5 Eisen 
gießereien, 4 Pianofabriken und 30 Gerbereien 
sowie eine große Anzahl Etablissements von ge 
ringerer Wichtigkeit. Die Unsicherheit der politischen 
Lage Europas und die großen Schwankungen in 
dm Wollpreisen haben im vergangenen Jahre einen 
lahmenden Einfluß auf die Gewerbethätigkeit der 
Stadt ausgeübt. Die Arbeiter befinden sich in 
emer sehr schlimmen Lage und cs kann nicht be 
zweifelt werden, daß die amerikanischen Arbeiter 
viel besser im Stande sind, für sich und ihre Fami- 
milien den nöthigen Lebensunterhalt zu erwerben 
und außerdem noch etwas für die Zukunft zurückzu 
legen. Die Arbeiter in Gera wohnen in den denk- 
bar armlichsten Hütten und ihre Hauptnahrung 
besteht aus Brod und Kartoffeln. Die Ar 
beiter im Distrikt sind fleißig und ehrlich, aber 
nicht wenige trinken Bier im Uebermaße und ver 
zichten lieber auf eine substantielle Malzeit, als auf 
die gewohnte Quantität Bier. In Gera befinden 
sich nicht weniger als 200 Wirthshäuser, eins 
auf je 175 Einwohner. Der deutsche Einwohner 
hat nicht das Gefühl der Freiheit und Unabhänqia- 
keit, ,vetches den amerikanischen Arbeiter characterilirt 
»nd. Mt sich durch die niedrige Stellung, welche 
* * \ tUn einnimmt, gedrückt. 
Sê ist daher nach dem amerikanischen Konsular- 
beamten mcht zu verwundern, daß die große Mehr- 
der ş Arbeiter unzufrieden und für die Utopie» 
sind ŞŞ 'şà. sehr empfänglich ist. Die Steuern 
L i £ ?!°°şier Art: Steuern auf Taback, 
geistige Getränke und verschiedene Artikel, die zum 
Lebensunterhalt nothwendig sind, sowie eine Ein 
kommensteuer von Doll. 1.70 auf je Doll. 100 
-*-4.28 auf je Doll. 300 Einkomiucn. 
Viele. Frauenspersonen sind in den Fabriken be 
schäftigt; dieselben verdienen bei elfstündiger täglicher 
Arbeit im Durchschnitt nur Doll. 2.38 per Woche. 
Die Anstellung so vieler Frauenspersonen in Fa 
briken wird in gewissem Grade als die Ursache der 
niedrigen Löhne betrachtet. Es ist jedoch eine un 
bestreitbare Thatsache, daß viele deutsche Industrien 
nicht erfolgreich mit den entsprechenden Indu 
strien anderer Länder k o n k u r r i r e n k ö n n t e n ivenn 
die niedrigen Löhne nicht wären. Dagegen hält 
die Erziehung der in Fabriken beschäftigten Frauens- 
Personen und Kinder, obwohl sie in mancher Hin- 
sicht unvollkommen ist, einen vortbeilv"^»,, m,,-qwick, 
f. <$. - : ' 
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